Als die Medien der Welt Ende 2009 das Urteil über die ersten zehn Jahre des 21. Jahrhunderts sprachen, war die Einschätzung vernichtend. Journalisten und Historiker attestierten der Politik ein fast universelles Versagen gegenüber den großen Herausforderungen der Zeit, eine kostbare Dekade war verspielt.
Auch der britische und in New York lehrende Historiker Tony Judt, der 2005 weltweit mit seiner magistralen Studie Postwar (deutsch: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, 2006) bekannt geworden war, fällt ein vernichtendes Urteil über diese Periode:
Anderthalb Jahrzehnte ungenutzter Chancen und politischer Inkompetenz beiderseits des Atlantiks. Allzu selbstgewiss und gedankenlos haben wir das 20. Jahrhundert zu den Akten gelegt und uns enthusiastisch in das neue Jahrtausend gestürzt, angetan mit lauter Halbwahrheiten – vom Triumph des Westens, vom Ende der Geschichte, von der singulären Macht Amerikas, dem unaufhaltsamen Vormarsch von Globalisierung und Kapitalismus.
Tony Judt, der streitbare Intellektuelle, hat sich zwar spät, aber dafür fulminant einen Namen als unbestechliches soziales Gewissen der Zeitgeschichte gemacht. Zunächst unter Kollegen als Historiker der Geschichte der französischen Linken bekannt und respektiert, wurde er einem breiteren Publikum bekannt, als er in den 1990er-Jahren begann, für die New Republic und die New York Review of Books zu schreiben. Eine Auswahl dieser kritischen Aufsätze sind in dem Band Das vergessene zwanzigste Jahrhundert – die Rückkehr des politischen Intellektuellen (übersetzt von Matthias Fienborg) auch auf Deutsch erschienen.
Obwohl fast alle der in diesem Band enthaltenen Aufsätze eigentlich Buchbesprechungen sind, sind es eben Kritiken in der besten angelsächsischen Tradition des kritischen Essays – oft sehr subjektiv und sogar persönlich, weit ausholend und trotzdem argumentativ präzise, geprägt von tiefer Kenntnis, aber frei von Stammesjargon. Sie können für sich stehen und ergeben doch eine erstaunlich kohärente tour d’horizon der Gedankenwelt ihres Autors.
Besonders die Unbekümmertheit, mit der das 20. Jahrhundert „einfach ad acta gelegt“ werde, um sich in neue Abenteuer zu werfen, ist für Judt eine reale Gefahr, die ihn immer wieder dazu anspornt, Halbwahrheiten zu entlarven, indem er an vergessene Denker des 20. Jahrhunderts erinnert und die seltsame Geschichtsvergessenheit unserer eigenen Tage analysiert.
Peinliche Mahnmale
Es ist provokant und typisch für den engagierten Historiker, die heutige Kultur als geschichtsvergessen zu bezeichnen; schließlich hat es nie so viele Gedenkstätten, Mahnmahle, historische Veröffentlichungen, Dokumentationen und Symposien über Gedächtniskultur gegeben wie eben heute, aber so viel Gedächtnisseligkeit lenkt letztendlich nur von einer empirischen und kritischen Geschichtsschreibung ab. Sie formt Erinnerungs- oder Gedächtnisgemeinschaften, denen die historischen Fakten nur so lange willkommen sind, wie sie das gemeinschaftliche Bild stützen und anfüllen können. Letztendlich sind Mahnmale nichts anderes, als steinerne Projektionen gegenwärtiger Werte in die Vergangenheit, was übrigens auch ein Grund ist, dass sie schon nach wenigen Jahrzehnten so peinlich wirken.
