Ende Januar 1962 hielt Peter Szondi, mit der Vertretung einer Professur in Heidelberg betraut, im Rahmen der Berliner Universitätstage „einen recht schwierigen Vortrag“, wie er am 17. Januar 1962 Theodor W. Adorno schreibt. Der Aufsatz „Zur Erkenntnisproblematik in der Literaturwissenschaft“ erschien bald darauf in der Neuen Rundschau (73, 1962, Heft 1, Seite 146-165) und wurde einige Jahre später unter dem Titel „Über philologische Erkenntnis“ den Hölderlin-Studien vorangestellt. Szondi schreibt im Januar 1962 während der Arbeit an seinem Aufsatz an Adorno: „Ich versuche, die gängigen Methoden philologischer Beweisführung sowie den Begriff des philologischen Wissens von ihren inneren Widersprüchen her zu sprengen, und komme zu einem Begriff der Erkenntnis, der Ihren Ausführungen (etwa in den ‚Voraussetzungen‘) viel verdankt.“ Das „recht Schwierige“ liegt in der Verbindung von Theorie und Praxis, Grundsätzlichem und Partikularem, in der Spannung von Reflexion und ihrer Anwendung. Der Text birgt im Blick auf die damaligen deutschen Universitäten und Philologien mehr Sprengstoff, als er nach außen treten lässt. Was freilich damals explosiv erscheinen konnte, ist heute Allgemeingut. Man muss den Abstand eines halben Jahrhunderts mit bedenken, wenn man heute Szondis Traktat liest.
Der 31-jährige Privatdozent hat im Januar 1962 ein schwieriges, auch umstrittenes Habilitationsverfahren an der Freien Universität gerade hinter sich und hält nun einen Vortrag, der mit der gängigen literaturwissenschaftlichen Praxis seiner Zeit streng ins Gericht geht. Er sucht aus grundsätzlichen Erwägungen die Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Praxis seiner Zeit und markiert darin einen Standard an Reflexion und Selbstvergewisserung, der ihm zu fehlen scheint. Zugleich ist dieser Vortrag aber auch die Selbstdeklaration eines jungen Philologen, der sein Forschungsfeld, die Stationen und Paradigmen der nachfolgenden zehn Jahre vermisst, die ihm noch bleiben werden. So birgt dieser eine Text, wie kein zweiter in Szondis Werk, ein historisches Fazit, Gegenwartsanalyse und einen Ausblick, der heute wiederum historisch geworden ist. Auch der Ort des Vortrags hat eine eigene historisch gewordene Bedeutung: 1965 wird Peter Szondi an die Freie Universität in West-Berlin berufen.
Es geht in dem grundsätzlichen Referat um die Erkenntnisweise der Literaturwissenschaft, genauer: um das Objekt und den Modus der Erkenntnis. Szondi zitiert am Beginn einen Satz aus Schleiermachers Kurzer Darstellung des theologischen Studiums: „Das vollkommene Verstehen einer Rede oder Schrift ist eine Kunstleistung und erheischt eine Kunstleistung oder Technik, welche wir durch den Ausdruck Hermeneutik bezeichnen“ und zeigt, wie sehr die Philologien sich den Erfordernissen einer umfassenden Hermeneutik verweigern. Philologische Erkenntnis bezieht sich für sie auf das bloße Textverständnis, nicht auf den Ideengehalt und die Struktur des Kunstwerks oder dessen Stellung im geschichtlichen Zusammenhang. In keinem der germanistischen Lehrbücher wird der Student Anfang der 1960er-Jahre mit den prinzipiellen Fragen des Textverständnisses vertraut gemacht; prinzipielle Fragen der Hermeneutik bleiben ausgeblendet. Acht Jahre später wird Peter Szondi auf einem interdisziplinären Kolloquium zur Hermeneutik in Zürich äußern, der Literaturwissenschaftler säße als armer Verwandter neben dem Theologen und Juristen am Tisch. Dass es eine theoretische Hermeneutik im germanistischen Bereich nicht gibt, könnte mit ihrem reflexiven Wesen zusammenhängen. In der Hermeneutik fragt die Wissenschaft nicht nach ihrem Gegenstand, sondern nach sich selber, danach, wie sie zur Erkenntnis ihres Gegenstands gelangt. Die prinzipiellen Fragen der Hermeneutik kehren an allen Schlüsselstellen von Szondis früherem Vortrag wieder; 1970 skizziert er sie auf wenigen Seiten bescheiden als Bemerkungen zur Forschungslage der literarischen Hermeneutik: „Die Konzeption der historischen Erkenntnis als einen durch den historischen Standort des Erkennenden mitbedingten stellt die literarische Hermeneutik vor die Aufgabe, Kriterien zu gewinnen, welche sie davor bewahrt, aus der als Selbsttäuschung erkannten Objektivität historischer Einfühlung in die Willkür aktualisierender Subjektivität zu geraten.“ (Einführung in die literarische Hermeneutik, 405f.)
