London, im Dezember 2010: Bei Studierendendemos gehen Fensterscheiben im britischen Finanzministerium zu Bruch, Feuer und Rauch durchziehen die Innenstadt, schließlich wird gar ein Farbbeutel auf die Limousine von Prinz Charles geworfen. Ungeachtet der wütenden Proteste wird vom englischen Parlament eine Reform der Studiengebühren verabschiedet, deren Effekte auf das englische Hochschulwesen äußerst kontroversiell eingeschätzt werden. Im Rahmen des von der konservativ-liberalen Koalition unter Premierminister David Cameron veranschlagten Sparkurses sollen die staatlichen Zuschüsse für die universitäre Lehre um rund 80 Prozent gekürzt werden. Die Finanzierung der Universitäten wird in Zukunft noch stärker den Absolvierenden obliegen als bisher. Die Obergrenze der von den Universitäten einzuhebenden Studiengebühren wird sich dem neuen Gesetz zufolge von 3000 auf 9000 Pfund verdreifachen.
Die Reaktionen unter den Betroffenen fielen denkbar gegensätzlich aus: Während die Russell Group, der Zusammenschluss der 20 englischen Elite-Unis, über diese Liberalisierung jubelt, ist an der akademischen Peripherie der nackte Überlebenskampf ausgebrochen. Das vermeintlich freie Spiel von Angebot und Nachfrage könnte das englische Hochschulwesen in eine ähnliche Zwei-Klassengesellschaft verwandeln wie die Premier League im Fußball: Auch dort konzentriert sich das Kapital auf einige wenige „Big Player“ wie Manchester United, Chelsea oder Arsenal, während kleinere Vereine mit erschreckender Regelmäßigkeit in den finanziellen Ruin schlittern.
Sollte eine solche Analogie vonseiten der Politik auch nur in Ansätzen angestrebt worden sein, hätte das für die Vielfalt und Unabhängigkeit von Lehre und Forschung unvorhersehbare Folgen. Der angestrebte „Qualitätssprung“, sprich: die Steigerung der Attraktivität der englischen Universität im internationalen Konkurrenzkampf auf der einen könnte einen kaum wieder gutzumachenden Kahlschlag auf der anderen Seite bedingen. Selbst die Tatsache, dass die Studiengebühren erst nach dem Studium und ab einem Jahreseinkommen von 21.000 Pfund fällig werden, könnte dieser Entwicklung in die Hände spielen. Denn auch eine virtuelle Belastung wird sich vermutlich auf die Wahl des Studiums auswirken, zumal Erstinskribierende vor so genannten „weichen“, „brotlosen“ Studien in Zukunft zurückschrecken könnten. An Universitäten, deren Schwerpunkt auf diesen Fächern liegt, befürchtet man deshalb eine Kürzung des Lehrangebots um über 90 Prozent. Der aus Deutschland stammende und an der Queen Mary University in London lehrende Germanist Rüdiger Görner hat bereits im November 2010 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine dramatische Bestandsaufnahme der aktuellen Lage skizziert. Im folgenden Gespräch versucht er die Entwicklungen ein weiteres Mal in den größeren Kontext der gesellschaftspolitischen Weichenstellungen in Bezug auf Bildung, Lehre und Forschung zu stellen.
Ab Herbst 2012 können Universitäten ihre Gebühren verdreifachen.
RECHERCHE Die für September 2012 anberaumte Verdreifachung der Studiengebühren weckt bei vielen Betroffenen die Angst vorm Untergang der Geisteswissenschaften in England. Wie wird sich diese drastische Erhöhung Ihrer Meinung nach auf die „kleineren“ Fächer auswirken?
RÜDIGER GÖRNER Vergegenwärtigen wir uns zunächst, was in England hochschulpolitisch geschieht: Der Staat entzieht sich seiner gesamtgesellschaftlichen Bildungsverantwortung. Inwiefern will diese Gesellschaft denn überhaupt noch durch ihr Steueraufkommen Bildungsbreite und inhaltliche Vertiefung aufrecht erhalten? Was hier geschieht, hat eine lange Vorgeschichte, die bis in die Regierungsverantwortung der Tories unter Margaret Thatcher zurück reicht und auch von den Labour-Regierungen nie wirklich in Frage gestellt worden ist: die Aufspaltung der Hochschullandschaft in „nützliche“ Fächer und Luxusdisziplinen, zu denen die so genannten „kleinen Fächer“ gehören. In England schließt das die Fremdsprachenphilologien ein.
