Der Titel meines Beitrags* variiert in noch zu klärender Weise den Titel einer kleinen Schrift des 1929 geborenen Literaturwissenschaftlers George Steiner: Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe, im französischen Original Dix Raison (possibles) à la tristesse de pensée.1 Steiner führt Gründe an, die aus unserer Unwissenheit dessen, was Denken ist, rühren. Erstens: Die Unendlichkeit des Denkens verhindert, dass wir wissen, wie weit das Denken reicht. Zweitens: „Das Denken ist unkontrolliert.“2 Drittens: es ist ganz besonders unser Eigentum, zugleich jedoch die banalste, repetitivste unserer Handlungen. Viertens: Wo Denken auf wahre Aussagen zielt, relativiert es sich sogleich. „Die Sprache trachtet beständig danach, die Herrschaft über das Denken zu erlangen.“3 Fünftens: nicht nur neurophysiologisch betrachtet handelt es sich beim Denken um eine offensichtliche Vergeudung in ihrer schlimmsten Form. Nur manches ist hilfreich, in einer Flut nutzloser Gedanken. Sechstens: Ein direkter Einfluss des Denkens auf das Geschehen fehlt. Siebtens: Denken kennt keinen Stillstand, es kränkelt alles an und verhüllt vielleicht mehr als es enthüllt. Achtens: Wir können nicht zweifelsfrei wissen, was ein anderer Mensch denkt. So kann uns Denken vom anderen entfremden. Neuntens: Hochtouriges Denken kennt keine Glücksverteilung. Genie und Masse erreichen einander nicht. Schließlich zehntens: Der Auflösung der Rätsel unserer Existenz, die Steiner mit den Stichworten Tod und Gott aufruft, sind wir trotz imposanter Denkarbeit um keinen Zoll näher gekommen. Dies sind die zehn möglichen Gründe dafür, dass Denken traurig macht.
An zwei Stellen streift Steiner soziologisches Gelände. Zunächst, wenn er davon spricht, dass uns das, was ein anderer Mensch denkt, verschlossen ist. Alle verstehende Soziologie hat mit dieser Problemlage, die ein Alfred Schütz in zahllosen Variationen entfaltet hat, zu tun. Bei Niklas Luhmann ist es die doppelte Kontingenz, der Soziologen täglich Brot.
Soziologisches Gelände streift Steiner aber auch dann, wenn er an neunter Stelle auf den Unterschied der vielen alltäglich anfallenden Gedanken, die spurlos bleiben, und den wenigen großen Gedanken oder Ideen, die überdauern, zu sprechen kommt. Er nennt – wie er einräumt mangels eines angemesseneren Ausdrucks – die Denker großer Gedanken „die geistig Bewanderten“, sie sind „im Verhältnis zur Masse der Menschheit der Zahl nach nur wenige.“4 Das widerspricht den Idealen der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit. Er schreibt: „Das Genie kennt keine Demokratie, nur furchtbare Ungerechtigkeit und lebenbedrohende Last. Es gibt jene wenigen, wie Hölderlin sagte, die gezwungen sind, den Blitz mit bloßen Händen zu fangen.“5
Unter der Frage, macht Denken einsam? möchte ich diesem letzteren Motivkomplex nachgehen, der zum Arsenal vieler Selbstbeschreibungen und Zuschreibungen von Intellektuellen gehört. Das Thema hat einen religionssoziologischen Hintergrund, den ich jetzt beiseite lasse. D.h. ich gehe nicht auf die Sonderstellung ein, die Schamanen in einfachen Gesellschaften haben, auch nicht auf die Propheten. Die Frage, in welchem Sinne Schamanen oder Propheten oder auch Mantiker durch ihre Praxis einsam werden können, ist ebenso vertrackt wie die Frage, in welchem Sinne die mystische Erfahrung einer Gottesfülle einsam macht. Schamanen und Propheten sind teils Sprachrohre, teils Personen, die zusätzlich zur Herkunftsgruppe noch dann und wann einer anderen Gemeinschaft angehören. Aber gleich ob sie zu wenig oder zu viel Gemeinschaft haben, es ist nicht ihr Denken, das sie einsam machen könnte.
In meinem Beitrag konzentriere ich mich auf drei Szenen aus der Geschichte europäischer Laienintelligenz, sozusagen in großen Sprüngen: 1. die Intellektuellen der Renaissance, 2. der Streit um das Verhältnis von Theorie und Massenbewegung in der Mitte des 19. Jahrhunderts und 3. die Anstrengungen eines Intellektuellen im 20. Jahrhundert populär zu werden und zugleich anonym zu bleiben und die Einsamkeit seines Verstecks zu schützen.
I.