Der Text birgt im Blick auf die damaligen deutschen Universitäten und Philologien mehr Sprengstoff, als er nach außen treten lässt.
Zwei Kristallisationspunkte hebt Szondi dabei hervor: zum einen die grammatische Interpretation in der Nachfolge von Schleiermachers Hermeneutik, eine Sprach- und Formanalyse, die bis dahin in Szondis Augen zugunsten der psychologischen Analyse, der Analyse des eigentlichen Gemeinten gegenüber dem Gemachten vernachlässigt wurde. Wenige Jahre zuvor, 1959, war Schleiermachers Hermeneutik in einer kritischen Edition von Heinz Kimmerle erschienen, angeregt von Hans-Georg Gadamer, dessen grundlegendes Werk Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik 1960 herauskam. Als Szondi seinen Vortrag hielt, waren zumindest in der Philosophie entscheidende Weichen für die Neuformulierung der Hermeneutik gestellt.
Neben dem Primat der Analyse der literarischen Form, des Produziertseins aufseiten des Objekts führt Szondi den Grundsatz von der Historizität der Erkenntnis aufseiten des Subjekts ein und greift dabei auf Walter Benjamins „geschichtsphilosophische Thesen“ zurück. Es solle „eine bestimmte Epoche aus dem homogenen Verlauf der Geschichte herausgesprengt werden, wie auch ein bestimmtes Werk aus dem Lebenswerk“. Der Ertrag dieses Verfahrens bestehe darin, dass „im Werk das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche der gesamte Geschichtsverlauf aufbewahrt ist und aufgehoben.“ (Einführung in die literarische Hermeneutik, 407)
Was Szondi 1970 als programmatische Pfeiler einer literarischen Hermeneutik auf den Begriff bringt, die Seite des Objekts wie die des Subjekts, ist schon acht Jahre zuvor in seinem Traktat „Über philologische Erkenntnis“ angelegt und wird Mitte der sechziger Jahre in einer großen Vorlesung zur „Einführung in die literarische Hermeneutik“ münden.
Anhand von einigen Zitaten aus Peter Szondis Traktat möchte ich versuchen, dessen Grundzüge darzustellen.
1.
„Die gelehrte Beschäftigung mit Werken der Literatur heißt auf englisch ‚literary criticism‘, sie ist keine ‚science‘. Ähnlich verhält es sich im Französischen.“ (264)
Scheinbar lapidar verweist Szondi auf einen Bedeutungsunterschied und führt dabei die grundlegende Tätigkeit der Komparatistik ein, den Vergleich. Seine Neubewertung philologischer Erkenntnis führt wenige Jahre später zur Begründung eines Faches, „Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft“, das es bis dahin in Deutschland nicht gab. Die Komparatistik sollte nicht allein unterschiedliche Nationalphilologien einschließen, sondern zugleich die Reflexion auf das Vergleichbare und die Methodik des Vergleichens. Das Komparative kehrt in Szondis Traktat immer wieder, wie er schon in seinen ersten Büchern, der Theorie des modernen Dramas von 1956 und dem Versuch über das Tragische von 1961, seiner germanistischen Dissertation wie seiner Habilitationsschrift, ganz selbstverständlich die französische, englische, italienische, skandinavische Literaturen und andere einbezieht.
