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Als Begleitbuch zu der von ihm kuratierten Ausstellung Vertiges de la liste (Taumel der Liste), die gegenwärtig im Pariser Musée du Louvre zu sehen ist, hat Umberto Eco einen luxuriös bebilderten Reader erarbeitet, anhand dessen man sich nun die Geschichte und Theorie einer wenig beachteten Textsorte auf ebenso unterhaltsame wie lehrreiche Weise vergegenwärtigen kann. In kaum einem Begriffslexikon zur Poetik oder Rhetorik, auch in kaum einer Arbeit zur Typologie wissenschaftlicher Diskurse kommt „die Liste“ als eigenständiges Genre vor, und dies, obwohl sie in literarischen wie in philosophischen oder naturwissenschaftlichen Texten prominent vertreten ist – am prominentesten, man weiß und vergisst es, in Katalog- und Referenzwerken jeglicher Art, Verzeichnissen also, die in der Bücher- und Alltagswelt gleichermaßen unentbehrlich sind, sei’s als Lexikon oder Bibliografie, sei’s als Adressenliste, Telefonbuch oder Veranstaltungskalender. − In jeder Liste wird aufgezählt, was unter verschiedenen Gesichtspunkten abrufbar, als Information nutzbar sein soll. Die Aufzählung lässt sich, zumindest im Deutschen, ebenso mit Zählung wie mit Erzählung zusammendenken, mit Zahlenreihen demnach wie mit Erzählfolgen und, allgemeiner noch, mit mathematischen Progressionen wie mit literarischen Verfahren.
In 21 Kapiteln − beginnend mit dem Schild des Achilles und dem Schiffskatalog in Homers Ilias, endend mit der fiktiven chinesischen Enzyklopädie von Jorge Luis Borges – führt Eco in chronologischer Abfolge eine Vielzahl von strukturell, inhaltlich, funktional unterschiedlichen Listen vor, macht auf deren Besonderheiten aufmerksam (Vollständigkeit/Unvollständigkeit, Eigenschaft/Substanz als Aufzählungskriterien; reale/imaginäre Objekte der Aufzählung; Exzess/Kohärenz; Chaos/Ordnung; praktischer/poetischer Gebrauch u.a.m.), erklärt die Rhetorik der Aufzählung (Häufung, Ballung, Steigerung u.a.m.) und schlägt vor, bildliche oder dinghafte Ensembles wie Wimmelbilder, Stillleben, Wunderkammern, Kunst- und Kuriositätensammlungen als visuelle Listen aufzufassen.
Die kommentierenden Texte sind sehr kurz gehalten; sie nehmen sich aus wie Lexikonartikel oder Bildlegenden und treten, einander gegenseitig immer wieder überschneidend, hinter die opulenten Abbildungen und die umfangreichen Textzitate zurück. Das Werk selbst – halb Album, halb Anthologie – erweist sich in seiner Anlage und Funktion als eine weitläufige Aufzählung von zumeist bekannten Fakten und Namen, ist also seinerseits nichts anderes als eine beiläufig annotierte Liste von Listen.
Wie weit bei Umberto Eco der Begriff der Liste gefasst ist, wird deutlich, wenn man sich die von ihm angeführten Textbeispiele auch nur auszugsweise vor Augen hält. Dazu gehören (nebst Ecos eigenen fiktiven Listen in Baudolino und Der Name der Rose) ganz unterschiedliche Aufzählungen – Engel, Teufel, Gottesnamen, Bücher, Körperteile, Flüsse und Flüche, Vorlieben und Abneigungen, Orts- und Eigennamen usf. – aus Werken von Ariost, Ausonius, Barthes, Calvino, Cervantes, Dante, Döblin, Gadda, Grimmelshausen, Joyce, Ovid, Prévert, Rabelais, Shakespeare, Twain, Whitman, Zola u.a.m. Dazu kommen Dutzende von Bildwerken, auf denen Massenszenen (Schlachten, Paraden, Feste) oder gehäufte Gegenstände (Schätze, Trophäen, Blumen) dargestellt sind, und bald einmal stellt sich die Frage, ob ein Vanitasgemälde mit den üblichen Symbolen (Totenschädel, Sanduhr, Maske, Kerze) ebenso als „Liste“ zu betrachten ist wie die Fluchkaskaden eines François Rabelais oder die narrativen Aufzählungen bei Calvino, Hugo, Huysmans, Thomas Mann oder Patrick Süßkind.