Für unsere europäische Tradition von Intellektuellen gehört es sich mit De vita solitaria von Francesco Petrarca, entstanden zwischen 1346 und 1356, anzufangen.6 Darin heißt es:
„Für mich, der ich, soweit mir bekannt ist, nichts mit der Menge gemein habe und dem jenes bißchen Bildung zuteil geworden ist, das den Geist nicht stolz macht, sondern ihn erfreut und zum Freund der Einsamkeit macht, in der ich mich bildete ohne gesprächigen Lehrer, aber auch ohne verbohrten Stumpfsinn und – sei es doch so! – ohne die Verfolgungen des Neids; für mich, den keine Geliebte in der Stadt zurückhält und keine Gattin, weder ein Gerichtstermin noch der Wucher oder Ersparnisse oder ein kleiner Gewinn, weder das öffentliche Leben, noch das Bad, das Gasthaus, das Theater, noch die Säulengänge; für mich, der ich, um die Wahrheit zu sagen, nicht aus meinem Willen heraus so denke oder weil mich andere dazu ermahnt haben, sondern weil die Natur selbst mich davon überzeugt hat; für mich, sage ich, ist das abgeschiedene und einsame Leben zweifellos nicht nur ruhiger, sondern es ist auch erhabener und sicherer.“7
Seinen Gegenhalt findet das einsame Leben in der Natur, in der Erfahrung von Landschaft, die durch Spaziergang oder Wanderung erschlossen wird. Die Stadt dagegen erscheint als ein Ort der Verdichtung sozialer Abhängigkeiten: Finanzen, Frauen, Justiz, Streitereien, Geselligkeit, Unterhaltungen und anderem mehr. All dies hindert den Intellektuellen daran, sich seinen Gedanken hinzugeben. Aber dann und wann muß auch ein Petrarca in die Stadt. Dazu heißt es: „Wenn mich aber die Notwendigkeit zwingt, in der Stadt zu sein, habe ich gelernt, mir inmitten des Volkes Einsamkeit, in den Stürmen einen Hafen zu schaffen mit einem Kunstmittel, das nicht allen bekannt ist: ich beherrsche meine Sinne so, daß sie nicht wahrnehmen, was sie wahrnehmen.“8 Und diese Technik hat Petrarca aus den Schriften antiker Autoren gelernt. Das wirtschaftliche Aufblühen der italienischen Städte ist in dieser Zeit eine neue Erfahrung. Durch den Handel mit Byzanz und den Kontakt mit byzantinischen Gelehrten fließt ein zusätzlicher Strom antiker Texte in die Städte.
Man übt sich in virtuoser Sprachbeherrschung, in Eloquenz und klarer Handschrift.
Warum fliehen die italienischen Humanisten, diese erste Gruppe schriftkundiger Laien seit der Antike die Stadt? Sie wollen die animi vacuitas erreichen, für Lorenzo Valla eine der fünf Hauptvoraussetzungen für wissenschaftliche Betätigungen. Man braucht „die leere unausgefüllte und befreite Seele, die aufnahmefähig für Wissen und Weisheit ist.“ Dazu bedarf es eines entsprechenden Ortes, temporis otium und eines Überflusses an Büchern.9 Die leere Seele wird gefüllt mit Lektüren, z.B. mit Seneca, der geschrieben hatte:
„Du fragst, was du nach meiner Meinung vor allem meiden sollst? Die Masse! Noch kannst du dich ihr nicht ohne Gefahr überlassen. Ich wenigstens will meine Schwäche einbekennen. Nie komme ich charakterlich gleich lauter wieder, wie ich ausgezogen bin. Etwas von dem, was ich bereits geordnet hatte, wird neuerlich getrübt, etwas von dem, womit ich schon fertig zu sein glaubte, stellt sich wieder ein. (…) Der Verkehr mit den Vielen schadet uns. Jeder empfiehlt uns irgendeine üble Eigenschaft, gewinnt uns dafür oder steckt uns damit ohne unser Wissen an. Und je größer die Volksmenge ist, unter die wir uns mischen, desto größer ist auch die Gefahr.“10
Aber diese Absetzung von der Menge der Stadt bedeutet keinen Verzicht auf Geselligkeit. Denn der einsame Seneca-Leser nimmt auch den nachfolgenden Rat zur Kenntnis: „Du darfst den Bösen nicht ähnlich werden, weil ihrer viele sind, und du darfst auch nicht ein Feind der Allgemeinheit werden, weil du mit ihnen nichts gemein hast. – Ziehe dich daher soviel als möglich in dich selbst zurück, verkehre nur mit Menschen, durch die du besser werden kannst und laß nur die an dich heran, die du selber zu bessern vermagst. Dabei findet eine Wechselwirkung statt. Die Menschen lernen dadurch, daß sie anderen ein Vorbild sind.“11 So gehört denn auch für Lorenzo Valla literatorum consuetudo, der Umgang mit gebildeten Menschen, zur ersten Hauptvoraussetzung intellektueller Betätigung.12
Die Renaissance-Intellektuellen schaffen aus der Einsamkeit ihrer Lektüren heraus einen neuartigen sozialen Zusammenhang. Sie feiern die Freundschaft, wobei die Bücher die besten Freunde sind.13 Mit den besten Freunden dialogisiert man, schreibt sich Briefe, die zu veröffentlichen von vornherein feststeht. Man übt sich in virtuoser Sprachbeherrschung, in Eloquenz und klarer Handschrift, man trainiert sein Gedächtnis.14 Und vor allem bewundert man sich gegenseitig. Pietro Paolo Vergerio charakterisiert einen Rechtsgelehrten, dieser habe „nullum tempus vacuum“ gekannt, „jede freie Stunde damit ausgefüllt zuzuhören, Bücher zu lesen, darüber nachzudenken und Auszüge zu machen“ und fügt hinzu: „dieses wohlverdiente Lob teilt er jedoch mit vielen anderen.“15
Vespasiano da Bisticci feiert Giannozzo Manetti:
„Erst fünfundzwanzigjährig fand dieser zur Literatur, durch seinen Fleiß und seine Zeiteinteilung beherrschte er bald alle Wissenschaften. Er schlief nicht mehr als fünf Stunden, die übrige Zeit widmete er dem Studium. Und so hielt er es neun Jahre lang; er verließ das Haus nur, wenn er das Kloster von Santo Spirito aufsuchte um Vorlesungen über Logik und Philosophie zu hören. Einmal Gehörtes vergaß er nie wieder. Er vergeudete nie eine Stunde, weil Zeit für ihn etwas überaus Kostbares war. Er haßte Nichtstuer, die keinerlei Tugenden besaßen, ihre Zeit nutzlos vergeudeten.“16
Der dramatische elitäre Kontrast zur Meinung der Menge, der uns in den Texten der Renaissance-Intellektuellen entgegenschlägt, wäre fehl interpretiert, wollte man ihn als einen sozialstrukturellen auffassen. Die multitudo plebis zeichnet sich Boccaccio zufolge aus Verhaltensweisen quer durch die verschiedensten Schichten aus: Dazu gehören vorlaute Dreistigkeit aus Verfallenheit an Zechereien und Begierden. Dann gehören zum vulgus diejenigen, die Autoren zitieren, die sie gar nicht gelesen haben, die geistigen Hochstapler und schließlich die reich Geschmückten, „die eine Toga tragen, durch goldene Schnallen und nahezu königlichen Schmuck auffallen. Gravitätisch auftretend und in Begleitung einer Schar von Klienten“.17 Zu diesem Pöbel gehören Ärmere und Reichere, Rangniedere und Ranghöhere gleichermaßen. Und zwar immer dann, wenn sie das Streben nach Wissen und das Lesen verachten.