Der Begriff der Wissenschaft, den die deutsche Literaturwissenschaft so emphatisch pflegte, betont das Moment des Wissens und lässt einen positivistischen Grundzug hervortreten: „Seit Dilthey braucht der prinzipielle Unterschied zwischen Naturwissenschaft, der des 19. Jahrhunderts, und Geisteswissenschaft nicht mehr erörtert zu werden, wenngleich die Literaturwissenschaft noch nicht all ihren seinerzeit den Naturwissenschaften entlehnten und den eigenen Gegenstand unangemessenen Kriterien entsagt haben dürfte.“ (264) Demgegenüber deutet Szondi das philologische Wissen, Stellenkommentar, Archivfund und einzelne Deutung, als „perpetuierte Erkenntnis“. Die Beschreibung eines literarischen Textes wird nie an dessen Stelle treten können; jede erneute Lektüre setzt sich direkt mit dem Text auseinander und bedeutet Übereinstimmung und Abweichung mit der vorangegangenen Deutung. Das zeigt besonders deutlich der Extremfall des hermetischen Gedichts: „Interpretationen sind hier Schlüssel. Aber es kann nicht ihre Aufgabe sein, dem Gedicht dessen entschlüsseltes Bild an die Seite zu stellen. Denn obwohl auch das hermetische Gedicht verstanden werden will und ohne Schlüssel oft nicht verstanden werden kann, muß es doch in der Entschlüsselung als verschlüsseltes verstanden werden, weil es nur als solches das Gedicht ist, das es ist. Es ist ein Schloß, das immer wieder zuschnappt, die Erläuterung darf es nicht aufbrechen wollen. Indem aber für den Leser eines Kommentars das Wissen des Interpreten wieder zur Erkenntnis wird, gelingt auch ihm das Verständnis des hermetischen Gedichts als eines hermetischen.“ (266)
Szondi wendet sich gegen eine materialistische oder idealistische Literaturgeschichtsschreibung, die das literarische Werk als Ausdruck einer Idee oder eines sozialen Konflikts, gar eines Klassenstandpunktes sieht.
Über das hermetische Gedicht (Mallarmé, Eliot, Celan) hatte Szondi im Sommer 1967 ein eigenes Seminar abgehalten. Peter Szondi hat das hermetische Gedicht als hermeneutischen Grenzfall verstanden und dem verketzerten Begriff des Hermetischen eine neue Bedeutung gegeben. Seine Schlüsselstudie über Paul Celan trägt den Untertitel: „Über die Verständlichkeit des modernen Gedichts“.
In den angelsächsischen Ländern fand Szondi zu seiner Zeit eine angesehene und etablierte Komparatistik mit Lehrstühlen in Harvard und Yale, in Cambridge oder Oxford und in Princeton vor, wo er im Winter 1965 ein Gasttrimester lang lehrte. Die internationale Vernetzung, heute so geläufig, war zu jener Zeit gänzlich neu. Szondi lud Jacques Derrida, Hans Robert Jauss, Geoffrey Hartman, Robert Minder, Jean Bollack oder Paul Celan in sein Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft nach Berlin-Dahlem ein.
2.