Nun wird nicht der Staat die Studiengebühren für die gesellschafts- und geisteswissenschaftlichen Studiengänge erhöhen; das überlässt er den Universitäten und Colleges. Diese können ab Herbst 2012 bis zum Dreifachen der jetzigen Gebühren verlangen, sofern sie davon ausgehen, dass ihr Ruf das Höchstmaß an Gebühren gestattet. Es wird also zu einer noch drastischeren Ausdifferenzierung zwischen den Universitäten kommen, nämlich zwischen jenen, die sich Maximalgebühren glauben leisten zu können, und solchen, die sich ‚preisgünstiger‘ verhalten müssen, weil sich ihre studentische Kundschaft traditionell aus sozial schwächeren Schichten rekrutiert. Aber auch sie werden eine Verdoppelung der Gebühren nicht vermeiden können.
Die STEM-Fächer, also Science, Technology, Engineering, Mathematics, können weiter auf staatliche Mittel zählen; unklar ist nach wie vor der Umfang. Angesichts dieser Entwicklung werden die „kleinen Fächer“ entweder „entsorgt“ werden oder sie müssen sich zusammenschließen, um „kostengünstig“ zu funktionieren. Die berüchtigten „two cultures“, in die C.P. Snow einst die Wissenschaften zerfallen sah, werden auf diese Weise wieder zur Realität.
Selbst Cambridge wird sich nach 2012 Tutorien mit einem Lehrenden pro Student nicht mehr leisten können.
RECHERCHE Nicht nur die im Mai 2010 angelobte konservativ-liberale Regierung unter Premier David Cameron war von der Heftigkeit der Uni-Proteste im Herbst 2010 überrascht. Sind die wütenden Ausschreitungen auch ein Zeichen für jahrelang angestauten Frust?
GÖRNER Was wir da gesehen haben, war nicht der Anfang einer Revolution, sondern eine Unmutsbekundung, die schwerlich wirkliche Folgen zeitigen kann. Bildungsfragen gehören in England nicht zu den Hauptthemen der Politik, das Wohl und Wehe der Hochschulen schon gar nicht. Die Studienbedingungen sind in den verschiedenen Fakultäten durchaus unterschiedlich. Noch ist das Betreuungsniveau vergleichsweise hoch, aber selbst Cambridge wird sich nach 2012 Tutorien mit einem Lehrenden pro Student nicht mehr leisten können.
RECHERCHE Den Geisteswissenschaften wird vorgehalten, sich vor den ökonomischen und politischen Voraussetzungen und Bedingungen universitärer Lehre und Forschung in einen elitären Elfenbeinturm zu flüchten. Haben es diese Fächer tatsächlich verabsäumt, zeitgemäße Argumentationslinien bezüglich ihrer gesellschaftlichen Notwendigkeit zu entwickeln?
GÖRNER Eine Gesellschaft, die nur akzeptiert, was für sie „notwendig“ ist, vegetiert in geistigem Notstand. Natürlich ist Archäologie oder Paläontologie in keiner Weise zwingend „notwendig“; aber das von ihr zutage geförderte Wissen bereichert unendlich. Lieber Elfenbeintürme als Wachtürme. Die Relevanzen von heute sind die Absurditäten von morgen; und die Irrelevanzen von gestern womöglich übermorgen wegweisend. Als plurale Orientierungswissenschaften sind Philosophie und Ägyptologie, Musikologie und Literaturwissenschaft geistig so zentral wie die Kernphysik. Ihr größtes Problem ist, dass sie ihr „Modebewusstsein“ unter Beweis stellen müssen, um scheinattraktiv zu bleiben. England hat die Philosophie ausgehungert, zumindest jene Disziplin, die diesen Namen noch verdient. Diese Entwicklung begann bereits unter der Ägide von Premierministerin Margaret Thatcher, der diese in ihren Augen „linke“, widerständige Disziplin unbequem war. Das Ergebnis ist unter anderem, dass eine Regierung wie die jetzige eine derartige „Hochschulpolitik“ überhaupt ersinnen konnte.
Wer Volkswirtschaft mit Philosophie kombiniert, kann vermutlich mitten im Profittaumel noch rechtzeitig zur Besinnung kommen.
RECHERCHE Wie könnten die geisteswissenschaftlichen Disziplinen sich aus sich selbst heraus modernisieren, sich gegenüber zeitgenössischen Strömungen öffnen und nicht zuletzt neue Betätigungsfelder schaffen? Welchen Rahmen brauchen die „Humanities“ für einen qualitativ hochstehenden Output in Lehre und Forschung?