Nach Eco hätte man es folglich immer dort mit einer Liste zu tun, wo sich mehrere, viele, sehr viele Wörter oder Dinge in einem gemeinsamen Kontext aufgereiht finden. Der Begriff der Liste ist damit wohl doch etwas zu weit gefasst, seine Bedeutung zu wenig differenziert. Zu wenig differenziert (und geradezu irreführend) ist auch – zumindest bei der deutschen Ausgabe − der Buchtitel, der generell „die unendliche Liste“ beziehungsweise die Liste als etwas Unendliches herausstellt. Denn keine Liste lässt sich ins Unendliche erweitern, schon deshalb nicht, weil alle Listen, da sie stets sprachgestützt sind, in einem endlichen Medium befangen bleiben.
Frauen werden in Balzacs Liste ausnahmslos adjektivisch, Männer substantivisch charakterisiert.
Eine „unendliche“ Liste bliebe letztlich ohne Reiz und ohne Interesse, da sie ja bloß „alles“ je Vorhandene abzählen, auf eine Linie bringen, nicht aber ordnen würde; überdies bräuchte das Anlegen und Ablesen einer derartigen Liste wiederum „unendlich“ viel Zeit, somit eine „Ewigkeit“, und mehr als die progressive Inventarisierung einer chaotischen Totalität wäre damit nicht zu leisten. Was der Buchtitel verspricht (und was Umberto Eco im Text mehrfach wiederholt), ist also Nonsens und dürfte als solcher zurückzuführen sein auf die Verwechslung oder Gleichsetzung von „unendlichen“ Zahlenreihen mit verbalen oder visuellen Listen. − Mithin drängt sich eine strengere, auch klarere Definition dessen auf, wie und wozu die Liste funktionieren soll. Man könnte … ich würde sagen:
Die Liste ist formal und funktional dadurch bestimmt, dass sie Punkt für Punkt, ohne Wiederholung und ohne syntaktisch gefügten Kontext Wörter aufreiht, die eine vorgegebene Menge von Signifikaten vollständig oder teilweise erfassen, und dies mit so unterschiedlichen Zwecken wie − sie im Gedächtnis präsent zu halten; sie aus einer größeren Menge herauszuheben; sie in besonderer Weise zu ordnen oder zu klassieren.
Zur Definition der Liste gehört, 1) dass sie sprachlich verfasst ist; 2) dass in ihr das einzelne Wort (als Name, Begriff usf.) Vorrang hat vor dem Satz (als Aussage, Information, Meinung usf.); 3) dass ihre Elemente vorzugsweise untereinander zu stehen kommen, und nicht, wie in gewöhnlichen Texten, nebeneinander (was übrigens der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs „Liste“ als Leiste, Streifen, Band entspricht).
Unter diesem Gesichtspunkt wären dann allerdings viele der von Eco beigebrachten Texte nicht als „Listen“ und schon gar nicht als „unendliche“ Listen zu betrachten − eher handelt es sich bei den Werkauszügen von Cendrars, Dickens, Grimmelshausen, Poe, Rabelais, Rimbaud, Vergil u.a.m. um rhetorische Häufungen oder Sequenzierungen mit Tendenz zur Variation, gelegentlich auch bloß zur Wiederholung und zum graphomanischen Exzess.