Leonid Baktin hat in seiner schönen Arbeit über die italienische Renaissance herausgearbeitet, dass die Gleichheit aller vor Gott als Chancengleichheit die Verwandlung in das Auserwähltsein, die Elite erst ermöglichen. Von dieser schreibt Giovanni Pontano in seinem Traktat Über die Größe der Seele:
„Es sei falsch, diese Großmütigen als stolz zu betrachten, wie es die Menge (multitudo) tue. Sie zeichneten sich nur durch majestätische Würde (gravitas) aus, die nichts mit Hochmütigkeit (superbia) gemein habe. Hochmütigkeit sei mit Grausamkeit (crudelitas) gepaart, Würde dagegen zeuge von Seelengröße, ‚animi magnitudo‘ bedeute Barmherzigkeit und Friedfertigkeit (clementia placabilitas), Liebe zum Guten und Unduldsamkeit gegenüber der Ungerechtigkeit. So sei jeder großherzige Mensch.“18
Für den Intellektuellen der Renaissance bilden Einsamkeit und comitas, die symposionale und urbane Heiterkeit, eine Balance. Dialogfähig ist überhaupt erst der, der in selbstorientierter Einsamkeit die animi vacuitas erreicht und mit Wissen gefüllt hat. Gespräche mit anderen Personen lohnen nicht.
Dieses Modell hat Schule gemacht, es findet sich variiert im Neuhumanismus und im Mandarinentum der akademischen Welt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ein Nachhall dieser Welt erreichte mich, als ich in der übervollen Göttinger Paulinerkirche zur Eröffnung der Germanistikvorlesung Walter Killys Begrüßungsworte anhören musste: „Schon eure zahl ist frevel.“ Dass dies ein Georgezitat aus dem Siebenten Ring (1907) war, habe ich erst später gemerkt. Es stammt aus dem Gedicht Die tote Stadt.
II.
Die drei Komponenten der Reflexion der Einsamkeit des Denkens, die in der Renaissance ausgebildet wurden: Der zu schaffende Ort der Muße, die Geistesverwandtschaft mit Büchern und Freunden, die Gesellschaft der Gebildeten und die Distanz zur Menge der Stadt bilden eine erste Schicht, die bis heute in den Diskursen geisteswissenschaftlicher Exzellenzcluster virulent ist. Was im 19. Jahrhundert neu dazukommt und auch bis in die Gegenwart reflektiert wird, ist bei einer Reihe von Intellektuellen ein verändertes Verhältnis zur Menge in der Stadt. Die Menge wird gleichsam neu codiert. Sie wird für Intellektuelle interessant, bisweilen so interessant, dass man sogar ihre Nähe sucht.
Eine ganze Reihe von Entwicklungen kommt zusammen. Da ist einmal die Erfahrung der Menge, die nicht mehr nur wie der Pöbel vergangener Zeiten die Bäckereien plündert oder die Fremden aus der Stadt vertreibt, sondern die nun auf die Bühne der Weltgeschichte tritt, die Bastille stürmt und eine Revolution macht. Und die Menge tut dies in engster Verbindung mit Philosophen und philosophisierenden Klerikern. Die Französische Revolution hat es gezeigt: Schriften und Reden können die Massen begeistern. Der Intellektuelle tauscht sich nicht mehr nur mit Seinesgleichen in Zirkeln der Gelehrsamkeit, im kunstsinnigen Freundeskreise aus, sondern als Redner mit Analphabeten oder solchen, die gerade erst angefangen haben zu lesen. Diese Vielen in der Stadt haben sich in der Revolution zur Nation konstituiert.
Hinzu kommt ein Weiteres. Die Vielen in der Stadt sind zugleich Publikum, und zwar ein immer anonymer werdendes Publikum, ein Volk, das eine gemeinsame Sprache spricht und mit Ideen versorgt oder mit Roman, Theater und Kunst unterhalten werden kann. Und die Wirkungen können auch überraschend sein.
