Das Salz ist immer und überall. Unscheinbar oft, aber stets unersetzlich und schon allein deshalb ein dankbarer Stoff für eine Kulturgeschichte, wie sie der Schweizer Literaturwissenschafter Thomas Strässle (unverkennbar: ein Schüler von Peter von Matt) jetzt vorlegt. Schon in der Odyssee kommt das Salz an entscheidenden Stellen vor. Der Seher Tereisias prophezeit dem Odysseus einen friedlichen Tod auf dem Festland, sagt aber gleich dazu, dass dem Helden der Meere nach seiner Heimkehr eine weitere, viel schwierigere Reise bevorsteht. Eine Fahrt zu Menschen, die das Salz nicht kennen, wobei diese letzte Reise dann aber (wohl aus Überlieferungsgründen) in der Odyssee nicht mehr geschildert wird. Mit dem Salz sollte Odysseus den Salzlosen offensichtlich auch die Erzählung bringen: den Bericht über seine Fahrten, der damit zu einem Äquivalent des Salzes wird.
Mythen der Salzlosigkeit
Dieses Salz, das aus dem Meer kommt, sich aber freilich auch (und das wusste schon die Antike) in anderen Lagerstätten findet, ist ein ganz besonderer Stoff, denn er markiert die Grenzen der Welt und gleichzeitig die ihrer Erzählbarkeit. Weil sie selbst Erzählungen sind, schmecken die Mythen der Salzlosigkeit, von denen Strässle ausführlich berichtet, selbst salzig. Die, die ohne sind, werden von denen geschieden, die das Salz essen und im Salz miteinander verbunden sind. Die christlich-katholische Tradition stellt diesen Salzbund in ihr Zentrum, unzählige Stellen der Heiligen Schrift verweisen auf den Zusammenhang: Die, die ohne Salz sind oder das Salz gar hartnäckig verweigern, werden von denen geschieden, die das Salz haben und im Salz beisammen sind. Ohne Salz zu sein, bzw. auch nur versehentlich ein Salzfass umzustoßen und das Salz zu verschütten (wie es Judas auf Leonardo da Vincis Abendmahl-Gemälde tut), bedeutet, ausgeschlossen zu sein und das Zeichen des Teufels zu tragen.
Auch die Tatsache, dass das Salz ubiqitär ist, und dass die, die es ablehnen, sich immer in der Minderzahl befinden, machte sich das Christentum in der symbolischen Verwendung des Stoffes zu nutze. In der Bergpredigt spricht Jesus zu seinen Jüngern: „Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als dass man es wegschüttet und von den Leuten zertreten lässt.“ Dass das Salz nicht mehr salzt, ist – rein chemisch gesehen – unmöglich, denn das Salz raucht nicht aus, sondern behält stabil seine Eigenschaften über noch so lange Lagerungszeiträume. Das Salz ist elementar aber auch noch in einem anderen Sinn, denn es ist durch keinen anderen Stoff zu ersetzen. Auch sein Geschmack ist einzigartig. Über letzteres hat sich Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes Gedanken gemacht. In Anbetracht von Salzkörner auf seinem Tisch stellt er sich Grundfragen über die menschliche Wahrnehmung: Wie, so fragt er sich dabei, ist der Geschmack des Salzes zu beschreiben. Ist es scharf? Nein, dieses Wort stimmt nicht. Es ist einfach nur salzig, genauso wie der Zucker süß, die Zitrone sauer und der Wermut bitter ist. Ein elementarer Stoff also, der mit nichts zu vergleichen und dessen Geschmack nur mit sich selbst zu beschreiben ist: Das Salz schmeckt salzig.
Fünftes Element
Schon den Alchemisten des Mittelalters galt das Salz als eigenes Element. In ihren Schriften unternahmen sie zahlreiche Versuche, es als ein fünftes (also als Quintessenz) den vier Elementen an die Seite zu stellen. Salz verkörperte eine prima materia, aus der alles andere hervorging, und einen Stoff der letzten Dinge zugleich, denn es wurde nicht allein als lebensbegründende Substanz angesehen, sondern auch in seiner konservierenden Wirkung betrachtet. Dass, „im Salz, vom Salz und aus dem Salz Anfang, Mittel und Ende aller deiner philosophischen Arbeiten [sei]“, gehört zu den ältesten Lehrmeinungen der Alchemie. Im Geheimnis des Salzes verbirgt sich das Geheimnis der Welt. Auch davon spricht das „Rosarium philosophorum“: „Wer das Salz und seine Lösung kennt, der kennt das verborgene Geheimnis der alten Weisen. Richte daher deinen Sinn auf das Salz und beschäftigte dich nicht mit anderen Dingen. Denn darin verbirgt sich das Wissen, das außerordentliche Arkanum und das allergrößte Geheimnis aller alten Philosophen.“
Während Strässle in seinem Buch zunächst der verästelten und dabei stets europäischen Kulturgeschichte des Salzes nachgeht (wobei ihn insbesondere die Stellung des Stoffes innerhalb der menschlichen Vorstellungskraft interessiert), wird sein Buch erst im hinteren Teil zu dem, was der Titel verspricht. Indes handelt es sich auch in diesen Passagen um eine „Literaturgeschichte“ nur in einem eingeschränkten Sinn, denn anhand eher begrenzter und manchmal recht gedehnter Beispiele legt der Autor hier literarische Verwendungsweisen des Stoffes offen: von Grimmelshausens Simplicissimus, wo das Salz ein Bild der Folter und gleichzeitig eines der Gnade ist, über Märchen der Gebrüder Grimm (Prinzessin Mäusehaut), in denen die Ambivalenzen des Stoffes (nicht wertvoll, aber unentbehrlich) in anderer Weise aufscheinen, bis hin zu Friedrich Dürrenmatt („groteskes Salz“), Nelly Sachs, Paul Celan (Salztränen) oder Durs Grünbein.
Anhand der gewählten literarischen Beispiele, die sich freilich um vieles erweitern ließen, macht Strässle eines sehr deutlich: Den Einfluss, den das Salz, ausgehend vom realen Stoff, auf Rhetorik und Poetik nicht nur literarischer Texte gewinnt. In diese Richtung wies der ursprünglichen Titel der Untersuchung, die an der Universität Zürich als Habilitation angenommen wurde: „Salz. Poetiken eines Stoffes“. Genau das ist es; man hätte den Titel des gut lesbaren Buches so lassen sollen.