Auch die bildlichen Darstellungen von Mengen oder Teilmengen, wie Eco sie in großer Zahl zusammenträgt und mit großer Selbstverständlichkeit seiner „unendlichen Liste“ zuschlägt, würde ich nicht als solche gelten lassen. Bilder haben im Unterschied zur Schrift keine lineare Laufrichtung, sind stets syntaktisch komponiert, und die auf ihnen dargestellte Gegenständlichkeit, egal ob konkret oder abstrakt, bildet ein Ensemble, nicht jedoch eine Reihe, die als solche die Qualität beziehungsweise die Funktion einer Aufzählung oder eben einer Auflistung hätte.
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In der Regel werden Listen alphanumerisch erstellt, will heißen, sie bestehen entweder aus einem von A bis Z nach Stichwörtern geordneten Set oder sind jeweils ab 1 beliebig bis 10, 13, 50, 101, 1213 oder Unendlich durchnumeriert. Scheinbar wird damit eine chaotische Gemengelage rational begradigt; rationalisiert werden aber in den meisten Fällen nur die Struktur und der Gebrauch der Liste, derweil ihr Inhalt, d. h. die alphabetisch oder numerisch aufgeführten Objekte, zusammenhangslos aneinander gereiht ist – was jeder Blick in irgendeine Enzyklopädie oder irgendeine durchnumerierte Inventarliste bestätigt. Eine Liste kann im Übrigen auch, ohne Numerierung oder sonstige Markierung der einzelnen Positionen, nach andern (subjektiven wie objektiven) Kriterien gestaltet werden, beispielsweise nach Prioritäten, Qualitäten, Wahrscheinlichkeiten usf.
In den meisten Fällen umfassen Listen mehr als drei Positionen; bei Wörterbüchern oder Bibliothekskatalogen können es Hunderttausende, auch Millionen sein. Alle Listen haben einen Anfang, einige haben auch ein definiertes beziehungsweise definitives Ende, die meisten jedoch bleiben offen, brechen ab, wenn sie mehreres oder vieles, aber doch nicht „alles“ erfasst haben, und enden dann mit Verweisen wie „usw.“, „u.a.m.“, „u.ä.“, „o.ä.“, „ff.“ usf.
Umberto Ecos ebenso weitläufige wie heterogene, gleichwohl defizitäre Liste der „Listen“ nennt unter anderm Listen von Dingen und Listen von Orten, Listen von unsichtbaren und/oder unnennbaren Objekten, exzessive, chaotische, schwindelerregende, poetische, praktische, kohärente Listen, ordnet sie mithin uneinheitlich bald nach formalen, bald nach inhaltlichen Kriterien. − Ich würde es für angemessener halten, die Listen zunächst nach ihrer Reichweite zu unterscheiden: 1) nach solchen, die ein endliches Set von Objekten vollständig erfassen; 2) nach solchen, die grundsätzlich kein Ende haben können, weil ihr Gegenstand entweder unendlich ist und/oder permanent an Zahl zunimmt; 3) schließlich nach solchen, deren Anzahl zwar endlich, aber unbestimmbar, unabsehbar, unvorstellbar ist.*
Innerhalb dieser drei Kategorien gilt es jedoch unter diversen Gesichtspunkten weiter zu differenzieren. In vielen Fällen erweist sich die Zuordnung einer Liste zur einen oder andern Kategorie als problematisch. Bestimmend dafür ist die Beschaffenheit der aufgezählten beziehungsweise aufzuzählenden „Objekte“, zu denen nebst konkreten Gegenständen oder Personen auch bloße Eigenschaften oder imaginäre Wesen gehören können.
