Was heißt „Diskurs“ der Folter?
Gesellschaften definieren sich wesentlich durch ihr Verhältnis zur Gewalt, wobei diese Gewalt in der aktuellen Diskussion um die Wiederkehr der Folter starken medialen Voraussetzungen unterliegt. Wenn Soldaten im Krieg nach dem Vorbild von Fernsehformaten Gewaltverhöre durchführen, dann greift die Vorstellung einer medialen Re-Präsentation von Gewalt ganz offensichtlich zu kurz. Die rasch weltweit verbreiteten Bilder aus Abu Ghraib haben gezeigt, dass uns die extreme physische Gewalt der Folter nicht schlicht gegenwärtig wird. Sie tritt als ein Medienprodukt auf, das komplexen symbolischen und kulturellen Codierungen unterliegt. Daraus erwächst eine besondere heuristische Verantwortung der nicht-empirischen Gewaltforschung, die diese komplexen Zusammenhänge systematisch analysieren und historisch ausleuchten muss. Dazu muss eine Verbindung hergestellt werden zwischen der Debatte und den Gewalt-Darstellungen zur Zeit der Abschaffung der Folter im 18. Jahrhundert und den Bildern, Fiktionen und Erzählungen, die die aktuellen, nicht zuletzt rechtspolitischen Diskussionen begleiten. Aktuell bemerkenswert ist die Tatsache, dass sich die rechtspolitischen Diskussionen, die verfassungsrechtliche Grundsatzfragen berühren, und populäre Darstellungen in einschlägigen Fernsehserien (24, GSG 9 etc.) immer ähnlicher werden. Beide rücken ticking bomb-Szenarien in den Mittelpunkt, die ein und dieselbe Ausnahmesituation variieren: Ein Einzelner bedroht die Gemeinschaft. Im Verhör können überlebenswichtige Informationen nur gewaltsam erpresst werden. Die Vernehmungsbeamten sind vor die tragische Wahl gestellt, wem sie den Vorrang geben wollen: den Schutz- und Sicherheitsinteressen der Mehrheit oder dem Würdeanspruch des Einzelnen?
Der erste Satz des Deutschen Grundgesetzes lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Lange Zeit galt dieser Satz kategorisch. Der Schutz der Menschenwürde sollte absolut sein und das heißt: jeder Abwägung entzogen. Was die Juristen ‚Abwägungsresistenz‘ nennen, das kennen die Literaturwissenschaftler vom Deutschen Idealismus her, namentlich von Kant, der bekanntlich formulierte: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde.“ Während diese Philosophie ausschließt, dass das oberste Konstitutionsprinzip der deutschen Verfassung utilitaristischen Erwägungen unterworfen werden kann, führt eine seit 2003 existierende Neukommentierung zu Art. I Satz 1 Grundgesetz solche Erwägungen ausdrücklich ein und skizziert so, wie sich die sogenannte ‚Rettungs-‘ oder ‚Präventivfolter‘ im Zweifelsfall begründen ließe, eben indem der Würdeanspruch der bedrohten Gemeinschaft gegen die Würde des einzelnen Urhebers der Bedrohung aufgerechnet wird.
Nun kann in der interdisziplinären Forschung der Beitrag der Literaturwissenschaft nicht ausschließlich darin bestehen, den Juristen den Weg zurück zur Tradition und vielleicht über Kant noch zu Schiller und damit zur ästhetischen Bedeutung des Würdediskurses zu weisen. Nicht dass es da nichts zu holen gäbe, da liegt viel Grundsätzliches auch und gerade für die heutige Diskussion. Gesellschaftlicher Ertrag aber entsteht vor allem dann, wenn wir die rechts- und literaturwissenschaftliche Textkompetenz theoretisch versiert auf den Kommentar selbst richten, der vom Verfassungsrechtler Matthias Herdegen stammt. Dieser Kommentar nämlich ist als Text hochinteressant, konstelliert er doch über den Würdebegriff die Diskussion um die Zulässigkeit von Folter auf der einen und die über die embryonale Stammzellenforschung auf der anderen Seite. Auf beiden Schauplätzen ist eine Verschiebung zu verzeichnen vom Schutz der Menschenwürde als Schutzanspruch des Einzelnen hin zu kollektiven Schutzinteressen der Gemeinschaft oder aber – in der bioethischen Debatte – zum Schutz des Menschen als Gattungswesen. Gegner der Stammzellenforschung, denen es schwerfällt zu argumentieren, dass ein Embryo als solcher eine Würde besitzt, weichen auf die Denkfigur aus, dass seine Verwendung für medizinische Zwecke das Gattungswesen Mensch in seiner Würde verletze. Das Problem dieses Rückzugs auf das Allgemeinmenschliche liegt darin begründet, dass es den Würdeschutz als unveräußerliches Schutzrecht des einzelnen Individuums gegenüber den Ansprüchen der Allgemeinheit untergräbt. In dieser Hinsicht ist die Argumentation jener Tendenz in der Folterdiskussion verwandt, die die Würde des Einzelnen zugunsten von Gemeinschaftsinteressen aufrechnet.
„Diskurs“ der Folter heißt in solchen Zusammenhängen die Frage zu stellen: Worüber redet man, wenn man von Folter spricht? Wo von Folter die Rede ist, so lässt sich vorläufig sagen, da steht letztlich der Begriff des menschlichen Lebens selbst auf dem Spiel. Wenn im Namen der Würde tatsächlich nicht mehr die Freiheit des Einzelnen geschützt werden soll, ist das für die Juristen ein dramatischer Paradigmenwechsel. Kulturwissenschaftlich spannend daran ist die Tatsache, dass es die Methodik der Kulturwissenschaften ist, die zur Legitimation dessen in Anspruch genommen wird. Matthias Herdegen betont, der „kulturgeschichtlichen Entwicklung“ sei es eigen, jeden Begriff als historisierungsbedürftig erscheinen zu lassen. Und dieser Zugriff auf das Kerngeschäft der Kulturwissenschaften stärkt ihn in der Annahme, der kantische Begriff und mit ihm die kategorische Trennung von Würde und ökonomischem Kalkül müsse verabschiedet werden. Während juristisch und rechtspolitisch darüber viel diskutiert worden ist, steht eine Reaktion der Kulturwissenschaften auf diese Inanspruchnahme einer ihrer Grundlagen noch aus.