Am 25. August 1830 wird im Brüsseler Théatre de la Monnaie die Oper Die Stumme von Portici von Auber aufgeführt. Das stumme Mädchen Fenella erkennt ihren Vergewaltiger, den Sohn des spanischen Vizekönigs, der im 17. Jahrhundert Neapel regiert. Der Bruder des stummen Mädchens, ein einfacher Fischer, entfacht daraufhin den Aufstand der Neapolitaner gegen die spanische Fremdherrschaft. Das anrührende und aufrührende Stück endet mit dem Ausbruch des Vesuvs. Die Stumme von Portici stürzt sich angesichts der Verwicklungen von Treue und Verrat in die glühende Lava. Aber das wartet das Publikum 1830 in Brüssel gar nicht mehr ab. Als der Tenor im dritten Akt eine Axt schwingend mit der Arie anhebt: „Laufet zur Rache! Die Waffen, das Feuer! Auf daß unsere Wachsamkeit unserem Leid ein Ende bereite“, stimmt das Publikum mit den Rufen „aux armes!“ ein und stürmt auf die Straße. Einen Monat später hat die Revolution schon gesiegt und am 4. Oktober 1830 erklärt Belgien seine Unabhängigkeit.19
Aber die Menge in der Stadt reagiert nicht immer so. Dann erscheint sie den Intellektuellen so wie dem Helden in Robert Gisekes Moderne Titanen von 1853: „Das Leben einer großen Stadt, das Treiben so unzähliger Menschen, gleicht dem weiten, wüsten Ozean. Nirgends kommt sich der Mensch verlassener vor als hier. Wer zu vergessen oder vergessen zu werden sucht, hier kann er es so leicht wie nirgends.“20 Friedrich Saß schreibt in seinem Berlin-Buch von 1846:
„So nimmt nun auch in Berlin nicht nur die Zahl der Blasierten, sondern auch fortwährend die Zahl der gesellschaftlichen Einsiedler zu, die Zahl derer, welche sich mit Unmut, soviel sie können zurückziehen aus dem Schein der Gesellschaft und die einer leeren Repräsentation, einer schwachen Eitelkeit und einem bedientenartigen Stolze gerade das Feld räumen, auf welchem Berlin, wenn hier etwas mehr für die freie Harmonie der Kräfte und für die Natur in der Bildung getan wäre, vor allen anderen Städten Deutschlands eine strahlende Pracht entwickeln könnte. Aber in Berlin vermehren sich die modernen Anachoreten; denn die Einsamkeit in Lybiens Wüste kann nicht größer sein als für den, der sie sucht in den großen tobenden Städten.“21
Die Geselligkeit verändert sich. Eine anonyme Korrespondentin, Adolphine ***, nennt in ihrem Blick in die geselligen Regionen als „Merkmal des Übergangs: Haltlosigkeit, Leere. Man raisoniert nicht mehr con amore nach dem alten Stil, aber das Raisonnement nach dem neuen bietet noch unüberwindliche Schwierigkeiten.“22 So kann es sein, dass in tobenden Städten einfach nichts los ist und sich die epidemische Krankheit der Zeit ausbreitet: die Langeweile.
Der Intellektuelle, der nicht in die revoltierenden Massen eintauchen kann, hat die Chance Flaneur zu werden.
Revolutionäre Massen oder eine sich langweilende Bevölkerung – Intellektuelle können sich schließlich auch auf Forschungsreisen begeben und die Geheimnisse der großen Stadt enthüllen, so wie der Held Rudolphe in Eugène Sues Roman Die Geheimnisse von Paris. Dieser Bestseller hat viele Nachahmer für europäische Städte gefunden. Der Intellektuelle, der nicht in die revoltierenden Massen eintauchen kann, weil sie gerade in der Stadt zerstreut sind, hat die Chance Flaneur zu werden. Er kann Mitglied einer „ebenso nützlichen als interessanten Gesellschaftsklasse“ werden, der Flaneure. „Denn ein tüchtiger und unermüdlicher Pflastertreter zu sein, ist eine gar große Kunst. Und nur die großen Städte haben den Vorzug solche Künstler zu erzeugen und zu bilden. Sie müssen einen weiten Raum haben, auf dem sie sich ausbreiten können, sie müssen Geist, Gewandtheit, Erfindungsgabe und besonders eine beinahe fabelhafte Uneigennützigkeit besitzen, sich gerade um all die Dinge zu bekümmern, die sie am wenigsten angehen.“23 Solch interessiertes Verhältnis zu den zerstreuten Massen entwickelt der Detektiv, der dem Mann in der Menge so folgt, wie es Edgar Allen Poe in seiner gleichnamigen Kurzgeschichte schildert.
Mit der Entdeckung der städtischen Menge als etwas Interessantem und Besonderem ändert sich die Bedeutung der intellektuellen Einsamkeit. Während Karl Marx, Friedrich Engels, Moses Hess u.a. der Vision eines Bündnisses der Intellektuellen mit der revolutionären Menge folgen, wird ihrem Kampfgefährten Bruno Bauer, dessen zweihundertsten Geburtstag 2009 wenige gefeiert haben, bei dem Beifall enthusiasmierter Massen unwohl. Er hatte den Verdacht, dass die Popularisierung theoretischer Einsichten diese verfälsche. Dass Theorie die Massen ergreifen soll, dass der Kopf der Philosophie und das Herz des Proletariats eine Einheit bilden sollen, wie Marx es forderte, geht in Bruno Bauers Perspektive stets zu Lasten des kritischen Denkens.24
Er schreibt: „Das schlimmste Zeugnis gegen ein Werk ist der Enthusiasmus, den ihm diese Masse schenkt“.25 Als Massenbewegung kann Vernunft nur zu einer unvernünftigen Existenz-weise gelangen:
„In der Masse – nicht anderwärts, wie die früheren liberalen Wortführer meinten – ist der wahre Feind des Geistes zu suchen. Alle großen Aktionen der bisherigen Geschichte waren deshalb von vornherein verfehlt und ohne eingreifenden Erfolg, weil die Masse sich für sie interessiert und enthusiasmiert hatte – oder sie mußten ein klägliches Ende nehmen, weil die Idee, um die es sich bei ihnen handelte, von der Art war, daß sie sich mit einer oberflächlichen Auffassung begnügten, also auch auf den Beifall der Masse rechnen mußte. Sie scheiterten, weil ihr Prinzip oberflächlich, also auch nicht gegen die Oberflächlichkeit der Masse gerichtet war. Der Geist weiß jetzt, wo er seine einzigen Widersacher zu suchen hat – in den Phrasen, in den Selbsttäuschungen und in der Kernlosigkeit der Masse.“26