GÖRNER Die „Humanities“ zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich verwandeln können, ausgesprochen ‚anschlussfähig‘ sind, interdisziplinär zu operieren verstehen. In den Medien- und Kommunikationswissenschaften figurieren sie ebenso wie in den Bereichen Ethik und Humanisierung von Managementstrukturen, also der Entwicklung alternativer Leitungskonzeptionen. Aber auch dann, wenn sie sich selbst vollends überdehnten, werden sie nie ihre eigenen materiellen Bedingungen sichern können. Es ist grotesk, sie an rein betriebswirtschaftlichen Maßstäben zu messen, was aber nicht heißt, dass ihr Verfügungswissen sich nicht auch betriebswirtschaftlich aktivieren ließe. Wer Volkswirtschaft mit Philosophie kombiniert, kann vermutlich mitten im Profittaumel noch rechtzeitig zur Besinnung kommen.
RECHERCHE Der Reform-Diskurs an den Universitäten hat sich seit den 1990ern deutlich verschoben: weg von demokratiepolitischen Reformen hin zu solchen der Kosten-Nutzen-Effizienz. Dagegen haben sich in den vergangenen Jahren weltweit Proteste formiert. Manche Beobachter fühlen sich an die Stimmung der späten 1960er-Jahre erinnert. Kann der universitäre Protest eine allgemeine Debatte über den Einzug des neoliberalen Regimes in sämtliche gesellschaftliche Institutionen nach sich ziehen?
GÖRNER Ich fürchte: nein. Es beginnt damit, dass wohl die wenigsten so genannten Neoliberalen auch nur ahnen, wo die geistigen Wurzeln des Liberalismus liegen. Wer von ihnen kennt die Girondisten oder Friedrich Schiller, John Stuart Mill, gar die Gebrüder Gerlach?
Adorno, einer der geistigen Wegbereiter der Revolte von 1968, starb an ihren Folgen. Sartre ging nach Stammheim, aber immerhin wird Habermas in Ägypten gelesen. Was derzeit in sich weitenden Teilen der arabischen Welt geschieht, könnte auch im Westen dazu führen, dass man das Neoliberale umdefiniert und sich in neuer Weise auf die Idee der Freiheit besinnt, auch der Freiheit in den Wissenschaften. Es gereicht – in Anlehnung an Humboldt gesagt – jedem Staat, jedem Gemeinwesen zur Ehre, gerade dieser Freiheit ihre materiellen und politisch-rechtlichen Voraussetzungen (neu) zu schaffen.
STUDIENGEBÜHREN, FÜR UND WIDER
Die Debatte um Studiengebühren hat in den vergangenen Jahren den hochschulpolitischen Diskurs auch in Österreich und Deutschland dominiert. In Österreich wurden Gebühren unter der rechtskonservativen ÖVP-FPÖ-Koalition im Jahr 2001 in der Höhe von 726 Euro pro Studienjahr eingeführt. Als die große Koalition zwischen SPÖ und ÖVP im Herbst 2008 vorübergehend zerbrach, wurde im Oktober 2008 mit den Stimmen von SPÖ, Grünen und FPÖ eine weitgehende Abschaffung dieser Gebühren beschlossen. Seit Inkrafttreten des neuen Universitätsorganisationsgesetzes im Jahr 2004 war der aus den Gebühren einzuhebende Betrag direkt in die Uni-Budgets geflossen, hatte aber zu keiner Erhöhung derselben geführt, da die staatlichen Mittel für die universitäre Lehre und Forschung zuvor bereits drastisch gekürzt worden waren. In Deutschland unterstehen die Unis der Kompetenz der Bundesländer, denen es per Gesetz seit dem Jahr 2007 erlaubt ist, Studiengebühren einzuheben. In insgesamt sechs Bundesländern existieren mittlerweile Gebühren, zumeist in der Höhe von 1.000 Euro pro Studienjahr.
Die Befürworter von Gebühren argumentieren unter anderem, dass der gebührenfreie Hochschulzugang eine Finanzierung „von unten nach oben“ verschleiere, die darin bestehe, dass der einfache Arbeiter bzw. die Krankenschwester via Steuerabgaben indirekt das Studium des Arztsohnes finanziere. Gebührengegner halten dem entgegen, dass Studiengebühren an der prinzipiellen Verteilungsungerechtigkeit in Bildungsbelangen nichts ändern würden, im Gegenteil: Die Wahrscheinlichkeit, dass der Arztsohn und die Arbeitertochter Seite an Seite eine Hochschulbank drücken, verringere sich dadurch rapide. Profilierte deutsche Bildungssoziologen wie Richard Münch oder Michael Hartmann verweisen auf die vorschulischen und schulischen Gründe für die in Deutschland und Österreich stark ausgeprägte Bildungsungerechtigkeit. Zudem orten sie in dem auf dem Bildungssektor um sich greifenden Exzellenz- bzw. Elitendiskurs eine letztlich irreversible Entwicklung in Richtung universitärer „gated communities“.