Wenn Soldaten nach dem Vorbild von Fernsehformaten Gewaltverhöre durchführen, dann greift die Vorstellung einer medialen Re-Präsentation von Gewalt ganz offensichtlich zu kurz.
Dieses Beispiel zeigt, was in der interdisziplinären Arbeit nicht übersehen werden darf. Das sind neben den fachlichen Unterschieden die institutionellen Unterschiede zwischen den Fächern. Zwischen Rechts- und Literaturwissenschaft besteht eine institutionelle Asymmetrie. Ihre Theorie- und Methodenentscheidungen haben unterschiedlich starke und unterschiedlich direkte Machtwirkungen. Das heißt für die Literaturwissenschaftler: In der Zusammenarbeit mit Juristen rücken sie dem Institutionencharakter der Norm ungewohnt nah. Perspektiven liegen vor allem in der Verbindung von Normativem und Prozeduralem. Die Philologien und die Kulturwissenschaften sind sehr aufmerksam für Darstellungsweisen. Im Verfahren liegt ein zentrales gemeinsames Interesse von Literatur und Recht, das sich im Hinblick auf den Einsatz von Gewalt ins Auge fassen lässt. Historisch hängt der Einsatz von Folter entscheidend davon ab, welcher Wahrheitsbegriff dem Beweisverfahren zugrunde gelegt wird. Aktuell hat die Wiederkehr der Folter nicht mehr mit Beweiserzwingung, sondern vor allem mit Informationserpressung zu tun. Das ist nicht ohne Einfluss auf das Verhältnis von juridischem und polizeilichem Denken.
Wer sich historisch und systematisch mit der Folter beschäftigt, der untersucht Gewalt als Grenzbegriff. Es ist davon auszugehen, dass die Abschaffung der Folter im 18. Jahrhundert die Gewalt nicht schlicht hat verschwinden lassen, sondern dass sie die körperliche Gewalt in den imaginären Bereich der Sprache eingelagert hat, indem gerade Vertreter der Rechtsaufklärung anstelle von Anweisungen zur Folter detaillierte Regeln für harte Verhöre formulierten. Dazu gehört auch, dass die Folter, etwa in Österreich und Preußen, keineswegs öffentlichkeitswirksam als Maßnahme zur Humanisierung des Strafrechts, sondern klammheimlich per Kabinettsorder beziehungsweise durch ‚geheime Instruction‘ abgeschafft wurde. Noch im Jahr des ihm nachgerühmten Folterverbots befahl der preußische König Friedrich II. in einem weiteren Edikt, das Verbot unter allen Umständen geheim zu halten. Von der Abschaffung der Folter sollte nicht nur nichts aus den Regierungszimmern in die Öffentlichkeit dringen. Den Gerichten wurde ausdrücklich das Recht eingeräumt, weiter mit der Folter zu drohen, um zu Geständnissen zu gelangen. Man durfte den Angeklagten in die Folterkammer bringen lassen, ihm die Instrumente zeigen und anlegen. Sogar dem Scharfrichter konnte er übergeben werden. Einzig der Übergang zur Tat, zur körperlichen Gewalt, blieb verboten. An die Stelle des Gewaltvollzugs rückte eine Drohkulisse, die durch das Unwissen der Delinquenten weiter wirkungsvoll sein konnte.
Vor diesem historischen Hintergrund müssen die Grauzonen untersucht werden zwischen physischer und imaginärer, ‚geistiger‘ Gewalt, für die sich im Sprachgebrauch der Zeit der Begriff der „Geistestortur“ eingebürgert hat. Als Quellengrundlage bieten sich die juristischen Fallsammlungen an, die sich im 18. und 19. großer Beliebtheit erfreuten. In den populären Darstellungen von Kriminalfällen war die Folter ein zentrales Thema, was sich exemplarisch an der berühmten Geschichte von Nickel List und seinen Gesellen zeigen lässt, einer Räubergeschichte, die Friedrich Schiller als Vorbild für seine Räuber diente. Sie wurde zunächst unter dem Titel Fürtreffliche Denck=Mahl Der Göttlichen Regierung 1799 von Pastor Sigismund Hosmann als Aktenbericht publiziert. Hosmann war als Gefängnisgeistlicher für die in Celle inhaftierten Räuber zuständig gewesen. Die Bande hatte vor allem durch den Raub der Goldenen Tafel aus der Kirche St. Michael in Lüneburg europaweit für Aufsehen gesorgt. Ihre Mitglieder wurden in verschiedenen deutschen Ländern festgenommen, nach Celle überstellt und dort fast ausnahmslos aufgrund erfolterter Geständnisse hingerichtet.