Es handelt sich hier um eine neue Figur der Einsamkeit des Denkens. Zweifellos kehren stoische Motive der Distanz zur Menge wieder, aber die Frontstellung ist mehr noch entschieden gegen das moderne Assoziationswesen gerichtet, gegen die Einbindung des Intellektuellen in Vereine, Parteien, Organisationen jeder Art. Bruno Bauer schreibt:
„Die Kritik macht keine Partei, will keine Partei für sich haben, sie ist einsam – einsam, indem sie sich in ihrem Gegenstand vertieft, einsam, indem sie sich ihm gegenüberstellt. Sie löst sich von allem ab. Jede gemeinsame Voraussetzung, die zur Bildung einer Partei immer notwendig ist, würde sie als feindseliges Dogma betrachten, wenn sie, wie es innerhalb der Partei nötig ist, sich gehindert sehen sollte, dieselbe zu kritisieren und aufzulösen. Jedes Band ist ihr eine Fessel, jede verbindende Voraussetzung gilt ihr als die Sirene, die sie auf ihrer Fahrt aufhalten wollte, als die schmeichlerische Täuschung: ‚Nun sind wir fertig, wir haben das Verständnis gewonnen, wir wissen nun, woran wir sind.‘ Gerade diese aller schädlichste Voraussetzung wird sie vor allem kritisieren müssen – denn sie würde ihre Weiterentwicklung verzögern, ja vollkommen verhindert, und sie selbst aufheben. Sie steht am Anfang eines neuen Weges – allein.“27
Auch der gesellige Freundeskreis in Tradition der Renaissance-Intellektuellen wird als die reine Theorie verderbend zurückgewiesen. Das dialogische Prinzip spielt keine Rolle mehr. Bauer fragt: „Kann der Kritiker in derjenigen Gesellschaft leben, die er kritisiert? Müßte er dann nicht auch ihre Vorstellungen, ihre Kategorien, ihre Gesetze zu den seinigen machen? Ebensowenig kann er mit einer Clique leben, denn so würde er, sich selbst zu einem Mitglied einer Gesellschaft machend, der Gesellschaft ein Recht des Krieges über sich geben, während er selbst sein Recht der unbefangenen Kritik über sie aufgeben würde.“28
Dieser Spur einer radikalen, intellektuellen Einsamkeit werden im 19. und 20. Jahrhundert andere folgen. Heroisch oder heiter werden sie den Kreis derer, mit denen sie sich überhaupt ernsthaft unterhalten können, immer enger ziehen. Rodin hat dann auch diesen Denker, für den ein bekannter Boxer Modell stand, in Bronze gegossen.
Einen Nachhall Bruno Bauers kann man noch bei Adorno finden. In Minima Moralia heißt es: „Für den Intellektuellen ist unverbrüchliche Einsamkeit die einzige Gestalt, in der er Solidarität etwa noch zu bewähren vermag. Alles Mitmachen, alle Menschlichkeit von Umgang und Teilhabe ist bloße Maske fürs stillschweigende Akzeptieren des Unmenschlichen. Einig sein soll man mit dem Leiden der Menschen: der kleinste Schritt zu ihren Freunden hin ist einer zur Verhärtung des Leidens.“29
III.
Der dritte Typus einsamer Intellektueller, den ich skizzieren möchte, entstammt dem 20. Jahrhundert. Anfang April 1969 erklärt Rosa Elena Luján, ihr vor wenigen Tagen verstorbener Ehemann sei identisch mit dem Revolutionär der Bayerischen Räterepublik Ret Marut, dem Schriftsteller B. Traven und dem als Filmagent in Erscheinung getretenen Hal Croves. Es handelt sich um einen Intellektuellen, der viele Pseudonyme benutzte und der unter seinem bekanntesten Decknamen B. Traven ein literarisches Werk in Millionen Auflagen und Übersetzungen in Dutzenden von Sprachen aufzuweisen hat und den Detektive und Journalisten jahrzehntelang in seiner Einsamkeit und seinen Verstecken aufzustöbern versuchten. Vergeblich.
Nicht dass man keine Biographie von ihm hat, im Gegenteil, es gibt viele sehr verschiedene Lebensläufe, aber es handelt sich um Fiktionen. Angefangen vom behaupteten Geburtsdatum 1882 in San Francisco (beim Erdbeben 1906 verbrannten alle Urkunden der städtischen Standesämter) bis zu den letzten Lebensjahren, in denen Rosa Elena Luján nicht wußte, wer genau der Mann an ihrer Seite war. Sie öffnete daraufhin für den Harvard-Germanisten Karl S. Guthke den Nachlaß, und der Kollege kam nach jahrelangen Recherchen auf Seite 618 der 1987 erschienenen Biographie zum Ergebnis, Traven habe selbst nicht gewußt, wer er war.30
Dieser Unbekannte hat seine Identitäten im Wechsel der Medien entworfen. Ret Marut gibt im Stile von Karl Kraus im Ersten Weltkrieg als Solist die anarchistische Zeitschrift Der Ziegelbrenner heraus, mit wütenden Attacken auf Militär, Presse und Kapital. 1919 sieht man ihn in der Revolutionsregierung an der Seite von Erich Mühsam und Gustav Landauer. Marut entkommt mit knapper Not den Freicorps und verschwindet. 1924 meldet sich aus dem mexikanischen Dschungel der Schriftsteller B. Traven und bietet der gewerkschaftlichen Büchergilde Gutenberg Romane an, die rasch internationale Bestseller werden. Im Zweiten Weltkrieg verschwindet B. Traven und in Hollywood taucht Hal Croves auf, der sich als Beauftragter des Schriftstellers ausgibt und John Huston bei der Verfilmung des Schatz der Sierra Madre mit Humphrey Bogart in der Hauptrolle berät.