„Wir leben in einem Zeitalter des Gedenkens“, erinnert Judt seine Leser und fügt nonchalant aber rasiermesserscharf an, dass die Gedenktafel für die Schlacht bei den Thermophylen mit der berühmten Inschrift „Wanderer, kommst du nach Sparta…“ im Jahre 1955 dort angebracht wurde. Der in London geborene Judt schreibt mit fast verzweifelter Verachtung über die Veränderungen in seiner Heimat, das unter Tony Blair ganze Lebensformen und ganze Gebiete der eigenen Vergangenheit in Theme Parks verwandelt hat, inklusive nostalgische Souvenirs und TV-gerechte Aufarbeitung. Ein Sepia-getönter Fotoband aus dem ehemaligen Industriestandort Wigan enthält da kein einziges Bild eines Arbeiters, die problematische Geschichte von Armut und Klassenkampf ist erfolgreich entsorgt, und Tony Blair steht mittendrin, als „Gartenzwerg im englischen Park des Vergessens.“
Nützliche Idioten, verletzte Eigenliebe
Dass es zu einer solchen Verwahrlosung und Kommerzialisierung der kollektiven Vergangenheit hat kommen können, darin sieht Judt das zentrale Versagen von zeitgenössischen Intellektuellen und ganz besonders der Liberalen, die sich ihm zufolge aus lauter Dankbarkeit dafür, nach dem Kalten Krieg im „Islamofaschismus“ und dem Terrorismus endlich wieder ein klares Feindbild gefunden zu haben, zu willigen Handlangern einer neokonservativen Machtpolitik machen ließen.
Ein fast altmodisch wirkender Zorn schlägt einem aus solchen Zeilen entgegen, aber auch eine scharfsinnige Analyse des liberalen Dilemmas:
Wir alle kennen Intellektuelle, die nur für ihr Land, ihre Klasse, ihre Religion sprechen, im Namen von „Rasse“, „Gender“, oder „sexueller Orientierung“ und ihre Ansichten danach ausrichten, was der jeweiligen Sache dient. Früher zeichnete sich der klassische liberale Intellektuelle durch seinen universalistischen Blick aus. Das war keine weltfremde oder gespielte Leugnung von Partikularinteressen, sondern das unablässige Bemühen, dieses Partikulare im Interesse von Wahrheit oder einer höheren Sache zu überwinden.
Judts pauschale Attacke gegen Intellektuelle seiner eigenen Generation ist alles andere als unparteiisch, und über das Möglichsein eines wirklich „universalistischen Blickes“ kann man sich streiten – Judt ist beileibe kein Relativist. Unbestreitbar ist allerdings, dass er in seinen Artikeln und Vorlesungen selbst lange, mutig und trotz heftiger Anfeindungen öffentlich versucht hat, alles Partikulare zu überwinden, auch und besonders Israel gegenüber, dessen Politik nach dem Sechstagekrieg er für katastrophal hält und immer wieder öffentlich gegeißelt hat.
Was verrät das über die moderne akademische Welt, dass jemand wie Althusser Professoren und Studenten so lange im Käfig seiner absurden Fantasien gefangen halten konnte?
Dem jüdischen Historiker, der selbst einmal Zionist war, auf einem Kibbuz arbeitete und in der israelischen Armee diente, haben solche Ansichten viele Feinde gemacht, zumal es ihm immer wieder gelingt, sie erstaunlich pointiert zu formulieren:
Israel führt sich noch immer wie ein Halbstarker auf – überzeugt von seiner Unvergleichlichkeit, sich unverstanden fühlend („alle sind gegen mich“), erfüllt von verletzter Eigenliebe, schnell beleidigt und aggressiv. Israel glaubt, nach Belieben agieren zu können, für sein Handeln nicht einstehen zu müssen, unsterblich zu sein.
Wie zu erwarten war, haben ihm solche Attacken den Vorwurf eingebracht, ein selbsthassender Jude zu sein, wenn auch Judt gerade den leichtfertigen Umgang mit dem Antisemitismusvorwurf kritisiert. Israels Beharren darauf, ein jüdischer Staat zu sein, komme nämlich die Juden in anderen Ländern „teuer zu stehen“, weil sie so nolens volens mit der Politik eines Staates identifiziert werden, den sie vielleicht weder kennen noch unterstützen. „Juden werden faktisch für alles verantwortlich gemacht, was an Kritisierenswertem in Israel geschieht.“ Letztendlich, so Judt, müsse Israel sich entscheiden, ob es ein jüdischer oder ein demokratischer Staat sein wolle, denn angesichts einer wachsenden arabischen Minderheit im Land und der andauernden Besatzung schließen diese beiden Begriffe einander aus.