Eine Fallgeschichte: Nickel List und seine Gesellen (1700/1843)
1843 nahmen Eduard Hitzig und Wilhelm Häring (alias Willibald Alexis) den Fall Nickel List in ihren Neuen Pitaval auf. Sie folgen in ihrer Darstellung dem Aktenbericht Hosmanns, zu dem sie jedoch zugleich auf Distanz gehen, weil er die Folter nicht nur als selbstverständliches Mittel der Beweiserzwingung im Inquisitionsprozess hingenommen, sondern sogar „gegen einige Neuerungssüchtige“1 verteidigt hatte. Hosmann war in seinem Aktenbericht auf die Folterprotokolle angewiesen gewesen. Die Pitaval-Herausgeber nennen ihn einerseits ganz sachlich mit der korrekten juristischen Terminologie „unseren Berichterstatter“ oder „Referenten“.2 Und sie geben die Ermittlungs- und Prozessgeschichte wie auch die Beschreibung der einzelnen Bandenmitglieder ohne wesentliche Veränderungen wieder. Andererseits aber erscheint er den engagierten Rechtsreformern als Vertreter einer bereits kurios anmutenden Vormoderne. Friedrich Avé-Lallements vierbändiges Standardwerk Das deutsche Gaunerthum (1858), das erstmals den Versuch unternahm, die ‚Gaunerliteratur‘ nach Gattungen zu unterscheiden, nennt das Fürtreffliche Denck=Mahl Hosmanns unter der Rubrik ‚Relationen‘ an erster Stelle.3 Darunter verstanden die Juristen im Rahmen des Inquisitionsprozesses die Fallzusammenfassung, die ein Mitglied einer Spruchkammer für seine Kollegen zur Urteilsfindung zu verfassen und in der entscheidenden Sitzung zu referieren hatte. In den Relationen, deren zentraler Bestandteil die als „Geschichtserzählung“ bezeichnete Darstellung des jeweiligen Sachverhalts war, steckt historisch gesehen der erzählerische Kern des Strafrechts. Sie waren Vorbilder für die populären juristischen Fallsammlungen wie den Pitaval, die wiederum die Entwicklung der Kriminalliteratur entscheidend beeinflussten. Dass Hosmanns Schrift tatsächlich „als erstes Zeugnis für die erzählte Kriminalität“4 einzustufen ist, mag man angesichts der großen Zahl konkurrierender Quellen auf diesem Gebiet bezweifeln. Offensichtlich aber ist das Werk, das bis 1733 in sechs Auflagen erschien, ein Verkaufserfolg gewesen und hat die Geschichte von Nickel List und seinem spektakulärsten Raub entscheidend popularisiert. Prototypisch ist Hosmann für die Quellengattung ‚aktenmäßige Darstellung‘, weil sein Text die charakteristische Spannung zwischen tatsächlichem Aktenbericht und erzählerischer Ausgestaltung aufweist.
Geistliche Gewalt
Wenn es um den ‚Diskurs‘ der Folter geht, erschöpft sich das nicht in der Argumentation für oder gegen die Tortur, wenngleich die jeweils begründete Haltung im Verhältnis der Pitaval-Herausgeber zum Fürtrefflichen Denck=Mahl Hosmanns die zentrale historische Differenz markiert. Die Fragestellung ist weiter gespannt und lautet: Worüber wird gesprochen, wenn von der Folter die Rede ist? In unserem vorliegenden Fall war die Folter als Instrument zur Überführung der beschuldigten Räuber von kardinaler Bedeutung, Pastor Hosmann wirkte dabei direkt mit. Als der zuständige Gefängnisgeistliche veranstaltete er regelmäßige Betstunden, wobei er mit einem katholischen Kollegen um die christliche Reue der verhärteten Gemüter konkurrieren musste. Die „schwere Aufgabe“ des Predigers können noch Hitzig/Häring mit einigem Respekt nachempfinden: „in den unterirdischen Löchern stundenlang auszudauern, im Kampf mit ihrer Verstocktheit, Roheit, ihren gleich herzzerreißenden Flüchen und Jammerlauten“.5 Dieses Szenario bezieht sich aber wohl nicht auf eine der Betstunden, für welche die Inhaftierten oft gemeinsam zu dem Geistlichen gebracht wurden, eher auf einen seiner zahlreichen Besuche im Foltergewölbe, bei denen er der eigenen Darstellung nach keineswegs tröstlichen Beistand spendete, sondern den physischen durch psychischen Druck zu verstärken half, um Aussagen zu erpressen.
Ich ging also zu ihm / da ihm eben das Instrument wieder abgenommen war / und fand ihm mit gar kläglichen Geberden und angstlichen Winseln auff den Streu sitzen. So bald er mich erblickte / bath er um Trost. Ich verkündigte ihm an dessen Statt die Göttliche Gerichte / die er mit allergrößter Hartnäckigkeit gegen sich recht heraus forderte / da er die Dinge ableugnete / dero er durch soviel Zeugen und Merckmahle überwiesen wäre. Der HErr würde ihn noch härter straffen / wann er sein Hertz noch länger verstockte.6
Der Einsatz des Geistlichen ist dem juristischen Verfahren nicht äußerlich. Er ist vielmehr eine entscheidende Größe, wenn es darum geht, im Zusammenwirken von realer und imaginärer Gewalt einen Maximalwert zu erreichen. Das wiederum bedeutet nicht, dass er die Folter ohne Bedacht unterstützt und mitträgt. An der Stelle, da Hosmann in seinem Aktenbericht auf die erste ‚peinliche Befragung‘ zu sprechen kommt, die den Harburger Saalbesitzer Christian Schwanke betraf, der den Raub in Lüneburg unterstützt und mit durchgeführt hatte, unterbricht er die chronologische Darstellung für eine gelehrte Auseinandersetzung mit Jacob Schallers bereits 1657 erschienener Abhandlung Paradoxon der Folter, die in einem christlichen Staat nicht angewendet werden darf. Gut scholastisch wird jedes Argument des Straßburger Theologieprofessors einzeln widerlegt, wobei der Schwerpunkt auf dem Gedanken der Generalprävention und auf den beweisrechtlichen Problemen des weltlichen Inquisitionsprozesses liegt. Dem Eindruck, die Folter sei eine Maßnahme ohne „Proportion“, hält Hosmann entgegen, sie ziele auf eine „Warheit/ daran offt eines ganzen Landes Heyl und Wohlfarth hanget“, die nicht durch die halsstarrige Aussageweigerung eines Einzelnen gefährdet werden dürften.7 Er betont andererseits, dass der Einzelne nicht schutzlos sei, da die in Celle noch angewandte Gerichtsordnung Kaiser Karl V. von 1532 (Carolina) bestimmt habe, niemanden ohne hinreichende Verdachtsmomente zu foltern, und es bei Verstößen gegen diesen Grundsatz verboten sei, die entsprechenden Geständnisse zu verwenden. Das deckt sich mit dem etablierten Grundsatz des Inquisitionsprozesses, erst bei der Ermittlung eines ‚halben‘ Beweises von der General- zur Spezialinquisition überzugehen, die zum Einsatz der Folter berechtigte. Hosmann erwähnt die gleichermaßen durch das Alte Testament und die Carolina legitimierte Praxis, „auf zweener Zeugen Aussage das Urtheil des Todes“ zu fällen, und wendet ein, es könne sich immer um falsche Zeugen handeln. „Die Zeugen / die wider Christum aufstunden / waren solche.“8 Demgegenüber hält er die Folter für ein sichereres Wahrheitsmittel, das freilich „mit Vernunft“ im rechten Maß gebraucht werden müsse. Der Richter solle „mit aller Sorgfalt in seinen Schrancken bleibe[n]“.9
Rechtspolitische Diskussionen und populäre Darstellungen in einschlägigen Fernsehserien werden einander immer ähnlicher.