Geht man dem Motiv der Einsamkeit bei B. Traven nach, so findet man Resonanzen, sowohl zum Typus Petrarca wie zum Typus Bruno Bauer. Es ist zwar nicht die Landschaft um Avignon, die B. Traven die urbane Welt fliehend aufsucht, sondern der mexikanische Urwald. In der oft autobiographisch interpretierten Erzählung Nachtbesuch im Busch von 1926/27 besuchen sich der Ich-Erzähler Gale und ein Doktor Wilshed, die sich beide in die Einsamkeit des Dschungels zurückgezogen haben.
„Dort wohnte ich, tief im tropischen Busch, allein, in einer primitiven Hütte, die ich mir selbst gebaut hatte, nach Indianerart, ohne einen Nagel zu gebrauchen. Ein Ritt von vierzig Minuten brachte mich zu meinem nächsten weißen Nachbar, einem Arzt aus Arkansas, namens Wilshed. Alle übrigen Menschen meiner Nachbarschaft, von denen keiner näher wohnte als dreißig Minuten waren Vollblutindianer. Das nächste Dorf war elf Meilen entfernt, die nächste Eisenbahnstation, wo zwei weiße Familien wohnten, etwas vierzig Meilen.
Doktor Wilshed wohnte in einem Bungalow, einem einfachen Bretterhaus, das zwei Räume hatte. Er lebte dort mutterseelenallein, betrieb ein wenig Landwirtschaft (…). Den größten Teil seiner Zeit verbrachte der Doktor mit Lesen. Wenn er nicht las, dann saß er auf der Veranda seines Bungalows und sah unverwandt hinunter auf die unermeßlich weite Ebene, die sich vom Fuße des Höhenzuges bis fern hinter den Horizont hinzog. Dschungel, Dschungel, nichts als Dschungel. Zuweilen fiel mir die Einsamkeit des Busches heftig auf die Nerven; denn es kam vor, daß ich zwei volle Wochen kein menschliches Gesicht sah. Wenn es zu unerträglich wurde, wanderte ich hinauf zum Doktor, nur um einen Menschen zu sehen, eine menschliche Stimme zu hören und zu fühlen, daß ich nicht allein sei auf der großen Welt.“31
Der Erzählung legte Traven dem Verleger Ernst Preczang dann noch Fotos von Hütte und Bungalow bei und schrieb zu diesem „Dichterheim“ mit seinem mangelnden Komfort und seinen Insektenplagen:
„Aber wenn man Busch und Dschungel, sein Leben und sein Singen, sein Lieben und Morden kennenlernen will, darf man nicht im Regis-Hotel in Mexiko City wohnen, sondern man muß eben hinein in den Dschungel und man muß mit ihm leben, man muß ihn lieben, man muß sich mit ihm verheiraten. Da hilft nichts. Mir erzählen der Busch und der Dschungel ihre Geschichten nur dann, wenn ich mich in ihnen vergrabe, ganz allein in ihnen und mit ihnen lebe, mich mit ihnen auf Tod und Verderben vereine, jede andere Kameradschaft ausschließe und die übrige Welt über den Busch, den ich liebe wie einen Freund, völlig hinter mir lasse und vergesse.“32
Diese Einsamkeit inspiriert nicht nur den Ich-Erzähler Gale zum Schreiben, sondern auch den einsamen Doktor Wilshed. Dieser besitzt nicht nur eine umfängliche Privatbibliothek im Urwald-Bungalow, sondern er hat auch viele Bücher geschrieben, aber keins wurde veröffentlicht. Wilshed erklärt:
„Jedes Mal, wenn ich ein Buch vollendet hatte, las ich es, fand es gut und zerriß es. Warum sollte ich denn meine Bücher veröffentlichen? Ich hatte meine Freude und meinen Genuß, wenn ich sie schrieb. Für die Leute? Ich möchte wissen, warum. Die haben so viele gute Bücher, die sie nicht lesen. Warum sollte ich ihnen noch mehr geben? Zudem würden die Leute meine Bücher gar nicht glauben. Sie würden mich für unsinnig erklären, und ich müßte mich vielleicht gar noch mit ihnen herumstreiten, um sie zu überzeugen, daß ich Recht habe und daß ich die Wahrheit sage. Immerhin, es ist mir ganz gleichgültig. Ich bin auch der Meinung, daß die besten Bücher, die jemals geschrieben wurden, entweder auf dem Papier oder im Geist, diejenigen sind, die niemals veröffentlicht wurden. Hinter jedem veröffentlichten Buche liegt etwas auf der Lauer, das nicht zu Gunsten des Werkes spricht und das den Menschen hindert, das Beste zu schaffen, dessen er fähig ist.“33
Die Einsamkeit als Grundbedingung zur Freisetzung schöpferischer Energie, dieses Motiv findet sich auch bei Bruno Bauer. Echte theoretische Innovationen können schon durch Schrift und erst recht durch popularisierende Verbreitung verdorben werden. Deshalb ist für Bruno Bauer Selbstkorrektur die Prozessform kritischer Kritik. Sie schert sich nicht um das, was sie vor einer Woche publiziert hat. Traven hat seine Texte mit jeder Neuauflage überarbeitet, um à jour zu sein. Aber was ihn von Bruno Bauer unterscheidet, ist sein Verhältnis zu den Massenbewegungen seiner Zeit. Für Traven ist nicht der Geist der Widersacher der Masse, sondern der Autor. Darum muss er verschwinden. Mit dem Manuskript Das Totenschiff übersandte Traven die Mitteilung an seine Leser:
