Die Pariser Philosophin Sarah Kofman hat sich in ihrem Werk kontinuierlich mit der Dekonstruktion metaphysisch fundierter Textgenres auseinandergesetzt. Philosophische und literarische Texte behandelte sie auf gleicher Ebene und mit derselben Sorgfalt. Ihr analytischer Blick galt immer auch den in diese Texte eingeschriebenen Auto-/Biographien. Durch ihr biographisch-bibliographisches Interesse distanzierte sie sich schon früh von postmodernen Theoremen wie dem „Tod des Subjekts“ oder „Tod des Autors“, die von Denkern wie Roland Barthes oder Michel Foucault formuliert wurden.
Zugleich tobte in Kofman ein Wille zur Selbstauslöschung, der 1994 in ihrem Freitod kulminierte. Diesem Akt war die Veröffentlichung eines „autobiographischen Fragments“ vorangegangen, dessen Tonart sich weg von einem betroffenen Ich und hin zu einem unpersönlichen Man bewegt. In diesem Licht scheint sich Sarah Kofmans Philosophie wiederum dem postmodernen Credo des Philosophen Gilles Deleuze anzuschließen, der nur ein Jahr nach Kofman ebenfalls freiwillig aus dem Leben schied: „Wir glauben an eine Welt, in der die Individuationen unpersönlich und die Singularitäten präindividuell sind: die Herrlichkeit des ‚MAN‘.“
Kofman kann dennoch nicht einfach als ein weiteres „Symptom“ der französischen Postmoderne verstanden werden, da sie als Frau und Philosophin den Anspruch geltend machte, innerhalb der etablierten akademischen Tradition anerkannt zu werden. Als Frau musste sie sich mit der Geschlechterdifferenz und den darin eingeschriebenen Subjektpositionen innerhalb ihrer Disziplin, der Philosophie, und ihrer Universität, der Sorbonne, auseinandersetzen. Der in seiner französischen Doppelbedeutung als Textgattung und Gender verwendete Begriff des Genres bildet dabei den theoretischen Rahmen für das Ausloten der Möglichkeiten von Biographie. Kofmans Position zum „Subjekt als Effekt“ schreibt sich im Spannungsfeld zwischen den Erfahrungen autonomer Subjekte des 70er-Jahre-Feminismus und den Diskursen der Postmoderne ein: „Während zu Beginn der zweiten Frauenbewegung feministische Wissenschaftlerinnen dafür eingetreten waren, die persönlichen (auch körperlichen) Erfahrungen von Frauen als Grundlage von Wissen und Erkenntnis anzusehen, wurde die kognitive Bedeutung von Erfahrung von poststrukturalistischen Wissenschaftlerinnen mit der Begründung verworfen, dass Erfahrung und Subjektivität als Effekte von Diskursen entstehen.“
„Ich weiß nicht, wer ich bin, vielleicht bin ich nichts, vielleicht rührt mein Wunsch, mich mit verschiedenen Autoren zu identifizieren, daher.“
Auch wenn sich Kofman vordergründig nur für die diskursive und konkret textuelle Identität der von ihr interpretierten Autoren – und ihrer selbst – interessiert, setzt sich in ihren Texten dennoch ein „linguistisches Cogito“, wie es der Sprachwissenschaftler Émile Benveniste formuliert hat, gegenüber dem unpersönlichen „Man“ durch. Aussagen Kofmans wie: „Aber dieses Selbst, ist es nicht ein Irrlicht? Ist es nicht ein Irrtum zu glauben, dass ich eine andere Autobiographie hätte als jene, die durch meine Bibliographie durchscheint?“ stehen solchen gegenüber, in denen sie sich zwar in der Pose der Selbstverleugnung darstellt, gleichzeitig jedoch einen Identifikationsprozess zum Ausdruck bringt: „Ich weiß nicht, wer ich bin, vielleicht bin ich nichts, vielleicht rührt mein Wunsch, mich mit verschiedenen Autoren zu identifizieren, daher.“
Das linguistische Subjekt, Kofmans Ich, äußert das Begehren, sich mit „verschiedenen Autoren“ zu „identifizieren“. Es muss ein Verhältnis zwischen Subjektivierung und Selbst angenommen werden, um überhaupt einen Begriff von Identität entwickeln und die Differenz von Selbst und Anderen erfahren zu können. Dass gerade Kofmans letzte Publikation eine Autobiographie ist, scheint diese Ambivalenz von Selbstverleugnung und philosophischer Selbstsorge zu bestätigen.