Erkennbar ist bei Hosmann das Bemühen, die Folter einzugrenzen und zu verrechtlichen, wozu insbesondere auch gehört, dass man „auf die blosse Folter kein Urtheil schreibet“10. Die Praxis der Hexenprozesse lehnt er vor diesem Hintergrund als unkontrolliert ab. Die Ausführungen des Pastors stehen im denkbar größten Gegensatz zur Verfahrensrealität in Celle. Die Carolina gab nur allgemeine Empfehlungen für die Prozesse, was insbesondere auch für die Folter galt, deren genaue Anwendung dem Ermessen des Richters überlassen blieb. In Celle führte der Ermittlungseifer der Behörden zu einem ungewöhnlich häufigen, jeweils schnellen und rücksichtslosen Gebrauch. Man versuchte, obwohl das nicht erlaubt war, auch Aussagen gegen Dritte oder über andere Delikte zu erzwingen. Maß und Schranken einzuhalten, darauf kam es dezidiert nicht an. Als der von der Folter in verschiedenen anderen Verfahren bereits abgehärtete Räuber Christian Müller sich beim Scharfrichter erkundigt: „wie viel Gradus er hier hätte“?, erhält er zur Antwort: „man kehrte sich hier an keine Gradus, sondern fragte einen so lange / biß er bekenne.“11
Physische und imaginäre Gewalt
Diesen aufschlussreichen Dialog übernehmen die Pitaval-Herausgeber fast wörtlich. Sie schreiben, Christian Müller habe „aus der Tortur ein förmliches Studium gemacht“12, und schildern, wie er durch den Vergleich der Prozeduren bei verschiedenen Gerichten eine Taktik entwickelt habe, die Folter zu überstehen. Müller verhöhnt insbesondere diejenigen Gerichte, bei denen „gemessene Zeiten“13 für den Gebrauch des jeweiligen Werkzeuges vorgesehen waren. Dadurch sei der Schmerz leichter zu ertragen. „Wenn man aber doch fühle, daß man es nicht aushalten werde, so brauche man nur anfangen zu bekennen. Man dürfe aber nicht mehr aussagen, als wofür man den Staupbesen bekomme. Der sei zu ertragen, und die Richter dankten am Ende Gott, daß sie den Menschen los würden und Arzneien und Kost sparten.“14
Müller war auf diese Weise schon von verschiedenen Verfahren losgekommen. Sein Hinweis auf die Kostenfrage ist nicht unerheblich, denn in der Tat bremste die Aussicht, die Gerichtskosten von vagierenden, sozial schlecht gestellten Delinquenten nicht wieder eintreiben zu können, nicht selten den Ermittlungseifer der Behörden.15 Die Folter überstanden zu haben, bedeutete zwar nicht zwangsläufig, dass man frei kam. Die dann oft vorgenommene ‚Landesverweisung‘ konnte aber gerade das mobile Banditentum wenig schrecken. Die gleichfalls angewandte Praxis, das Verfahren durch eine entsprechend geringere Verdachtsstrafe vorzeitig zu beenden, war wiederum problematisch, weil sie die Autorität des Inquisitionsprozesses untergraben musste.
In Celle verfährt Christian Müller nach seiner bewährten Methode und schaut, als man ihn torquiert, „rasch auf den Tisch nach der Uhr, um zu erfahren, ob die gesetzte Zeit für die scharfe Frage bald vorüber sei“16. Um die Gewaltwirkung der Kontrolle der Inquisiten zu entziehen, legten manche Gerichte eigens fest, die Uhr so zu platzieren, dass sie von ihnen nicht einzusehen war. Die Celler Verhörbeamten konnten das unterlassen, da sie die Folter ohne einsehbare Regeln für Zeit und Härte handhabten. Gegen den renitenten Räuber Müller half dies jedoch wenig. Man erpresste ihm am Ende ein Geständnis, das so unzusammenhängend und von Falschaussagen durchzogen war, dass es kaum verwertbar schien. Ähnlich erging es dem Gericht auch bei anderen Verhören. Jonas Meyer, einer der jüdischen Räuber in der Verbindung, von dem wir gleich noch mehr hören werden, gesteht ebenfalls nur „stückweise“17 und hält entscheidende Informationen zurück. Der einzige Beschuldigte von vornehmerer Herkunft, der Regimentsquartiermeister Peermann, widerruft seine unter dem sogenannten mecklenburgischen Instrument (Daumen- und Zehenstock) erzwungene Aussage im Anschluss mit dem Hinweis, er habe alles „nur aus Angst“18 bekannt. Nickel Lists engster Vertrauter schließlich, Andreas Schwartze, hält das mecklenburgische Instrument aus und bekennt nach langer Weigerung nur aus einer irrtümlichen Schreckensvorstellung heraus, weil er das Kaminfeuer im Folterkeller für die nächste Torturstufe hält.