„Die moderne Geschichts- und Literaturwissenschaft entstand im neunzehnten Jahrhundert im Gegenzug gegen die spekulativen Systeme des deutschen Idealismus.“ (267)
Dieser auf die Wissenschaftsgeschichte gemünzte Satz kennzeichnet Peter Szondis Werk selber. Es steht zwischen der Geschichtsphilosophie Hegels, deren Impulse er in seiner Theorie des modernen Dramas aufnimmt, und der immanenten Analyse, dem, was Szondi „philologische Tatsachenforschung“ nennt. Der junge Privatdozent spricht von der „Dankbarkeit gegenüber den Forschungen der Positivisten von einst und jetzt“, denen sich gerade die Theoretiker – wie er selber – bewusst seien. Im Nachwort zu seiner Doktorarbeit vermerkt Szondi 1956, das Ziel seiner Theorie des modernen Dramas sei „der Aufweis neuer Formen, denn die Geschichte der Kunst wird nicht von Ideen, sondern von deren Formwerdung bestimmt“. Die Form zeigt den Inhalt an; Veränderungen der dramatischen Form lassen sich als „niedergeschlagener“ Inhalt lesen. Szondi entwickelt eine Formsemantik, die Widersprüche in der Gestaltung des Kunstwerks, technische Schwierigkeiten der Form – hier kommt der hermeneutische Grundsatz der grammatischen, das heißt der technischen Interpretation zum Tragen – werden als Ausdruck eines historischen Konflikts wahrnehmbar: Die Vereinzelung des Individuums, sein „Reflektieren-Müssen“, in dem Lukács die Melancholie des 19. Jahrhunderts, die treibende Kraft des Romans sah – und das 19. Jahrhundert ist die Epoche des Romans – , der Rückzug des Einzelnen von unüberschaubar werdenden sozialen Verhältnissen lassen immer weniger Raum für Handlung und Dialog, von denen das Drama lebt. An diesem Wendepunkt zur Moderne hält der Roman, aber auch die Lyrik Einzug auf den Bühnen. Szondis Aufmerksamkeit richtet sich auf die gemischte, sich fremd werdende Gattung. Die Theorie des modernen Dramas führt drei geistesgeschichtliche Strömungen zusammen, die strikt voneinander getrennt waren: die poetischen Grundbegriffe Emil Staigers, dessen Schüler Szondi in Zürich war, von dem er „die Kunst der Interpretation lernte, um ihre Grenzen der Immanenz fortan zu überschreiten, Theodor W. Adornos Philosophie der neuen Musik, die eine Theorie des Stilwandels entwickelt, und Georg Lukács’ Aufsatz „Zur Soziologie des modernen Dramas“, der 1912 zuerst auf ungarisch erschien, der die zeitgenössische Dramatik analysierte.
Die Theorie des modernen Dramas zieht eine Resümee der maßgebenden Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts und ihres historischen Fluchtpunkts Hegels, aber sie errichtet nicht selber ein vollständiges theoretisches Gebäude, sondern relativiert die Baupläne, die sie vorfindet. Sein „Traktat über philologische Erkenntnis“ nimmt die empirische Literaturwissenschaft in den Blick, die Anfang der 1960er-Jahre in Deutschland vorherrschte.
3.
„Der himmlischen, still wiederklingenden,
Der ruhigwandelnden Töne voll,
Und gelüftet ist der altgebaute,
Seeliggewohnte Saal; um grüne Teppiche duftet
Die Freudenwolk’ und weithinglänzend stehn,
Gereiftester Früchte voll und goldbekränzter Kelche,
Wohlangeordnet, eine prächtige Reihe,
Zur Seite da und dort aufsteigend über dem
Geebneten Boden die Tische.