„Wer sich um einen Posten als Nachtwächter oder als Laternenanzünder bewirbt, muß einen Lebenslauf schreiben und ihn innerhalb angemessener Frist einreichen. Von einem Arbeiter, der geistige Werte schafft, sollte man nie einen Lebenslauf verlangen. Es ist unhöflich. Man verführt ihn zum Lügen. (…) Ich möchte es ganz deutlich sagen: Die Biographie eines schöpferischen Menschen ist ganz und gar unwichtig. Wenn der Mensch in seinen Werken nicht zu erkennen ist, dann ist entweder der Mensch nichts wert oder seiner Werke nichts wert. Darum sollte der schöpferische Mensch keine andere Biographie haben als seine Werke. In seinen Werken setzt er seine Persönlichkeit und sein Leben der Kritik aus.“34
Mit der radikalen existentiellen Anonymität, die Traven sein Leben lang – was schon eine schwierige Formulierung ist – verteidigt hat, reagiert dieser Autor auf die Ausbreitung moderner Massenkultur im 20. Jahrhundert. Sie braucht die Stars und Massenidole als Orientierungsgrößen für den Kulturkonsum. Leo Löwenthal hat diese biographische Mode in den Journalen 30er-Jahren inhaltsanalytisch untersucht. „Who᾽s who, Wer ist᾽s, früher nur als Titel eines Spezialhandbuches für Herausgeber und Reklamefachleute bekannt, ist heute auf zahllosen Gebieten zu einer ausgesprochenen oder stillschweigend vorausgesetzten Frage geworden. Das Interesse an anderen Menschen hat zu einer Art Massenklatsch geführt. Die meisten Wochen- und Monatszeitschriften und sogar viele Tageszeitungen veröffentlichen in jeder Ausgabe wenigstens eine Lebensgeschichte oder einen Teil einer solchen“.35 Die biographische Mode befriedigt Löwenthal zufolge das soziale Bedürfnis einer Mythologie des Erfolgs in einer Welt voller Abhängigkeitsverhältnisse.36
Er resümiert: „Die angeführten Beispiele aus unserer Liste der Charakterzüge machen verständlich, warum wir so viel Wert auf die Tatsache legen, daß es in dem Menschenbild der Biographien keine Entwicklung und keine Einsamkeit gibt. Der Durchschnittsmensch ist nie allein und will es auch nicht sein. Seine soziale und psychologische Geburt vollzieht sich im Kollektiv, in den Massen. Seine menschliche Bestimmung scheint in einem Leben beständiger Anpassung zu bestehen: Anpassung an die Welt durch Tüchtigkeit und Fleiß; Anpassung an die anderen Menschen, indem man liebenswürdig und umgänglich erscheint und alle anderen Züge in sich unterdrückt.“37
Bereits der Ziegelbrenner hatte wütende Angriffe auf die Presse formuliert und gefordert: „Die Befreiung der Menschheit von Lüge, Heuchelei und Unwahrhaftigkeit kann nur erfolgen durch rücksichtslose und mitleidlose Zertrümmerung der Presse.“38 und einer Leserin geantwortet: „Wenn ich erst mal erfahren habe, was ‚Wirkung‘ ist, wenn ich erst gelernt habe, wie man ‚Wirkung erzielt‘, dann beginnt bereits die Arterienverkalkung.“39 Und an anderer Stelle heißt es: „Ich bin kein Prediger in der Wüste, auch kein Prophet, für den mich eine andere Frau hält. Ich bin nichts als ein Ergebnis der Zeit, das innigst wünscht, so namenlos in die große Allgemeinheit wieder zu verschwinden, wie es völlig namenlos – ich hoffe, Sie verstehen! – heute vor Ihnen seine Worte hinausschreien muß. (…) Ich bin kein ‚Schriftsteller‘, sondern ich schreie. Ich will nichts anderes sein als: Wort!“40
B. Traven wird bei dieser Position bleiben. Starkult, Führerkult, Dichterverherrlichung kann verhindert werden, wenn es gelingt, die existentielle Anonymität durchzuhalten. So antwortet er 1929 auf eine Anfrage: „Ich will zu meinem Teil dazu beitragen, daß Autoritäten und Autoritätenverehrung verschwindet, daß jeder Mensch das Bewußtsein in sich stärkt, daß er genauso wichtig und unentbehrlich ist für die Menschheit wie jeder andere, ganz gleich, was er tut, und ganz gleich, was er getan hat.“41
Macht Denken einsam? Für Intellektuelle in Europa hat sich diese Frage mehrseitig aufgefaltet. Einsamkeit ist teils Voraussetzung, teils Folge dessen, was man Denken, Nachdenken, geistige Aktivität, Besinnung nennt. Die Aufdringlichkeiten und Zudringlichkeiten, zu denen man auf Distanz zu gehen sich bemüht, ändern sich. Bei Petrarca und seinen Freunden ist es die frische Erfahrung der Verdichtung sozialer Abhängigkeit in den aufblühenden spätmittelalterlichen Städten. Bei Bruno Bauer ist es die Nötigung, sich mit seinen Ideen zu organisieren. Bei B. Traven, der Identitäts- und Biographiezwang als Glaubwürdigkeitsausweis in der Massenkultur. Aber es hält sich auch einiges durch. Nämlich die Bindung an Schrift und Buch und die Wahl der Natur: Die Fontaine de Vaucluse bei Petrarca, der Kartoffelanbau und die Gärtnerei des ‚Einsiedlers von Rixdorf‘ bei Bruno Bauer, der mexikanische Busch bei B. Traven.
Anmerkungen
* Dieser Beitrag wurde auf der Tagung „Arten der Einsamkeit“ am Hamburger Institut für Sozialforschung (14.4.–16.4.2010) vorgestellt.