Der philosophische Text und das biographische Detail
Ein philosophischer Text wird von Kofman als „männlich“ dechiffriert, insofern er der metaphysischen Tradition entsprechend eine Analogie mit essentialistisch-männlichen Attributen aufweist. Unter diese „männlichen“ Attribute subsumiert sie Rationalität, Klarheit, Beständigkeit und Zielstrebigkeit. Kofman selbst durchbricht die zweigeschlechtliche Kodifizierung von Texten, indem sie literarische Texte als philosophische und philosophische als literarische und zugleich auto/biographische behandelt und selbst auto/biographische Fragmente in ihre philosophischen Texte einschreibt. Auf diese Weise versucht sie nicht nur als Frau in die männlich besetzte Domäne der Philosophie einzudringen, sondern gleichzeitig die Analogie „männlich/philosophisch“ zu durchbrechen, indem sie keine „reine“, sondern eine mit dem literarischen und auto/biographischen Genre vermischte Philosophie betreibt.
Im Sinn einer Biographie können hier zwei Erfahrungsmomente Kofmans ausgemacht werden, die ihre Selbst-Positionierung mitbestimmt haben. Die erste Erfahrung betrifft Kofmans Rechtfertigungsdruck als Frau gegenüber der männlich dominierten Philosophie. Ohne auf einen Differenz-Feminismus à la Hélène Cixous oder Luce Irigaray zurückzugreifen, beharrt sie auf der Forderung nach Gleichstellung und der Auflösung der Geschlechterdichotomie. Im Zusammenhang mit dem Problem der dualen Geschlechterkategorien ist auch Kofmans Begriff von „Position“ und von „Selbst-Positionierung“ zu verstehen: „Ich denke mich nicht, ‚insofern ich Frau bin‘. Es ist sehr schwierig, aus diesem Denkmuster auszubrechen, weil alle so denken. Auf meinem Personalausweis, auf meiner Sozialversicherungskarte steht ‚Frau‘. […] Wir denken anhand dieser Kategorien. Aber wenn man beginnt, sich psychisch zu denken, wird es möglich, sich selbst anders zu denken, das ist die große Entdeckung Freuds. Man sollte nicht die sozialen und anatomischen Unterscheidungen mit den psychischen verwechseln, denn letztere sind Positionen. […] Man sollte von nun an sagen ‚eine so genannte männliche Position‘, da diese Kategorien überhaupt verschwinden sollten.“ Folglich nimmt Kofman auch nur eine vorübergehende Position als Frau ein, wenn sie mit einer Rechtfertigung auf ihre Erfahrung des Frau-Seins innerhalb der institutionellen Philosophie reagiert.
Die zweite Erfahrung, die Kofman machen muss, ist ihr über Jahre hinweg erfolglos gebliebener Kampf um eine Professur an der Sorbonne. Erst 1991 wird sie reguläre Professorin, drei Jahre vor ihrem Freitod und knapp zwanzig Jahre nach ihrem Beginn als Assistentin an der Sorbonne. Ihr Ringen um institutionelle Anerkennung hängt eng mit der Diskriminierung von Frauen zusammen, insofern diese auf der akademischen Karriereleiter hochkommen und die gläserne Decke durchbrechen wollen. Kofman selbst macht allerdings nicht ihr Geschlecht, sondern das hybride Genre ihrer Texte für ihre Marginalisierung an der Sorbonne verantwortlich.
Hybride Texte versus institutionelle Hybris
Die Verleugnung und der Ausschluss kritischer philosophischer Avantgarden von Seiten des universitären Lehrkörpers wäre noch kein Spezifikum des Falles Kofman. Der Unterschied liegt in ihrem Beharren darauf, als Philosophin an der Sorbonne mit innovativen bzw. marginalen Themen auch tatsächlich ernst genommen zu werden. Im Zusammenhang mit diesem „biographischen Detail“ tritt sie zugleich als autonomes Subjekt und als universitären Disziplinierungs- und Subjektivierungsdiskursen Unterworfene in Erscheinung.
Der hier gemeinte Subjektbegriff bezieht sich auf das eingangs erwähnte Spannungsfeld zwischen dem feministischen Subjekt der 70er Jahre und dem Foucault’schen Subjekt der Postmoderne. Insofern für Kofman politisches Engagement in kritischer Lektüre und im Schreiben philosophischer Texte besteht, tritt sie durchaus als Subjekt und Autorin im affirmativen Sinn auf. Zum Beispiel versucht sie hybride Texte wie jene von Friedrich Nietzsche im philosophischen Kanon der Sorbonne durchzusetzen; weiter lehrt sie mit Rücksicht auf das Geschlechterimaginäre eine kritische Lektüre der kanonisierten Philosophie; und nicht zuletzt ist Kofman Autorin, weil sie Texte produziert und publiziert hat, die als hybrid im Sinn einer Vermischung des philosophischen, literarischen und auto/biographischen Genres verstanden werden können. Kofmans Beitrag zu einer Theorie der Biographie besteht in ihrer Anerkennung der Bedeutung biographischer Details im Zuge philosophischer Theoriebildung. Dabei geht es ihr nicht um eine biographische „Wahrheit“, die sich etwa in der Bibliographie eines Philosophen niederschlüge. Eine solche Wahrheit ist für sie als Freud- und Nietzsche-Spezialistin „nicht zu haben“. Indem sie Texte, die einen allgemeingültigen Anspruch haben, auf ihre „Versprecher“ und biographischen Details hin liest, relativiert sie den universellen Anspruch von Philosophie, ohne ihn jedoch gänzlich aufzugeben.