Die spezielle Situation im Celler Prozess, in dem Delinquenten, die mit einer geregelten Anwendung der Folter vertraut waren, einem ungeregelten, archaischen Verfahren unterworfen wurden, lässt die Aporie der Beweiserzwingung in aller Deutlichkeit hervortreten. Wenn man formlos verfuhr und den Delinquenten keinerlei Rechte einräumte – etwa das in einigen partikularrechtlichen Kriminalordnungen garantierte Recht, gegen den Übergang zur Spezialinquisition mit Folter eine anwaltliche Verteidigung führen zu lassen –, war ein renitentes Verhalten für die Inquisiten die einzige Chance, einer Verurteilung zu entgehen. Umgekehrt galt, je mehr die körperliche Gewalt geregelt und verrechtlicht wurde, desto durchschaubarer und ineffizienter wurde ihre Anwendung.
Dieser Zusammenhang wird in der Fallgeschichte im Pitaval viel deutlicher als in den ausführlichen aktenmäßigen Einzelberichten Hosmanns, weil die Herausgeber beginnen, die verschiedenen Verhöre unter den Gesichtspunkten systematischer Gemeinsamkeiten darzustellen. In dem Maß, wie dabei die bis zur Torturresistenz reichende Widerständigkeit der Gefolterten als Grundproblem hervortritt, wird ein weiterer Aspekt erkennbar, der unmittelbar an die Aporie der Regulierung gebunden ist. Die erpresserische Wirkung der Folter beruht darauf, dass der Inquisit nicht weiß, wie lange er ihr ausgesetzt ist, was als nächstes mit ihm geschieht, wie weit man ultimativ gehen wird. Dieser notwendigen Ungewissheit muss die Regulierung, sofern sie nicht völlig verborgen werden kann, immer entgegenstehen. Daraus, dass die physische Gewalt der Folter eine Sache auch der sie potenzierenden Einbildungskraft ist, versuchte man umgekehrt im Verfahren Kapital zu schlagen. Hitzig/Häring sprechen von der „eigenthümliche[n] Beobachtung“, dass besonders hartnäckige „Bösewichter, die auswärts alle Grade der Tortur erduldet hatten“, in Celle zum Geständnis gedrängt werden konnten, „wenn ihnen die dort Torquirten vorgeführt wurden“.19 Der „Anblick der Folter selbst“ sei für sie „nicht so schreckhaft“ gewesen wie „die Confrontation mit andern Verbrechern, welche sie schon überstanden hatten“.20
Diese Praxis der Konfrontation kam häufig und intensiv zum Einsatz, wobei nicht in jedem Fall der Anblick anderer, sondern auch der bloße Hinweis oder die schiere Annahme, dieser oder jener habe unter der Folter gestanden oder könne gestehen, zur Einschüchterung genutzt wurde. Gegenüber der rein physischen Gewalt erwies sich die psychische Pression, der verbale Druck vor dem Hintergrund bedrohlicher Vorstellungen, als weit effektiver. Die Verhaftung Nickel Lists ließ das offenbar werden. Dieser hatte schon in Hof, wo er verhaftet worden war, nach dem ersten Grad der Tortur ein umfassendes Geständnis abgelegt. Während des schwer bewachten Transports nach Celle, so lesen wir bei Hosmann, „entsetzten“ sich die noch ungeständigen Mithäftlinge „alle bey seiner Erblickung“.21 Selbst Andreas Schwartze, sein engster Vertrauter, leugnet, ihn zu kennen, woraufhin List ihm entgegenhält: „Ach! Du guter Kerl / wie wol kennest du mich: Wann du aber auch erst die blauen Daumen (auf seine ausgestandene Tortur deutende / ) wirst bekommen haben / so wirst du mich auch wol kennen / und ganz anders reden.“22
Es scheint, als agiere das geständige Oberhaupt der Räuberverbindung nun seinerseits in der Sprechposition eines Inquirenten, der im verständnisvollsten Ton doch nichts anderes als Territion betreibt. Über seinen Körper droht er indirekt mit den Instrumenten. Das ist rechtshistorisch nicht uninteressant, bedeutete doch die „fortgeschrittene Humanität“23 die die aufgeklärten Pitaval-Herausgeber gegenüber dem Zeitalter Hosmanns in Anspruch nehmen, vor allem eine Transformation der physischen in verbale und imaginäre Gewalt. Unter dem Begriff der „Geistestortur“ gaben engagierte Reformjuristen wie Aloys Kleinschrod nach der Abschaffung der Folter den Untersuchungsrichtern „Klugheitsregeln“ an die Hand, die detailliert beschreiben, wie die nicht mehr statthafte physische Gewalt in den psychischen Druck des harten Verhörs zu übersetzen war. Sie ließen dabei keinen Zweifel daran, dass „hier einige Analogie mit der Tortur“24 vorlag. Dass in Preußen die Abschaffung der Folter per Edikt des Königs geheim gehalten wurde, um weiter wirkungsvoll mit den Instrumenten drohen zu können, gehört ebenso zu diesem Transformationsprozess, wie die Analogie, die Immanuel Kant in seiner Rechtslehre zwischen dem körperlichen Zwangsmittel der Folter und dem geistigen Aufrichtigkeitszwang des Eides herstellt. Kant, der sich ebenso gegen die Folter wie für die Territion aussprach, steht dem Rechtsinstitut des Eides eigentlich ablehnend gegenüber, weil „im bürgerlichen Zustande ein Zwang zu Eidesleistungen der unverlierbaren menschlichen Freiheit zuwider ist“25. Er hält ihn jedoch für ein unentbehrliches „Notmittel“ der Rechtsverwaltung, weil andernfalls die Gerichtshöfe nicht ausreichend im Stande wären, geheim gehaltene Fakten zu ermitteln und Recht zu sprechen. Den Gerichten wird deshalb zugestanden, „diesen Geisteszwang (tortura spiritualis) […] zu gebrauchen“.