1 George Steiner, Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe, Frankfurt a.M. 2006 (französisch Édition Albin Michel 2005)
2 Ebd. S. 17.
3 Ebd. S. 36.
4 Ebd., S. 65.
5 Ebd., S. 68.
6 Francesco Petrarca, Vom einsamen Leben, (I,4), in: Ders., Dichtung und Prosa, hrsg. v. Horst Heintze, Berlin 1968, S. 511–515. Grundlegend zu Petrarca: Karlheinz Stierle, Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts, München 2003. Vgl. auch Siegfried Wenzel, Petrarcas ‚Accidia’ (1961), in: Petrarca, hrsg. v. August Buck, Darmstadt 1976, S. 349–366. Zum weiteren Kontext siehe Karl Vossler, Poesie der Einsamkeit in Spanien, München 1950. Zu den Intellektuellen der Renaissance siehe Leonid Baktin, Die italienische Renaissance, Versuch einer Charakterisierung eines Kulturtyps, Frankfurt a. M. 1981; Harald Müller, Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog, Tübingen 2006; Wolfgang Eßbach, Intellektuellengruppen in der bürgerlichen Kultur, In: Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziationen, hg.v. Richard Faber und Christine Holste, Würzburg 2000 , S. 23–33
7 Petrarca, Vom einsamen Leben, (Anm. 6).
8 Ebd.
9 Lorenzo Valla, Sex libros illegantarium latinae linguae, Rom/Venedig 1471 Praefatio, referiert nach Leonid Baktin, Die italienische Renaissance, (Anm. 6), S. 118.
10 Seneca, Ad Lucilium Epistulae moralium libri XX, 7, zit. nach Seneca, Vom wahren Leben. Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Gerhard Stenzel, Gütersloh o.J (1965) S. 183f.
11 Ebd. S. 184.
12 Baktin, (Anm. 6), S. 118.
13 Zu den Büchern als die besten Freunde vgl. Petrarca „Mein Geheimnis“ (de secreto conflictu curarum mearum)
14 Baktin, (Anm. 6), S. 123.
15 P.P. Vergerio, Epistolae, zitiert nach Baktin, S. 172.
16 Nach Vespasiano da Bisticci, Lebensbeschreibungen berühmter Männer, Zusammenfassung nach Baktin, (Anm. 6), S. 173.
17 Boccacio, Genealogie der Götter, 14. Buch, zusammengefasst von Baktin, (Anm. 6),
S. 134f.
18 Ebd.
19 Hendrik Conscience, Geschichte von Belgien, Leipzig 1847
20 Robert Giseke, Moderne Titanen, Bd.1., Leipzig, 2. Aufl., 1853, S. 221
21 Friedrich Saß, Berlin in seiner neuesten Zeit und Entwicklung, 1846, neu hrsg. v. Detlef Heikamp, Berlin 1983, S. 198
22 Adolphine ***, /„Ein Blick in die geselligen Regionen“ in: Grenzboten 3/1844, 1. Sem., Heft 21, S. 607–613, hier S. 608.
23 Albert Fränkel, Ludwig Köppen, Berliner Skizzen. Bilder und Charakteristiken aus dem Leben der Gesellschaft, 3. Bde., Berlin 1846, Bd. 1., S. 3.
24 Zu den junghegelianischen Debatten vgl. Wolfgang Eßbach, Moses Heß‘ Projekt einer deutsch-französischen Arbeitsteilung, in: E. François, M. C. Hoock-Demarle, R. Meyer-Kalkus, M. Werner (Hrsg.): Marianne-Germania. Deutsch-französischer Kulturtransfer im europäischen Kontext. Band II. Leipzig, 1998; 617–628, ders., Von der Religionskritik zur Kritik der Politik – Etappen junghegelianischer Theoriediskussion, in: Helmut Reinalter (Hrsg.): Die Junghegelianer. Aufklärung, Literatur, Religionskritik und politisches Denken, Frankfurt a.M 2010; 41–63; ders., Die Junghegelianer. Soziologie einer Intellektuellengruppe, München 1988
25 (Bruno Bauer) „Neueste Schriften über die Judenfrage“, in: ALZ, Heft 1, S. 2.
26 Ebd. S. 3.
27 (Bruno Bauer), „Korrespondenz aus der Provinz“, in: Allgemeine Literaturzeitung, Heft 6, S. 20–38, hier S. 34f.
28 Ebd., S. 31f.
29 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M. 1964, S. 22. Es gibt dazu noch die Antithese S. 22f.
30 Karl S. Guthke, B. Traven, Biographie eines Rätsels, Frankfurt/M 1987; siehe auch Wolfgang Eßbach, Das Prinzip der namenlosen Differenz. Gesellschafts- und Kulturkritik bei B. Traven, in: Das B. Traven-Buch. Hg. v. J. Beck u.a., Reinbek 1976, S. 362–403; ders., Eine herrenlose Sprache. Max Stirners Einfluß auf B. Traven. In: Mathias Brandtstätter/Matthias Schönberg (Hrsg.): Neue „BT-Mitteilungen“ – Studien zu B.Traven. Berlin 2009 S.145-169.
31 B. Traven, Nachtbesuch im Busch, in: ders. Abenteuergeschichten, Zürich 1974, S. 207–249, hier S. 207f.
32 B. Traven, „Der Bungalow“, in: Die Büchergilde, 1928, Heft 2, S. 17–23, zitiert nach Rolf Recknagel, B. Traven. Beiträge zur Biographie, 2. Aufl., Leipzig 1982.
33 B. Traven, Nachtbesuch im Busch, (Anm. 31),
S. 209f.
34 B. Traven zitiert nach Rolf Recknagel,
(Anm. 32), S. 19.
35 Leo Löwenthal, Literatur und Gesellschaft. Das Buch in der Massenkultur, Neuwied 1964, S. 197.
36 Vgl. ebd., S. 225.
37 Ebd., S. 27f.
38 Der Ziegelbrenner, 3. Jg. Heft 16/17, 10. März 1919, S. 25.
39 Ebd., 2. Jg. Heft 4, 17. Juli 1918, S. 101.
40 Ebd., S. 84.
41 Nach Georg Manfred, Kennen Sie B. Traven, in: Die Weltbühne, Berlin 1929, S. 485.