„Die Kreuzzüge“ – ein Begriff, der sich anscheinend von seinen geschichtlichen Wurzeln gelöst hat. Man spricht heute vom „Kreuzzug gegen die Armut“, ein „Kreuzzug gegen den Bildungsnotstand“ wird gefordert, ja, sogar der Aufruf zum „Kreuzzug gegen Gewalt“ bleibt nicht ungehört. Doch halt! Beinahe haben wir schon die Ereignisse des 11. September 2001 vergessen, die brennenden Türme des World Trade Centers und das beschädigte Pentagon. Sehr bald nach den Anschlägen sprach George W. Bush die Worte: „Dieser Kreuzzug gegen den Terrorismus wird eine ganze Weile dauern.“ Das war im Übrigen kein leicht hingesagtes Wort. Denn schon 1998 erklärte die radikale „World Islamic Front“, dass sie einen „heiligen Krieg gegen Juden und Kreuzfahrer“ führen wolle. Und Osama bin Laden höchstpersönlich ließ nach 9/11 verbreiten: „Der ursprüngliche Kreuzzug brachte Richard aus Großbritannien, Ludwig aus Frankreich und Barbarossa aus Deutschland. Heute stehen die Kreuzfahrer-Länder Gewehr bei Fuß, sobald Bush das Kreuz erhebt.“ In der Tat ist der Begriff „Dschihad“, der heilige Krieg gegen die Ungläubigen, im Zusammenhang mit den Kreuzzügen geprägt worden. Während wir Menschen, die in der westlichen Welt leben, den Begriff „Kreuzzug“ losgelöst von der Historie verwenden, rufen radikale Islamisten zum Dschihad, zum heiligen Krieg, gegen uns auf. Für sie sind wir Nachfahren der Kreuzritter.
Kriege, die sich als Begründung auf das religiös-moralische Fundament einer Gesellschaft berufen, werden ungenügend beschrieben, wenn man nur auf die Faktoren Macht, Strategie und Verführung setzt.
Ganz ähnliche Gedanken finden sich am Schluss von Thomas Asbridges monumentalem Werk Die Kreuzzüge. Und die letzten Worte im Buch des britischen Historikers lauten: „Insgesamt jedoch sollte man die Kreuzzüge dort lassen, wo sie hingehören: in der Vergangenheit.“ Das verwundert ein wenig, klingt irgendwie nach britischem Understatement. Doch man kann Thomas Asbridge verstehen. Er möchte nicht auf gegenwärtige Verhältnisse wie den modernen Dschihad eingehen, sondern seinen Lesern die Welt der echten Kreuzzüge vor Augen führen, also die Zeit von 1096 bis 1272. Das ist ein gigantisches Unternehmen, doch Asbridge ist nicht der Erste, der es wagt.
Europas Machtgefüge
Der deutsche Historiker Hans Eberhard Mayer hat vor zehn Jahren seine Geschichte der Kreuzzüge herausgebracht. Ihn interessieren vor allem die Kreuzzüge im Verhältnis zu den politischen Machtgefügen innerhalb Europas. Bei Asbridge kommt hingegen auch sehr stark der Islam zu Wort. Als eine Art „Vorbild“ für Asbridge könnte man den britischen Geschichtswissenschaftler Steven Runciman nennen, der seine umfangreiche Geschichte der Kreuzzüge in den 1950er-Jahren publizierte. Denn Runciman wie Asbridge folgen dem Prinzip der „narrativen Geschichtsschreibung“. Der Vorteil von „Historical narrative“ zeigt sich darin, dass der Text auf eher unakademische Weise verfasst wird. Es geht darum, den Leser in den Bann der Historie zu ziehen. Der Nachteil, wenn man so will, ergibt sich dadurch, dass auch geschichtliche Nebenschauplätze nach dem neuesten wissenschaftlichen Stand breit dargestellt werden. Denn das narrative Element kann und soll ja nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei der Publikation Die Kreuzzüge um ein wissenschaftliches Werk handelt. Das heißt, Asbridges Kreuzzüge bieten ein Leseabenteuer für jeden an Geschichte interessierten Leser, verlangen aber zugleich nach einem langen Atem, um die 800 Seiten zu bewältigen.
Mit dem Aufruf zum Ersten Kreuzzug durch Papst Urban II. wurde eine Idee geboren, die Gemeinsamkeit stiftete.
Die Darstellung der Kreuzzüge von Thomas Asbridge hat neben der narrativen Komponente noch einen Vorteil, den man gar nicht genug hervorheben kann: Der Autor versucht sowohl die europäische als auch die islamische Seite gleichermaßen genau zu Wort kommen zu lassen. Damit befreit man sich von einem eurozentrischen Geschichtsblick auf die Dinge, sei es, dass durch diesen die Kreuzzugsidee ideologisch überhöht wird, sei es, dass die Kreuzfahrten als brutale Machtdemonstration westlicher Herrscher entlarvt scheinen. Beide Momente wären für Asbridge Extrempositionen, die eben nicht historisch genau und auf Fakten gestützt argumentieren. Aber Fakten allein sagen auch nicht alles. Und hier kommt wieder der „historische Erzähler“ Asbridge ins Spiel. Wenn er etwa detailliert schildert, wie vor einer Schlacht auf beiden Seiten die Krieger beteten, fasteten, religiöse Lieder sangen, so darf man das nicht als pseudopsychologische Ermunterungstaktik missverstehen. Die Riten waren Teil des Geschehens, des Lebens, auch wenn es uns heute schwer fällt, dies nachzuvollziehen.
Religiöser Auftrag
Es wäre also ein großer Fehler, würde man die Vorstellung eines „heiligen Krieges“ als reine Inszenierung von Macht einstufen. Immer wieder betont Asbridge, wie die Kreuzzugsritter und die Kämpfer des Islam von ihrem religiösen „Auftrag“ überzeugt gewesen sind! Und man kann es noch extremer formulieren: Das europäische Machtgefüge nach Karl dem Großen – der sich ja selbst als „sakraler“ Herrscher begriff! – war in blutige Fehden verwickelt. Mit dem Aufruf zum Ersten Kreuzzug durch Papst Urban II. wurde eine Idee geboren, die Gemeinsamkeit stiftete. Der „heilige Krieg“ schaffte sozusagen überhaupt erst die Vorstellung eines christlichen Ritters, der als König oder Vasall einem göttlichen Auftrag unterstellt ist. Und Asbridge zeigt sehr genau, wie der Islam auf die Bedrohung durch den Westen auf dieselbe Weise reagierte. Erst die Ausrufung des Dschihad, des heiligen Krieges gegen die christlichen Aggressoren, schaffte das notwendige, gemeinsam koordinierte Vorgehen der arabischen Stammesführer. Denn das islamische Reich war im 11. Jahrhundert genauso zersplittert und in Einzelfehden verstrickt gewesen wie das europäische.
All das lässt dann doch recht klare Rückschlüsse zu, auch wenn Thomas Asbridge dies ein wenig unter den Tisch kehren möchte. Kriege, kleine wie große, die sich als Begründung auf das religiös-moralische Fundament einer Gesellschaft berufen können, werden historisch ungenügend beschrieben, wenn man rein objektiv auf Faktoren wie Macht, Strategie und kalkulierte Verführung setzt. Erst die emotionale Dimension, diese „metaphysische Spur“ eines flammenden Gemeinsinns, ist der Schlüssel für das Verständnis, weswegen es von den Kreuzzügen bis heute Menschen gibt, die als „heilige Krieger“ ein erfülltes Leben ersehnen und denen so der Tod ein Leichtes wird.