Klar und einfach ist die Zuordnung eines Inhaltsverzeichnisses, eines Begriffsregisters, eines Packungszettels, eines Telefonbuchs, eines Straßen- oder Mitgliederverzeichnisses zur Kategorie der vollständigen, in sich geschlossenen Listen mit markiertem Anfang und Ende. Es macht allerdings einen Unterschied, ob ich die 7 Wochentage des julianischen Kalenders, die 10 Gebote der christlichen Bergpredigt, die 5 Gänge eines Menüs, die 8 Positionen auf meinem heutigen Einkaufszettel, die 327 in einem Zoo gehaltenenen Tiere aufzähle oder die 67 Versuchungen des Hl. Antonius, die 178 Namen des Teufels, die 11.000 Ruten des Prinzen Vibescu, die 53 Flussnamen, die James Joyce an einer oft zitierten Stelle in „Finnegans Wake“ teils direkt, teils anspielungsweise Revue passieren lässt. Denn bei imaginären Objekten, Eigenschaften oder Ereignissen bleibt deren angebliche Gesamtzahl reine Behauptung, ist weder zu belegen noch zu widerlegen und kann jederzeit konterkariert werden durch andere Behauptungen – für den Teufel wurden auch schon mal 63 oder 111 oder 321 Namen ausgezählt.
Relativierungen dieser Art treffen nicht allein auf poetische, mythologische, esoterische und ähnliche Listen zu, sondern auch auf Verzeichnisse subjektiver, lediglich auf einen einzigen Menschen zutreffender Befindlichkeiten (Ängste, Freuden, Wünsche, Vorlieben usf.). Wenn also Roland Barthes in seinem Buch Über mich selbst (1980) auf einer parallel geführten Liste aufzählt, was er liebt und was er nicht liebt, ist damit keineswegs belegt, ob seine Angaben stimmen, noch ob sie vollständig sind, wiewohl die Liste als solche es nahelegt: „Ich liebe − Salat, Zimt, Gewürze, Mandelteig … Ich liebe nicht − weiße Rocker, Frauen in langen Hosen, Geranien …“ Barthes selbst verweist auf die Problematik solch subjektiver Listen (und implizit der systematisierenden und wertenden Aufzählung generell), indem er die Möglichkeit andeutet, etwas oder jemanden gleichzeitig lieben und nicht lieben zu können.
Ähnliche Vorbehalte sind im Fall des Frauenlobs anzumelden, das sich – etwa im Hohen Lied, im deutschen Minnesang, in der Dichtung der Troubadours, aber auch in der Volkspoesie und in trivialen Gelegenheitsversen – im Wesentlichen auf die Katalogisierung körperlicher und/oder seelischer Eigenschaften beschränkt, ohne deren Trägerin als eigenständige Persönlichkeit zu würdigen. Die Person (die Substanz) wird in diesem Fall von lauter autonom gesetzten Qualitäten überlagert und gleichsam ausgeblendet, sodass auch hier die Vollständigkeit der Liste eine unüberprüfbare Behauptung bleibt. So verzeichnet beispielsweise André Bretons lyrische Liste zur Freien Liebe (1931) lauter liebenswerte Eigenschaften einer Frau, die er als „meine Frau“ bezeichnet, die aber namenlos bleibt und deshalb jedermanns Frau, irgendeine Frau, auch jegliche Frau sein könnte:
…
meine Frau mit dem Gesäß aus Sandstein und Asbest
meine Frau ihr Gesäß ein Schwanenrücken
meine Frau ihr Gesäß ein Frühling ihr Geschlecht eine Gladiole
meine Frau ihr Geschlecht ein Goldgräberort ein Schnabeltier
meine Frau ihr Geschlecht wie Algen und Bonbons
meine Frau mit dem Geschlecht das ein Spiegel ist
meine Frau mit Augen voller Tränen
ihre Augen eine violette Rüstung eine Magnetnadel
meine Frau mit Augen wie Savannen
meine Frau mit Augen wie Wasser das man im Kerker trinkt
meine Frau mit Augen wie Holz stets unter der Axt
mit Augen auf der Höhe des Wassers auf der Höhe der Luft aus Erde und Feuer
Selbst die geradezu sprichwörtliche Objektivität und Vollständigkeit eines ausgedruckten Telefonbuchs erweist sich als äußerst prekär.