Folter und Fluch
Die Quellen belegen, dass die ‚Geistesfolter‘ keine supplementäre Errungenschaft der Aufklärung ist, sondern als integraler Bestandteil bereits zur gewaltsamen Beweiserzwingung im Inquisitionsprozess seit der Frühen Neuzeit gehörte. Geistliche wie Pastor Hosmann waren, wie wir sahen, als „zusätzlicher Gewaltfaktor“26 im Untersuchungsverfahren präsent. Ihre Aufgabe war es, mit der Aussicht auf das göttliche Strafgericht die weltliche Inquisition zu beschleunigen, indem sie die Beschuldigten zu einem kooperativen Verhalten bewegten. Das hatte einen praktischen und zugleich heilsökonomischen Sinn, sollten doch die Qualen der Folter wie die der in Abhängigkeit von Deliktschwere und Kooperationsbereitschaft verschärften Hinrichtungen nicht schlicht den Delinquenten, sondern der Vorstellung der frühneuzeitlichen Justiz nach Sünder treffen, die die gottgewollte Ordnung verletzt hatten. Einzig wenn sie die Schmerzen als gerechte Strafe akzeptierten und Buße taten, konnten sie sich als ‚arme Sünder‘ samt ihres Seelenheils vor noch schrecklicheren, apokalyptischen Szenarien in der Ewigkeit bewahren.27 Von der Bekehrung hing nicht nur das Schicksal des Einzelnen, sondern der Erfolg des ganzen Verfahrens ab, denn es galt, die Wandlung des Verbrechers zum reuigen Sünder bei der Hinrichtung öffentlich zu demonstrieren. Ein großes Publikum war nicht nur erwünscht, sondern zwingend notwendig, um das Heilsversprechen und mit ihm die Entstörung der Ordnung allgemein werden zu lassen. Schon die Carolina legt deshalb auf die Dramaturgie des „entlich rechttag“ großen Wert und entwirft ein theatralisches Dialogspiel zwischen Richter, Angeklagtem und Schöffen mit dem symbolischen Stabbrechen als Höhepunkt vor der Vollstreckung des zuvor zu verlesenden Urteils. Im letzten Augenblick des Verfahrens musste sich zeigen, ob der Bekehrungsaufwand des Geistlichen sich tatsächlich ausgezahlt hatte, denn sehr viel hing naturgemäß davon ab, dass der zu Richtende dem Schauspiel gerecht wurde und nicht aus der Rolle fiel.
Legendär geworden ist der für Nickel List und seine Gesellen zuständige Pastor, weil sein aktenkundig enormer Bekehrungseifer zwar zum überwiegenden Teil erfolgreich war, in einem Fall aber bei der Hinrichtung in die Katastrophe führte. Nickel List selbst verhielt sich, nachdem er einmal gestanden hatte, ganz vorbildhaft. Er widerrief nichts, gab umfassend Auskunft und half Hosmann sogar in den Betstunden dabei, einem jüdischen Mitgefangenen „in Fassung des christlichen Glaubens beyräthig [zu] sein“28. Die Pitaval-Herausgeber liegen also sicherlich nicht falsch, wenn sie schreiben, aus einem „vollkommene[n] Verbrecher“ sei „ein vollkommener Reuiger“ geworden.29 Nachdem er in Hof dazu verurteilt worden war, zur Richtstätte geschliffen und lebendig verbrannt zu werden, erkannte das Celler Gericht sein dort ohne Tortur abgelegtes Geständnis als strafmildernd an und änderte das Urteil in Zerschmetterung des Leibes, wobei anstelle des grausameren Rades eiserne Keulen als Mittel bestimmt und verfügt wurde, nach dem Tod den Kopf auf einen Pfahl zu stecken und den Leichnam zu verbrennen. Auf dem Schafott, so heißt es, legte List „zur Rührung aller Zuschauer“ die Beichte ab, und als ihm bereits „beide Beine und Arme zerschmettert waren, rief er noch den Namen Jesu an“.30 Ähnlich benahm sich sein Vertrauter Andreas Schwartze, der unter dem Schafott „aus eigenem Triebe“ eine Rede an die Zuschauer hielt und sie aufforderte, „der Sünde zu widerstehen, Gott vor Augen zu haben und für sein seliges Ende zu beten“.31
Die Richter sahen sich um den Zuschauererfolg betrogen und strengten daher gegen den Körper des unversöhnlich Gestorbenen einen Prozess wegen Gotteslästerung an.
Ganz anders stirbt Jonas Meyer. Von der Konfrontation mit bereits geständigen Häftlingen hatte er sich im Unterschied zu den meisten Gefangenen unbeeindruckt gezeigt. In der „unterirdische[n] Werckstädt der Warheit“ wurde er zum Sprechen gebracht, wobei man, wie Hosmann schreibt, die peinliche Frage „christlich“ sein ließ: „Man dehnete ihm aber nicht die Glieder aus / man riß die Fugen des Leibes nicht aus den Gelencke / man rührte ihm nicht mit glüenden Schweffel / man zwang den Rücken nicht auff spitzige Hölzer und Eysen. […] Man ließ ihn nur die Bein-Stöcke recht fühlen / damit waren aus dieser harten Trauben verschiedene Tröpflein der Wahrheit heraus gepresset.“32 Die christlich moderierte Gewalt erbringt zwar für das Gerichtsverfahren ein Geständnis, um eine Bekehrung des jüdischen Räubers bemüht sich Hosmann aber vergeblich. Mit besonderem Eifer und in besonderer Konkurrenz zu seinem katholischen Kollegen war der Prediger darauf bedacht, gefangene Juden vom Christentum zu überzeugen. Von diesem Bemühen zeugt nicht nur der Aktenbericht im Fürtrefflichen Denk=Mahl sondern auch eine fast gleichzeitig erschienene Schrift unter dem Titel Das schwer zu bekehrende Juden-Hertz (1701), die den Fall Jonas Meyer in den Mittelpunkt stellt. Hosmann schildert ausführlich, wie er sich „auf Befehl unserer Obrigkeit“ an der Bekehrung Meyers versucht habe und legt die exegetischen Grundlagen dar. „Wir haben aus dem Gesetz Mosis / den Propheten / und den Psalmen bewiesen / und mit Paulo bewähret / daß Jesus sey der Christ. Allein es hat unsere Predigt keine andere Wirckung an diesem Juden gehabt / als des Apostels seine an die Juden / die zu Corintho wohneten.“33