Denn ferne kommend haben
Hieher, zur Abendstunde,
Sich liebende Gäste beschieden“ (zitiert nach 269)
– lautet die erste Strophe von Hölderlins Hymne „Friedensfeier“, deren Reinschrift man 1954 gefunden hatte. In der Auslegung dieser Strophe zeigt Szondi den Streit der Philologen, ob eine Stelle metaphorisch gemeint sei oder nicht. In der Großen Stuttgarter Ausgabe heißt es: „Einige Erklärer wollen in diesem dichterisch erbauten und erhöhten Raum durchaus die Metapher einer Landschaft sehen. (…) Wäre indes eine Metapher gemeint, so stünde sie in Hölderlins gesamtem Werk ohne Beispiel da.“ (269) Szondi lenkt den Blick auf die Grundsätze in der Argumentation des Für und Wider, die hier nicht nachgezeichnet werden soll. Er nimmt hier die Auseinandersetzung mit Friedrich Beißners Kommentar und dessen Methodik auf, mit einer einflussreichen Strömung der Germanistik jener Zeit, der „philologischen Tatsachenforschung“.
Was die Philologie seiner Zeit nach Szondi zu wenig beachtete, waren Mehrdeutigkeiten, die man nicht aufheben darf, sondern zum Zentrum der Deutung machen muss.
Am 28. November 1963 fragt Theodor W. Adorno, ob er seinen Aufsatz „Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins“ Peter Szondi widmen dürfe: „Das ist nicht rhetorisch gemeint. Ich bin unbescheiden genug, mir einzubilden, dass die Widmung Ihnen Freude machen wird; aber ich kenne die Sitten und Gebräuche der akademischen Welt zu genau, um nicht zu wissen, dass eine Widmung von mir, und gerade die dieses Textes, und gerade zu dieser Zeit, da ja eine Berufung für Sie bald akut werden muss, Ihnen unter Umständen schaden kann. Ob das der Fall ist, vermögen nur Sie abzuwägen.“ (Briefe, 141f.) „Verehrter, lieber Herr Professor“, antwortet Szondi eine Woche später, „lassen Sie mich von Herzen danken. Sie hätten mir keine grössere Freude bereiten können. Ihre Widmung ist mir ein Zeichen von Sympathie und Anerkennung, das mir guttut, auch wenn ich weiss, dass ich seiner nicht immer würdig bin. Sehr herzlich danken möchte ich Ihnen auch dafür, dass Sie mich auf die Wirkung aufmerksam machen, welche die Widmung in der germanistischen Zunft haben könnte. Aber ich bin weder fähig noch gewillt, solche Rücksichten zu nehmen. Auch dürfte sich ja allmählich herumgesprochen haben, wie ich zu Ihnen stehe; das war mir stets lieb, und so soll es bleiben.“ (Briefe, 135)
Als Szondi diesen Brief schreibt, leidet er an einer schweren Depression und hat sich ins elterliche Haus in Zürich zurückgezogen. Adornos Aufsatz erschien schließlich „Peter Szondi gewidmet“.
4.
„Vielmehr gehört gerade die Historizität zu seiner Besonderheit, so dass einzig die Betrachtungsweise dem Kunstwerk ganz gerecht wird, welche die Geschichte im Kunstwerk, nicht aber die, die das Kunstwerk in der Geschichte zu sehen erlaubt.“ (275)
Szondi wendet sich gegen eine materialistische oder idealistische Literaturgeschichtsschreibung, die das literarische Werk als Ausdruck einer Idee oder eines sozialen Konflikts, gar eines Klassenstandpunkts sieht. Seine historische Formsemantik prägt vor allem die Theorie des modernen Dramas, wenn Szondi auch später in seiner Theorie des bürgerlichen Trauerspiels eine historische Schärfeneinstellung mit den Mitteln der Sozialgeschichtsschreibung suchte. Auch „Das lyrische Drama des Fin de Siècle“, eine Vorlesung über Mallarmé, Maeterlinck, Rilke und Hofmannsthal, macht eine historische Textur der gattungsmäßigen Brüche und Widersprüche aus. Zu Beginn führt Peter Szondi aus, dass die Versenkung ins einzelne Werk, die Interpretation, „nicht den Auszug aus der Historie“ bedeute: „ … die neunzehnfünfziger und -sechziger Jahre werden dem Wissenschaftshistoriker später vielleicht als die Zeit erscheinen, in der Interpretation und Geschichte miteinander vermittelt wurden, in der eine neue Literaturgeschichtsschreibung möglich wurde, eine im Geiste der Interpretation. Immanente Interpretation sollte heute nicht mehr bedeuten, dass von der Geschichte abstrahiert wird um eines selig in sich Scheinenden willen, sie sollte bedeuten, dass Geschichte nicht als ein Kunstwerktranszendentes begriffen wird, das sich im einzelnen Werk zu erkennen gibt, das das einzelne Werk hervorbringt oder zu dem die vielen Werke – wie Mosaiksteinchen zum Bild – sich vereinigen, sondern als etwas, das dem Kunstwerk immanenten ist und von der Interpretation in dieser seiner Immanenz aufgewiesen wird.“ (17) Hier erweist sich Szondi als vorausblickender Historiker seiner selbst.