Der Vergleich zahlreicher Listen, in denen Menschen aufgezählt werden, macht überdies deutlich, dass bei Frauen fast durchweg deren Eigenschaften, bei Männern hingegen die Substanz als maßgeblich gelten. Ein aufschlussreiches Beispiel dafür findet sich bei Honoré de Balzac, der in den Skizzen und Phantasien von 1830 eine großstädtische Menschenmenge getrennt nach Frauen und Männern auf einer Liste verzeichnet, wobei die Frauen ausnahmslos adjektivisch, die Männer substantivisch charakterisiert werden:
Bezaubernde Frauen, gelehrte Frauen, unschuldige Frauen, prüde Frauen, parvenühafte Frauen, kokette Frauen, Theaterautoren, Schauspieler, Redner, Prosaautoren, Dichter, Richter, Anwälte, Diplomaten, Akademiker, Börsenmakler, Notare, Bankiers, Klassiker, Romantiker, Adlige, Bürgerliche, Gallikaner, Ultramontane, Republikaner, Monarchisten, Papsttreue, Bonapartisten, Karlisten, Orleanisten, Anarchisten, Alarmisten, Novellisten, Feuilletonisten, Pamphletisten, Publizisten, Journalisten, Künstler sehen sich dort, treffen sich dort, lassen sich dort nieder, schnauzen sich dort an, prassen dort.
Obwohl weder alphabetisch noch numerisch geordnet, ist dies eine exemplarische Liste, parataktisch gefügt, sowohl aufzählend wie auch klassifizierend, eine Liste mit Anfang und Ende, eine Liste, deren Positionen, Wort für Wort − ebenso gut vertikal angeordnet sein könnten und deren Vollständigkeit wiederum bloß behauptet oder vermutet, nicht aber nachgewiesen werden kann.
Ganz anders geartet ist demgegenüber die angeblich „chinesische“ Klassifizierung der Tierwelt, die Jorge Luis Borges in Form einer alphabetischen Liste vorgelegt hat; diese Klassifizierung unterscheidet die nachstehenden Gattungen, Arten und Abarten:
a) dem Kaiser gehörende;
b) einbalsamierte;
c) gezähmte;
d) Milchschweine;
e) Sirenen;
f) Fabeltiere;
g) streunende Hunde;
h) in diese Aufzählung aufgenommene;
i) die sich wie toll gebärden;
j) unzählbare;
k) mit feinstem Kamelhaar gezeichnete;
l) und so weiter;
m) die den Wasserkrug zerbrochen haben;
n) die von weitem wie Fliegen aussehen.
Obwohl die alphabetisch angelegte Liste beim Buchstaben n) abbricht, verzeichnet sie die Tierarten – lebende, ausgestorbene, imaginäre – vollständig, und sie vermag dies ganz einfach dadurch, dass sie die „unzählbaren“ Tierarten insgesamt wie auch ihr eigenes offenes Ende („und so weiter“), ja sogar Tiere („Sirenen“), die es nicht gibt, in sich aufnimmt. Auszählung und Klassifizierung laufen leer, statt Ungeordnetes zu ordnen, schafft die Borges’sche Liste eine quasirationale Systematik, die sich ihrerseits – gleichsam – als eine Unordnung höherer Ordnung erweist. Ingeniös wird hier eine Liste so hergerichtet und verfremdet, dass ihre hauptsächlichen, längst automatisierten Funktionen – Aufzählen, Erinnern, Ordnen – außer Kraft gesetzt und damit ad absurdum geführt werden.
In fast schon parodistischer Weise macht Borges aufmerksam darauf,
– dass wohl keine Liste wirklich vollständig und wirklich verlässlich ist;
– dass sich die „Welt“ insgesamt, die materielle wie die geistige, in Listenform weder objektiv erfassen noch gar ordnen oder werten lässt;
– dass die Liste also letztlich immer nur vorläufige, vorübergehende, relative Geltung haben kann, da die von ihr verzeichneten Objekte entweder je einzeln oder gesamthaft ständigem quantitativem wie qualitativem Wandel unterliegen.