Die Identifizierung der eigenen Rede mit Paulus ist das Leitmotiv der Schrift, aus der hervorgeht, dass Jonas Meyer sich anders verhielt als die anderen jüdischen Mitglieder der Bande. Während sich der Darstellung Hosmanns zufolge viele von ihnen kalkuliert auf die Bekehrung einließen, um sie im Angesicht der Todesstrafe leichthin zu widerrufen, blieb Meyer aus Überzeugung seinem Glauben treu. Diese Haltung stachelte den Geistlichen offenbar besonders an, sodass er noch auf dem Weg zur Hinrichtung, ja unter dem Galgen versuchte, ihn umzustimmen. Seinem inständigen Drängen – „,gläubet doch an den Messiam / der Euren Vätern verheißen ist‘“34 – hält Meyer entgegen, er wisse, worauf er hinauswolle, habe damit aber nichts zu schaffen, sondern glaube an Gott. Während er zum Hängen aufgezogen wird, ruft er „überlaut“ aus, dass er als Jude lebe und sterbe. Dem Zugriff des Predigers für einen letzten Augenblick entzogen, repliziert er dessen religiösen Andrang mit einem offensiven Gegenwort: „,Verflucht seien alle Die, in deren Herzen eine Ader ist, die an Jesum gläubet. ‘“35 Hosmann kommentiert daraufhin:
Viel Tausend haben dieses grausame Fluchen mit höchster Bestürzung angehöret. Wir alle waren darob fast entstellet / und derogestalt erschrocken / daß uns die Zunge anklebete / und wir kaum mit bebender Stimme ihm nachruffen konten: Der HERR schelte dich Satan / der uns kein Israel erwehlet hat!36
Dieses Ereignis, „das durch alle christliche Länder mit Entsetzen wieder erzählt wurde“ und der rückblickenden Einschätzung Hitzig/Härings nach zu neuen Pogromen Anlass gegeben hätte, „wenn nicht das achtzehnte Jahrhundert an der Schwelle gestanden“,37 rief seinerzeit zwei Reaktionen hervor. Die Richter sahen sich um den Zuschauererfolg, den der bußfertige Tod der anderen Räuber erreicht hatte, betrogen und strengten daher gegen den Körper des unversöhnlich Gestorbenen einen Prozess wegen Gotteslästerung an. Es wurde geurteilt, ihm die Zunge herauszuschneiden und öffentlich zu verbrennen und den Körper alsdann zur Gerichtsstätte zu schleifen und dort an den Füßen neben einem Hund aufzuhängen. Dieses in den Worten der Pitaval-Herausgeber „merkwürdige Urtheil“38 wurde dem Toten förmlich vorgelesen und dann vollstreckt.
Das geschah, wie man sich denken kann, zur großen Befriedigung des Pastors Hosmann, in dessen schriftliche Schilderung sich das Urteil in verschiedener Gestalt eingeschrieben zu haben scheint. Die sinnbildliche Vergeltungsstrafe für die Gotteslästerung findet in der körperlichen Reaktion der entsetzten Zuschauer, die ihre Zunge kaum gebrauchen können, gleichsam ihre Rechtfertigung. Die Beantwortung des Fluchs mit einem Gegenfluch folgt einem analogen Vergeltungsprinzip. Die Predigt zur Judenbekehrung, die Hosmann anlässlich des exemplarisch gewürdigten Falles Jonas Meyer hält, setzt das ‚Fluch-Duell‘ fort, indem sie ihre Sprechkraft zugleich theologisch ableitet und performativ reproduziert. Dazu dienen die Paulus-Identifikation und der zur Zeit der Hinrichtung vorgesehene Predigttext. Es handelt sich um eine Predigt zur Passionsgeschichte, die den Verrat des Petrus zum Gegenstand hat. Hosmann identifiziert seine erfolglosen Bekehrungsversuche mit den Erlebnissen des Apostels in Korinth, wo die Juden ihm „widerstrebten und lästerten“, weshalb er zu ihnen spricht: „Euer Blut komme über euer Haupt“.39 Hosmann zitiert diese Szene aus der Apostelgeschichte und bezieht sie direkt auf Jonas Meyer: „Deyn Blut sey über dein Haupt!“40 Darauf folgt wiederum in direktem Anschluss eine ausführliche Evangelien-Auslegung, die Petrus’ Verrat als dreistufige Eskalation analysiert: Während Petrus Jesus von Nazareth gegenüber der ersten Magd zunächst nur verleugnet, leugnet und schwört er dann gegenüber der zweiten, ihn nicht zu kennen, um schließlich, als seine Sprache ihn verrät, diesen Schwur zu bekräftigen, indem er sich selbst verflucht.41 Mit diesem Fluch, so erklärt Hosmann, habe Petrus einen „Bann“ über sich selbst gesprochen und seinen Ausschluss aus der Gemeinde vollzogen. „Einen solchen Bann und Ausschließung von der Gemeine hielten die Juden vor einen wahrhafften Fluch / dahero sie ein solchen Verbanneten nicht anders / als für ein Kind des Satans achteten; wie denn hernach in der ersten Christlichen Kirchen solche Verbanneten würcklich dem Satan zur Verderbung des Fleisches übergeben worden.“42