Wie sehr dieser Grundsatz der immanenten Interpretation Szondis Methodik bestimmt, zeigt sein letzter zu Lebzeiten veröffentlichter Aufsatz: „Lecture de Strette“, „Durch die Enge geführt“, eine Auslegung von Paul Celans „Engführung“, der das Lesen des Textes mit dem Gang durch ein Gelände verbindet: „Verbracht ins / Gelände / mit der untrüglichen Spur“. Vers für Vers, Strophe für Strophe weist Szondi nach, dass der Text selber zum Gelände wird, zu einem geschichtlichen Ort, den die Analyse Schritt für Schritt freilegt. Der wird mit dem ersten Wort ins Gelände „verbracht“, was die französische Übersetzung des Worts, die Szondi seinem auf französisch verfassten Aufsatz zugrunde legte, in seiner ganzen Dimension offenbart: „déporté“.
Die Historizität liegt in der poetischen Gestaltung, die nicht auf etwas eigentlich Gemeintes zielt, eine Intention hervortreten lässt, sondern den Text eine Vergangenheit hindurchgehen lässt, die sich als Gegenwart erweist. „Für Celan war Auschwitz kein Thema“ notiert Szondi 1964 eher beiläufig auf ein Blatt.
5.
„So wertvoll die Parallelstellen für die Deutung auch sind, sie darf sich auf sie nicht als auf von ihr unabhängige Beweise stützen, denn die Beweiskraft haben sie von ihr. Diese Interdependenz gehört zu den Grundtatsachen philologischer Erkenntnis, über die kein Wissenschaftsideal sich hinwegsetzen darf.“ (281)
Jedem Kunstwerk sei ein monarchischer Zug eigen, eine Singularität und ein Grundzug des Unvergleichlichen.
Dieser Satz gehört mittlerweile zum Standardrepertoire eines jeden germanistischen Proseminars. Bevor dieser Satz diese Geltung erhielt, war die Parallelstellenmethode gängige philologische Praxis, ein hermeneutischer Zirkelschluss, der Verschiedenheiten zugunsten des vermeintlich Gleichen auflöste. Was die Philologie seiner Zeit nach Szondi zu wenig beachtete und achtete, waren Mehrdeutigkeiten, Ambiguitäten, die man nicht aufheben darf, sondern zum Zentrum der Deutung machen müsse, wie Szondi in seinem Traktat an Kleists Amphitryon zeigt. Jedem Kunstwerk sei ein monarchischer Zug eigen, eine Singularität und ein Grundzug des Unvergleichlichen. „Man fragt sich zwangsläufig“, heißt es in „Durch die Enge geführt“, „doch zu Unrecht bei diesen ersten Versen von Engführung, was mit dem Gelände / mit der untrüglichen Spur gemeint sei. Gewiss ist man zunächst versucht, wie üblich Parallelstellen heranzuziehen, ein Verfahren, nach dem man die Verse Gelände / mit der untrüglichen Spur, deren Sinn man nicht kennt, mit anderen Versen aus Celans Werk vergleicht, die man schon zu verstehen glaubt und in denen eben einer dieser Ausdrücke vorkommt. Spräche selbst, was an sich fragwürdig ist, etwas für die Annahme, dass dieselbe Wendung an verschiedenen Stellen auch dieselbe Bedeutung hat, ja schiene selbst das Verständnis, das an der einen Stelle gesichert scheint, den Sinn des Verses, den man zu verstehen sucht, zu erläutern, so wird dieser doch klar, ohne dass man ihn verstanden hätte, denn was die Worte bedeuten, ergibt sich gerade durch den besonderen Gebrauch, der sich zunächst dem Verständnis entzieht.“ (II, 345) Es ist für das Verständnis des Gedichts von Celan zentral, dass man die Unverständlichkeit festhält.