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So werden sich die geradezu sprichwörtliche Objektivität und Vollständigkeit eines ausgedruckten Telefonbuchs als äußerst prekär erweisen, da bei dessen Erscheinen (oder auch schon während der Drucklegung) bereits wieder neue Abonnenten, aber auch Kündigungen bestehender Nummern zu registrieren wären. Ein Gleiches gilt – mit allerdings unterschiedlicher Halbwertszeit – für das Guinness-Buch der Weltrekorde und für viele andere Ranglisten auch, die in permanentem Wandel oder stetiger Progression begriffen sind. Lediglich dann, wenn die Liste retrospektiv auf einen bestimmten Zeitraum bezogen ist wie im Fall der zehn besten Bücher der vergangenen Woche oder der 200 reichsten Schweizer des vergangenen Jahres oder auch der zwölf erfolgreichsten Formel-1-Piloten des vergangenen Jahrzehnts, vermag sie dem Anspruch der Vollständigkeit zu genügen. Diesen für das rational klassifizierende Denken desolaten Sachverhalt hat der Karikaturist Saul Steinberg im Oktober 1969 auf einem Umschlagbild der Zeitschrift The New Yorker mit hintergründigem Witz visualisiert: Vor einem „abstrakten“ Gemälde steht ein schattenhafter Betrachter, aus dessen Kopf eine riesige Gedankenblase aufsteigt, die „alle“ Assoziationen − Begriffe und Namen und Zahlen − enthält, die das Bild beim Betrachter hervorruft, darunter Wortfolgen wie
… Red, Green, Greenberg, Monteverdi, Verdi, Rossini, Leoncavallo, Catfish, Ratfink, Schweinehunde, Dragonfly, Horsefly, Belmont, Jamaica, Auteuil, San Siro, My Old Man, The Killers, Kilimanjaro, Kilogramm, Kilometer, 5/8 Mile, Isotta-Fraschini, Hispano-Suiza, Svizzera, Trieste, Joyce, James Joyce, Greta Garbo, Donald Duck, BB, MM, Phileas Fogg, Ugene Unesco, Tristan Tzara, Tara, Tata, Uta, Ata, Ita, Nene, Papa, Gigi, Tata, Dada, Ada, Hedda, Betty Parsons, Curt Vallentin, Maeght, Janis, Museum, Rockefeller, Nelson, David, Hare, Denise, The Knees, Haircut, Nosedrop, Gogol, Nabokov, Hi Nabor, While-U-Wait, U Turn, U Thant, H B4 BUT, No X-ing, Vietato Fumare, Défense d’Afficher …
Festzuhalten ist demnach, dass die vollständige Liste die Ausnahme darstellt, dass wir es in der Alltagspraxis also mehrheitlich mit unvollständigen, „offenen“ Listen zu tun haben, die entweder eine unendliche oder eine sehr große, nicht verifizierte, vielleicht auch gar nicht verifizierbare Anzahl von Objekten zumindest teilweise (synekdotisch) verzeichnet, um deren Aufzählung mit einem unbestimmten „usw.“ oder Ähnlichem enden zu lassen; oft kommen solch formelhafte Schlussfiguren schon nach drei oder fünf oder zehn explizit benannten Positionen zum Einsatz, auch wenn eine sehr große Menge von Objekten ausgewiesen werden soll.
Mit den Notizen über das, was ich suche hat Georges Perec, dessen oulipotisches Werk bekanntlich zu einem guten Teil aus immer wieder anders konzipierten Listen besteht, eine kleine Phänomenologie des Aufzählens vorgelegt. Der von 1978 datierte Text ist Beschreibung, Erzählung, Erklärung in einem und enthält auch ein Verzeichnis aller auf seinem Schreibtisch vorhandenen Objekte; das Verzeichnis lautet wie folgt:
Eine Lampe, eine Zigarettendose, eine Einblumenvase, ein Feuerzünder, eine Pappschachtel, die kleine mehrfarbige Karteikärtchen enthält, ein großes Tintenfass aus Hartkarton mit inkrustierten Schuppen, ein gläserner Bleistifthalter, mehrere Steine, drei Behälter aus gedrechseltem Holz, ein Wecker, ein Kalender zum Schieben, ein Bleiblock, eine große Zigarrenkiste (ohne Zigarren, aber voll von kleinen Dingen), eine Stahlspirale, in die man Briefe zur Aufbewahrung stecken kann, ein Dolchgriff aus geschliffenem Stein, Registermappen, Hefte, lose Blätter, verschiedenartige Schreibgeräte oder -utensilien, ein großer Tampon mit Löschpapier, mehrere Bücher, ein Glas voller Bleistifte, ein Kistchen aus vergoldetem Holz.