Das Verhältnis von Rhetorik und Exegese in Hosmanns Predigt ist ambivalent. Einerseits verteidigt er sich gegen den Vorwurf, erst sein Bekehrungsdrang habe Jonas Meyer zum Fluch getrieben, indem er sich offen für die Sprachgewalt ausspricht. Sollten seine „Predigten vom Namen JEsu diesem Ungläubigen eine Folter gewesen sein“, so hätten sie doch immerhin dazu gedient, „vor den Ohren der Welt das Bekäntniß heraus zu pressen, was ein rechter Jude von Christo und seinen Gläubigen hält“.43 Auf dieser Linie liegt auch seine Teilnahme am Fluch-Duell mit dem Gegenüber. Andererseits aber identifizieren seine Ausführungen in Eid und Fluch fatale Sprachen, vor deren Sprechkraft man sich in Acht nehmen soll.44 Dazu gehört die Berufung auf das Schwurverbot zugunsten der einfachen Rede „Ja, ja; nein, nein“45. Hosmanns Auslegung der Verratsszene bedient mit dem Hinweis, damals (Petrus) wie heute (Jonas Meyer) sei „solch falsches und liederliches schweren unter den Juden eingerissen“46, ein antisemitisches Stereotyp, das noch in der aufgeklärten Diskussion um den ‚Judeneid‘ spürbar ist.47 Und doch gelingt es ihm nicht, sein eigenes Sprechen von der Exzentrik der fatalen Sprachen freizuhalten. Eid und Fluch offenbaren einerseits einen im Grunde dinghaften, magischen Sprachgebrauch, den Kants erwähnte Kritik am Schwören bei Gericht als „blinden Aberglauben“ bezeichnet und mit dem „Eid der Guineaschwarzen bei ihrem Fetisch“ vergleicht.48 Andererseits kann die imaginäre Forcierung der Gewalt in der Sprache nicht anders als metaphorisch erfolgen. Die Sprache der Gewalt greift – wie die ‚Geistestortur‘ über den Körper – über sich hinaus. Fluch und Eid sind Sprache über Sprache, notwendig uneigentlich, und stehen derart im Widerspruch zum Grundsatz der religiösen Einfalt, den die Bergpredigt formuliert, wenn sie das Schwören zugunsten von „Ja, ja“ und „Nein, nein“ mit dem Hinweis verbietet: „Was darüber ist, das ist von Übel.“
1 Eduard Hitzig, Wilhelm Häring: Nickel List und seine Gesellen. In: Dies. (Hg.): Der neue Pitaval. Eine Sammlung der interessantesten Criminalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit. Dritter Theil. Leipzig 1843, S. 275. Ich zitiere den Text im Folgenden als Hitzig/Häring.
2 Ebd., S. 353, 375.
3 Vgl. Friedrich Christian Benedict Avé-Lallement: Das Deutsche Gaunerthum in seiner social-politischen, literarischen und linguistischen Ausbildung zu seinem heutigen Bestande. Erster Theil. Leipzig 1858, S. 221.
4 Ernst Schubert: Der berühmteste Kirchenraub der deutschen Kriminalgeschichte. Der Raub der Lüneburger Goldenen Tafel 1698. In: Sabine Arend u.a. (Hg.): Vielfalt und Aktualität des Mittelalters. Festschrift für Wolfgang Petke zum 65. Geburtstag. Bielefeld 2006, S. 462
5 Hitzig/Häring, S. 355.
6 Sigismund Hosmann: Fürtreffliches Denck-Mahl Der Göttlichen Regierung. Leipzig/Zelle 51718. 2. Teil, S. 71.
7 Ebd., 1. Teil, S. 66.
8 Hosmann: Fürtreffliches Denck=Mahl, 1. Teil, S. 65.
9 Ebd., S. 67.
10 Ebd., S. 68.
11 Ebd., 2. Teil, S. 85.
12 Hitzig/Häring, S. 360.
13 Ebd.
14 Ebd.
15 Vgl. Uwe Danker: Räuberbanden im Alten Reich um 1700. Ein Beitrag zur Geschichte von Herrschaft und Kriminalität in der Frühen Neuzeit. Frankfurt Main 1988, S. 70.
16 Hitzig/Häring, S. 360.
17 Ebd., S. 362.
18 Ebd.
19 Ebd., S. 376.
20 Ebd.
21 Hosmann: Fürtreffliches Denck-Mahl, 1. Teil, S. 139.
22 Ebd.
23 Hitzig/Häring, S. 300.
24 Gallus Alloys Kleinschrod: Ueber die Rechte, Pflichten und Klugheitsregeln des Richters bey peinlichen Verhören und der Erforschung der Wahrheit in peinlichen Fällen. In: Archiv des Criminalrechts. Hg. von Ernst Ferdinand Klein und Gallus Alloys Kleinschrod. Bd. 1. Halle 1799. Zweites Stück, S. 79.
25 Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. In: Ders.: Werkausgabe. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 8. Frankfurt/Main 1977,
S. 421.
26 Danker, S. 158.
27 Vgl. Jürgen Martschukat: Inszeniertes Töten. Eine Geschichte der Todesstrafe vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Köln u.a. 2000, S. 15.
28 Sigismund Hosmann: Das schwer zu bekehrende Juden-Hertz. Helmstädt 1701, S. 377.
29 Hitzig/Häring, S. 324.
30 Ebd., S. 380.
31 Ebd., S. 370.
32 Hosmann: Fürtreffliches Denck=Mahl, Teil 1, S. 65.
33 Hosmann: Juden-Hertz, S. 14.
34 Ebd., S. 18.
35 Ebd.
36 Ebd., S. 19.
37 Hitzig/Häring, S. 373.
38 Ebd.
39 Apostelgeschichte 18, 6.
40 Hosmann: Juden-Hertz, S. 20.
41 Matthäus 26, 70-74.
42 Hosmann: Juden-Hertz, S. 33.
43 Ebd., S. 24.
44 Mit der Rede von ‚Sprechkraft‘ und ‚fatalen Sprachen‘ beziehe ich mich auf: Peter Friedrich, Manfred Schneider: Einleitung. „Sprechkrafttheorien“ oder Eid und Fluch zwischen Recht, Sprachwissenschaft, Literatur und Philosophie. In: Dies.: (Hg.): Fatale Sprachen, S. 7-19.
45 Matthäus 5, 37. Vgl. Hosmann: Juden-Hertz, S. 31.
46 Hosmann: Juden-Hertz, S. 31.
47 Vgl. Marcus Twellmann: Von der Beratung zur Kritik der Regierung. Moses Mendelssohn über Eide. In: Modern Language Notes 122.3 (2007), S. 493–521.
48 Kant: Metaphysik der Sitten, S. 420.