Zeugen und Weggefährten
Intellektuelle Unabhängigkeit bedeutet, Mut zur Einsamkeit zu haben, und gerade diesen Mut findet Judt kaum unter zeitgenössischen Publizisten, wohl aber unter den großen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, denen einige der besten Aufsätze gewidmet sind. Wenn das 20. Jahrhundert tatsächlich vergessen ist, dann kommt dies in diesen biografischen Skizzen zur Geltung. Wer kennt oder liest heute noch Artur Koestler? Wie präsent sind Manès Sperber oder Primo Levi heute?
In einzelnen Beurteilungen lässt sich der Autor vielleicht zu sehr von seiner Bewunderung hinreißen. In einem Aufsatz über Hannah Arendt bemüht er sich, ihr vielleicht zu viel Bedeutung zukommen zu lassen, und auch im Falle des palästinensischen Literaturkritikers Edward Saïd lobt er vielleicht zu viel und zu früh.
Andererseits sind seine Auseinandersetzungen mit Albert Camus und Lezek Kolakowski besonders wichtig und erhellend, zumal Letzterer, ein katholischer und konservativer Philosoph und Marxismusexperte, ganz und gar nicht auf der ideologischen Linie des Autors liegt und von Judt trotzdem mit dem größten Respekt und sogar Bewunderung behandelt wird.
Judts Tribut an Kolakowski ist für ihn auch eine Gelegenheit, sich noch einmal mit einem zentralen historischen Paradox der Linken auseinanderzusetzen, denn „der Marxismus und das sozialistische Projekt hatte im vergangenen Jahrhundert eine beispiellose Macht über einige der klügsten Köpfe,“ eine Macht, die der Konfrontation mit der Stalinistischen Realität allerdings nicht standhielt und heute aus den intellektuellen Eliten so gut wie verschwunden ist.
Judt selbst hat aus seiner Bewunderung für linke Utopie selbst nie einen Hehl gemacht, gibt unreflektierten Utopisten aber mit auf den Weg: „Diejenigen, die davon träumen, die marxistische Platte wieder abzuspielen, digital aufbereitet und frei von kommunistischen Kratzern, sollten sich fragen, warum allumfassende ‚Denksysteme‘ stets zu allumfassenden Herrschaftssystemen führen.“
Glaubenskriege
Die Auseinandersetzung einer ganzen Generation von Intellektuellen mit dem Marxismus und die moralischen Entscheidungen und Debatten angesichts der stalinis-tischen Verbrechen faszinieren Judt besonders. In einem leidenschaftlichen Artikel verteidigt er Artur Koestler gegen seine Kritiker, muss aber selbst anmerken, dass Koestler trotz seiner Anklage gegen das Sowjetregime in Sonnenfinsternis aus intellektueller Sentimentalität doch weiterhin sympathisierte und seine eigene Position so schwächte: „Koestlers Roman ist der Versuch eines ehemaligen kommunistischen Intellektuellen, anderen Intellektuellen zu erklären, warum der Kommunismus seine eigenen Intellektuellen verfolgte und warum sie bei ihrer eigenen Demütigung mitmachten.“
Der letzte romantische Kommunist heißt ein Porträt des Historikers Eric Hobsbawm, das zwischen Bewunderung für den Autor und Befremden über seinen ungetrübten und aufrechten Kommunismus schwankt: „Eric Hobsbawm ist das größte Naturtalent unter den Historikern unserer Zeit, aber Schmerz und Schande des Jahrhunderts hat er irgendwie verschlafen.“ Nicht nur die Kommerzialisierung der Vergangenheit kann das moralische Gewissen verzerren, sondern auch ihre Ideologisierung. „Wenn die Linke dieses Selbstbewusstsein wiedererlangen und sich von den Knien erheben will,“ schreibt Judt, „müssen wir aufhören, uns tröstliche Geschichten über die Vergangenheit zu erzählen … siebzig Jahre ‚realexistierender Sozialismus‘ haben nichts, aber auch gar nichts zur Verbesserung des menschlichen Daseins beigetragen.“