Kofmans Texte begegnen Philosophen tatsächlich „respektlos“, da sie den universellen Anspruch der jeweiligen Philosophie mithilfe biographischer und bibliographischer Details dekonstruieren und mit der Lebensrealität der Philosophen kontrastieren.
Die Kehrseite des autonomen Subjekts ist das den Machtapparaturen unterworfene Subjekt. Als Person des öffentlichen Lebens stellt Kofman mithilfe von Kollegen die Subjektivierungsdiskurse universitärer Berufungskommissionen bloß, die sie direkt betroffen haben. Schon 1979 war Kofmans Bewerbung um eine Professur vom Comité Consultatif des Universités, welches als universitäres Gremium Berufungen zu entscheiden hat, mit unseriösen Begründungen abgewiesen worden. Vor allem die Art der Ablehnung verletzte nicht nur Kofman, sondern empörte auch ihr nahestehende Kollegen wie Jacques Derrida, Louis Althusser, Jean-Luc Nancy und Elisabeth de Fontenay. Sie verfassten einen offenen Brief, in dem sie das CCU aufforderten, Stellung zu beziehen. Kofman zitiert den universitären Bericht wie folgt: „Laut diesem Bescheid würde ich über die Philosophen ‚in einem verdrehten, wenn nicht delirierenden Sinn‘ schreiben, ‚anstatt mich ihnen respektvoll zu nähern‘.“ Der Protestbrief fragt daraufhin das CCU, was ein „respektvoller Umgang“ mit Philosophen sei und vor welcher Lesart „die Philosophen“ geschützt werden sollten: „Was bezweckt dieser Ordnungsruf? Und wer richtet sich an wen mit einer derartigen Arroganz und Selbstsicherheit, die gerade jenem Respekt spottet, in dessen Namen die Gremiumsmitglieder zu sprechen verlangen?“
Die Hybris der universitären Institution ist im Skandal über die verhinderten Berufungen Kofmans ans Licht und 1989 sogar an die französische Presse gelangt. So ungeschickt es scheinen mag, als professorale Universitätskurie die eigene Macht an einer engagierten Philosophie-Assistentin demonstrieren zu wollen, so sehr muss diese professorale Selbstüberschätzung auch ernst genommen werden. Die institutionelle Hybris ist jedoch nur die Maske einer größeren, nämlich der philosophischen Hybris: Sie verweist das Auseinanderklaffen von dem universellen Anspruch der Philosophie und der jeweiligen Realität „vor Ort“. In dieser Kluft nistet sich die Angst jener Professoren ein, die ihre Macht nicht mit Kofman teilen wollten. Kofmans Texte begegnen Philosophen tatsächlich „respektlos“, da sie den universellen Anspruch der jeweiligen Philosophie mithilfe biographischer und bibliographischer Details dekonstruieren und dadurch mit der Lebensrealität der Philosophen kontrastieren. Kofman nimmt sich dabei weder selbst noch zeitgenössische Philosophen aus, wie zahlreiche auto/biographische Fragmente in ihren Texten und ihr Buch Derrida lesen belegen.
Von der Dekonstruktion zur Ko-Konstruktion
Zum Objekt einer Biographie wird Kofman erst im Moment der Rekonstruktion der Fakten ihres universitären Anerkennungskampfes. Kofmans selbst gestellte Frage, ob sie eine „andere Autobiographie“ habe als jene, die durch ihre Bibliographie hindurch scheine, kann so gesehen mit „ja“ beantwortet werden – ohne freilich einfach Kofmans Selbst-Konstruktion oder vielmehr Destruktion zu wiederholen. Es geht darum, nicht nur der Philosophin Kofman Gehör zu verschaffen, sondern auch im Sinn der oral history Zeitzeugen zuzuhören und deren Geschichten über und Erinnerungen an Kofman als Zitate in den biographischen Text zu integrieren. Diese Gespräche dienen nicht zuletzt auch als eine Art „Kontrollinstanz“ der Selbstreflexion der Intentionen der Biographin und Autorin. Diese biographische Ko-Konstruktion soll der dialogischen Grundstruktur europäischer Philosophie am zeitgenössischen Marktplatz intellektueller Eitelkeiten Rechnung tragen. Die Verschränkung von empirischem und theoretischem „Text“ dient daher der Unterminierung angeblich klar definierter Textgenres. Das hybride Genre der Biographie kann im besten Sinn Widersprüchliches zur Sprache bringen.