Diese Liste mag beim ersten Hinsehen als vollständig gelten, bedenkt man aber, dass mehrere Gegenstände nicht einzeln aufgezählt, sondern lediglich als ungefähre Menge angeführt werden („Registermappen“, „mehrere Bücher“, „ein Glas voller Bleistifte“ usf.), und dass auch jene Gegenstände unberücksichtigt bleiben, die sich in irgendwelchen Behältnissen befinden („eine große Zigarrenkiste … voll von kleinen Dingen“), wird die behauptete Vollständigkeit fraglich. Doch ist die angeblich oder vermeintlich vollständige Liste in jedem Fall nur zu einem bestimmten Zeitpunkt „vollständig“, vielleicht bloß für einen Augenblick, für die Dauer ihrer Niederschrift; danach wird der Autor sein Schreibgerät aus der Hand auf den Tisch zurücklegen, und schon ist die Liste überholt, wird wieder unvollständig.
Jenseits jeder Aufzählung – im „Und-so-weiter“ – eröffnet sich erst eigentlich der Raum der Poesie.
Perec selbst gibt sich in seinen Notizen Rechenschaft darüber, dass das Verzeichnis der vor ihm ausgebreiteten Gegenstände weder deren Wert noch deren Funktion und Form adäquat wiederzugeben vermag; dass aus ihm nicht hervorgeht, wie oft und mit welchem Nutzen die Gegenstände gebraucht werden, wie sehr ihm emotional an ihnen gelegen ist, wie lange und in welcher Ordnung sie auf dem Schreibtisch abgelegt bleiben, und auch nicht, in welcher Reihenfolge beziehungsweise nach welchen Prioritäten die Gegenstände auf der Liste benannt werden und ob er, der Autor und Besitzer, bei der Aufzählung allenfalls etwas übersehen, vergessen, falsch benannt hat.
„Nichts scheint simpler, als eine Liste aufzustellen“, notiert Perec: „In Tat und Wahrheit ist es weit komplizierter, als es den Anschein macht: man vergisst immer etwas und ist versucht, ,usw.‘ zu schreiben, aber grade bei einem Inventar schreibt man doch nicht ,usw.‘“ Die Liste vermag sich weder von ihrer zeitlichen noch ihrer räumlichen Bedingtheit zu emanzipieren, und als Inventar von geistigen Dingen, psychischen Daten, möglichen Welten bleibt sie notwendigerweise ungenau und unvollständig, selbst dann, wenn sie formal korrekt geführt und mit einem „letzten“ Eintrag abgeschlossen wird.
Georges Perec hat diese Defizite in manchen seiner Verzeichnisse einsichtig gemacht, indem er – stets vergeblich – bestimmte Orte, Zeitabschnitte, Gefühlslagen verbal in sogenannten tentatives d’épuisement zu „erschöpfen“ suchte; indem er zum Beispiel „alles“ auflistete, was er am 18. und 19. Oktober 1974 von seinem Eckplatz im Bistro mit Blick auf die Straße wahrnehmen konnte, oder „alles“, was er im Jahresverlauf 1974 an flüssigen und festen Nahrungsmitteln zu sich nahm. − Die einzigen „vollständigen“ Listen, die bei Perec zu finden sind, dürften das Verzeichnis seiner publizierten Bücher und deren Inhaltsverzeichnisse sein.