Für Ideologen, die sich dieser Realität verweigern, hat Judt keinerlei Respekt, und so gilt seine Bewunderung Menschen wie Albert Camus und seine kühlste, schneidende Verachtung einem Louis Althusser, der 1980 seine Frau beim Massieren nach eigener Angabe versehentlich erdrosselte und dessen ungeheurer, intellektuell verbrämter Dogmatismus („wenn sie eine bestimmte Aussage suchten, die sie bei Marx nicht fanden, interpretierten sie das ‚Schweigen im Text‘“) ihn dazu führte, nicht die Ermordung von Millionen Menschen als Stalins eigentliches Verbrechen anzusehen, sondern die Verfälschung des Marxismus. Judts Resümee ist auch ein historiografisches Credo:
[Althusser ] … erinnert an einen mittelalterlichen Gelehrten, der sich verzweifelt in seiner fantasierten Begriffswelt zu orientieren versucht. Aber selbst die obskursten theologischen Spekulationen verfolgen meist ein bedeutsames Ziel. Althussers Grübeleien blieben folgenlos. Seine Theorien mussten sich nicht beweisen und hatten keinen erkennbaren praktischen Nutzwert, höchstens als abstruse politische Apologetik. Was verrät das über die moderne akademische Welt, dass jemand wie Althusser Professoren und Studenten so lange im Käfig seiner absurden Fantasien gefangen halten konnte, ja bis heute gefangen hält?
Indem er aus seinem eigenen intellektuellen Engagement heraus Stellung bezieht, fordert Judt auch seine Leser dazu auf. Letztendlich geht es ihm immer um die Beziehung zwischen Erinnerung und Handeln, darum also, aus welcher Erinnerung heraus wir unsere Gegenwart formen wollen. Aufgabe der Historiker ist es für ihn, diese Beziehung so ehrlich wie möglich zu erhalten.
Nachlass zu Lebzeiten
Als Tony Judt 2007 die Einleitung zu dem vorliegenden Band schrieb, wusste er selbst wohl noch nicht, dass er bereits an amyotropher Lateralsklerose erkrankt war, einer degenerativen und irreversiblen Nervenkrankheit, die ihn in der Zwischenzeit vom Hals abwärts völlig gelähmt hat. Daher trägt diese Sammlung von Aufsätzen auch den Charakter eines Nachlasses zu Lebzeiten.
Seiner Krankheit zum Trotz schreibt Judt immer noch per Diktat für die New York Review of Books eine Serie von persönlichen Memoiren und hat in seinem kürzlich erschienenen manifesthaften Aufsatz in Buchform Ill fares the Land (Penguin) eine bittere historisch-politische Bilanz gezogen, die Themen aus Das vergessene 20. Jahrhundert weiterentwickelt. Schon in dieser Sammlung aber zeigt sich Judt nicht nur als einer der fundiertesten Historiker und besten Stilisten seiner Generation, sondern auch als ein Moralist, der wohl nicht leugnen kann, selbst nostalgisch auf eine seinem Dafürhalten nach bessere, mehr solidarische Vergangenheit zu blicken.
Die dauernde Auseinandersetzung mit den eigenen intellektuellen Instinkten und Bedürfnissen ist und bleibt vielleicht die größte Herausforderung für die intellektuelle Ehrlichkeit. Judt schreibt voller Engagement und mit immenser analytischer Kraft darüber, wie andere Autoren mit dieser Herausforderung umgegangen sind und macht dabei gleichzeitig deutlich, wie stark dieser Konflikt auch bei ihm ist. Beides ist eine Bereicherung.