6.
„Die Literaturwissenschaft darf nicht vergessen, dass sie eine Kunstwissenschaft ist; sie sollte ihre Methodik aus einer Analyse des dichterischen Vorgangs gewinnen; sie kann wirkliche Erkenntnis nur von der Versenkung in die Werke, in ‚die Logik ihres Produziertseins‘ erhoffen.“ (286)
Am Ende seines Traktats kehrt Szondi zum anfänglichen Impuls zurück, der Apriorität des Individuellen, um ein Wort von Hölderlin zu verwenden, das die philologische Erkenntnis zu ihrer Prämisse machen sollte. „Die Logik ihres Produziertseins“ geht auf einen Aufsatz von Theodor W. Adorno zurück: „Die Fähigkeit, Kunstwerke von innen, in der Logik ihres Produziertseins zu sehen – eine Einheit von Vollzug und Reflexion, die sich weder hinter Naivetät verschanzt, noch ihre konkreten Bestimmungen eilfertig in den allgemeinen Begriff verflüchtigt, ist wohl die allein mögliche Gestalt von Ästhetik heute.“ (Gesammelte Schriften 11, 159) „Valérys Abweichungen“ heißt der Essay, der 1960 zuerst in der Neuen Rundschau erschien, die auch Szondis Traktat herausbrachte. „Abweichungen“ bezieht sich auf die deutsche Ausgabe von Valérys Rhumbs, die Peter Szondi 1959 zusammen mit Bernhard Böschenstein und Hans Staub ins Deutsche übertragen hatte, eine Auswahl aus den Merkbüchern, der Titel Windstriche gibt das „Rhumbs“ des Originals wieder. Szondi erweist Adorno am Ende seines Vortrags die Reverenz, so wie er sich zuvor, verschlüsselter, auf Walter Benjamin, Emil Staiger und Georg Lukács bezog. Einen Médiateur hat Gert Mattenklott seinen akademischen Lehrer genannt. Szondi war ein Vermittler getrennter Theorien, ein Vermittler aber auch seiner Fächer, der Germanistik, der Romanistik und der Philosophie. Keiner dieser Disziplinen gehörte Szondi ganz zu und suchte umso mehr nach einer sie verbindenden Perspektive. Sein Entwurf einer literarischen Hermeneutik ist heute philologisches Allgemeingut geworden; die verborgene, starke, doch so sachliche Polemik von Szondis Traktat lässt sich heute kaum noch ermessen.
Vermutlich am 18. Oktober 1971 schied Peter Szondi in Berlin aus dem Leben. In den Jahren hernach erschien die fünfbändige Studienausgabe seiner Vorlesungen, die zweibändige Ausgabe seiner Schriften. Sie zeigten das ganze Spektrum seiner Forschung, die Konstanz von Motiven seiner Werke, die nirgendwo so dichten Ausdruck fanden wie in „Über philologische Erkenntnis“. Dem schmalen Text hatte der junge Gelehrte vor nahezu fünfzig Jahren ein Wort von Hölderlin als Motto vorangestellt: „Unterschiedenes ist. / gut.“