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Ein weiterer, ein vorläufig letzter Hinweis soll hier der „poetischen“ Liste gelten, die bei Umberto Eco bemerkenswerterweise kaum Beachtung findet. Die Poetizität der Liste als Textsorte ergibt sich − unabhängig davon, was aufgezählt wird − aus den lautlichen oder rhythmischen Qualitäten des verwendeten Sprachmaterials, aus Qualitäten somit, die sich zufällig einstellen, aber auch bewusst eingesetzt werden können. Selbst die chaotische Wortblase von Saul Steinberg weist poetische Qualitäten auf, die ausschließlich formaler Art sind, so etwa die zahlreichen Alliterationen und Assonanzen, durch die die disparaten Begriffe und Namen in eine kohärente Klangfolge gleichsam eingeschmolzen werden.
Schon bei Homer (in der Ilias) und noch bei Marcel Proust (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) ist klar auszumachen, dass die Aufzählung von Orten, Protagonisten, Taten, Gegenständen primär als Klangereignis, und nicht als bloßes Inventar angelegt ist. Da solche Aufzählungen in aller Regel zahlreiche Namen enthalten, bleibt diese poetische Qualität naturgemäß auch in den Übersetzungen entsprechender Texte weitgehend erhalten. In epischen beziehungsweise erzählerischen Zusammenhängen nehmen sich Listen unterschiedlichster Art wie eigens integrierte selbständige Gedichte aus; hier, als Beispiel dafür, ein kurzer Auszug aus der Proust’schen Suche („Unterwegs zu Swann“, 1913), in dem auch explizit auf Lautqualitäten wie „Ton“, „accent aigu“ oder „Wortausklang“ verwiesen wird:
Wie hätte ich mich entscheiden können zwischen Bayeux, das in seinem edlen, rötlich schimmernden Klöppelgewand so hoch emporragte und dessen Spitze im altgoldenen Schein seiner letzten Silbe erstrahlte; Vitré, dessen Accent aigu die uralten Glasscheiben mit einem Rautenwerk aus schwarzem Holz versteifte; dem weichen Lamballe, dessen weißlicher Ton von Eierschalengelb zu Perlgrau übergeht; Coutances, normannische Kathedrale, die die golden sich rundende Fülle ihres Wortausklangs wie einen Turm aus Butter trägt; Lannion in dörflicher Stille mit dem summenden Ton der Fliege, die der Kutsche folgt; Questambert, Pontorson, komisch und naiv wie weißes Gefieder und gelbe Schnäbel auf der Landstraße zwischen diesen von Flüssen durchzogenen, poesievollen Stätten; Benodet, ein kaum verhafteter Klang, den der Fluss in sein Algengewirr hineinzuziehen versucht; Pont-Aven, weiß und rosa Flattern einer leichten Haube mit ihrem zitternden Widerschein im grünlichen Wasser eines Kanals; Quimperlé, besser befestigt und schon vom Mittelalter her zwischen den Bächen zu Haus, mit denen es sich berieselt und grau überperlt, so wie hinter den Spinnweben an einer Fensterscheibe die Sonnenstrahlen es tun, deren Aufblitzen sich im gedämpften Schein brünierten Silbers verliert.
Poetisch relevant sind Listen im Übrigen auch deshalb, weil sie erkennen lassen, was „alles“ sich nicht aufzählen, nicht sagen lässt; denn jenseits einer jeden Aufzählung – im „Und-so-weiter“ − eröffnet sich erst eigentlich der Raum der Poesie, ein Außendistrikt konventioneller Rede, wo Unsägliches und Unnennbares in „anderer“ Sprache ihren Ausdruck finden: Was man nicht sagen kann, das muss man dichten.
*) Diese Grundeinteilung übernehme ich von Sabine Mainberger, die mit ihrer materialreichen Monografie zur Kunst des Aufzählens (2003) die Grundlage für eine Phänomenologie der Liste und darüber hinaus für eine Poetik enumerativer Texte geschaffen hat, ein Werk, aus dem Umberto Eco für sein eigenes Buch viele Fakten und Anregungen hätte gewinnen können, das ihm aber offenkundig unbekannt geblieben ist.