„Ich habe in dieser Untersuchung viele Felder berührt, wobei ich mich auf einigen zugegebenermaßen nicht sehr gut auskenne. Was bedeutet das für meine potentiellen Leser? Tatsächlich weiß ich nicht einmal, an wen ich mich eigentlich wende.“
Zum Glück schreibt Robert Fossier, der bekannte französische Mediävist in der Nachfolge von Georges Duby, diese Zeilen ganz zum Schluss seines neuen Buches. Stünden sie am Anfang, so würde kein „potentieller Leser“ es kaufen wollen. Man sollte deswegen gleich eines vorwegnehmen: Robert Fossiers Das Leben im Mittelalter ist ein Meisterwerk und ein Glücksfall für den Leser. Jeder, der an dieser Thematik interessiert ist und nur ein wenig Vorwissen mitbringt, wird reich belohnt mit einem Wissen, das seinesgleichen suchen kann.
Die oft launige und immer gut verständliche Schreibweise Fossiers räumt mit einem Federstrich das Vorurteil beiseite, akademisch gebildete Autoren schrieben bloß für ihre eigene universitäre Klientel. Letztes Jahr erschien Das Leben im Mittelalter – Ces gens du Moyen Age – in Frankreich. Da wurde nicht nur dieses Buch gefeiert, sondern auch der 80. Geburtstag Robert Fossiers. Somit ist Das Leben im Mittelalter die Summe seiner Forschungen, aber auch die Summe seiner Einsichten, wie man Wissen sowohl einem akademischen Publikum als auch dem interessierten Leser näher bringen kann.
Tatsächlich wendet sich Fossier nicht an eine bestimmte Leserschicht, sondern an alle, die mehr über das Alltagsleben im Mittelalter wissen wollen. Dabei beschreibt der Autor auf den knapp 500 Seiten eine lange Wegstrecke: Sie reicht vom Ende der Völkerwanderung Mitte des 6. Jahrhunderts bis zur ersten Blüte der Renaissance und des Humanismus im 15. Jahrhundert. In einer Zeitspanne von 1.000 Jahren verändert sich viel und viele Details und regionale Entwicklungen, die für die Mittelalterforschung wichtig sein mögen, fallen so unter den Tisch. Doch Fossier geht es in erster Linie darum, mit Vorurteilen im landläufigen Sinn aufzuräumen. Etwa, dass Bauer wie Edelmann sehr wenig von Körperpflege hielt:
„Vor dem Schlafengehen wusch man sich gewöhnlich die Füße, nach dem Aufstehen das Gesicht und vor dem Essen die Hände. Zum Zähneputzen, eine gelegentliche Verrichtung, diente ein Pulver aus zerstoßener Sepiaschale. Ein Vollbad gönnte man sich auf dem Land nur vor einem Familienfest.“
Arbeit ist Folter – darin waren sich alle Stände des Mittelalters einig.
Für eine von Hygiene besessene Gesellschaft wie der unseren mögen diese Reinigungsmethoden mager erscheinen. Aber zu Zeiten des Sonnenkönigs Ludwig XIV. wurde weit weniger Körperpflege betrieben. So sind die von Schmutz und Erde entstellten Körper und Gesichter der Bauern, wie wir sie etwa aus Umberto Ecos Der Name der Rose kennen, reine Legende. Noch viel mehr möchte man zitieren, weil Fossier Dinge anführt, die selbst in der Literatur zum Mittelalter geschulte Leser nicht wissen werden. Etwa dass Männer, Frauen und auch Mönche an die drei Liter Wein am Tag tranken, aber der Wein damals ungefähr so viel Alkoholgehalt hatte wie normales Bier. Man trank ihn außerdem oft aus Ermangelung reinen Wassers. Eltern liebten ihre Kinder genau so wie heute und verwöhnten sie mit vielerlei Spielzeug, das aus Holz gefertigt wurde. Die aus Ritterfilmen bekannten Bankette, auf deren Tischen sich Unmengen von Wild und Geflügel stapeln, gehören ebenfalls ins Reich der Legende. Ob Edelmann, Bauer oder Priester – im Grunde aßen alle dasselbe: meist Schweinefleisch, selten Wild, Geflügel und Fisch. Und in guten Zeiten verdrückte der mittelalterliche Mensch an die zwei Kilo Brot pro Tag. Für sein täglich Brot musste man natürlich arbeiten, ob als Bauer, Handwerker, Gutsbesitzer oder Mönch. Nur anders als heute, wo der „workoholic“ als Maß aller Dinge gilt, war Arbeit – „arebeit“ – Mühsal, Mühe, also das genaue Gegenteil vom erstrebenswerten Zustand der Muße. Das französische Wort für Arbeit, „travail“, leitet sich sogar vom vulgärlateinischen Begriff „tripalium“ her, der ein dreispitziges Folterwerkzeug bezeichnet. Arbeit ist Folter – darin waren sich alle Stände des Mittelalters einig.
Gegenseitige Hilfe
„Es wäre wohl an der Zeit, daran zu erinnern, dass die Untertanen dem Verwalter ihres Grundherrn proportional weniger Steuern zu zahlen hatten als wir unserem Finanzamt, dass die Gerichtsverhandlungen am Fuße der Burg schneller abliefen und zu milderen Urteilen kamen als unsere unendlichen und oft recht zweifelhaften Rechtswege, dass die bewaffneten Büttel und die in der Burg stationierten Berufssoldaten nicht weniger effektiv die allgemeine Sicherheit gewährleisteten als unsere zahlreichen und dabei doch oft so überforderten Polizeikräfte und dass die angebliche feudale Anarchie ein Mythos ist, da der Mensch vielleicht zu keiner anderen Zeit so an die Hand genommen wurde wie damals.“
Der Historiker Robert Fossier ist zu sehr Realist, als dass er das Mittelalter verklären würde. Er weiß natürlich auch, dass sich die moderne Gesellschaft viel komplexer ausnimmt als die des Mittelalters. Und böswillige Grundherrn, geldgierige Pfaffen und diebische Bauern gab es damals auch. Das, worauf Fossier ganz bewusst hinweisen möchte, ist folgendes: Der Mensch des Mittelalters war ohne seine Mitmenschen hilflos, ja lebensunfähig. Der Adelige war angewiesen auf die Bauernschaft, die die Äcker bestellte und diese wiederum auf den Schutz und die Fähigkeit zur Rechtssprechung ihres Grundherrn. Die Männer der Kirche versuchten ihre Macht auszudehnen, wo es nur ging. Nur waren sie auch für das Seelenheil und genauso sehr für die Versorgung der Armen und Kranken verantwortlich. Hätte die Kirche diesen Zweig ihres Tuns damals abgeschnitten, so wäre sie ohne Zweifel der allgemeinen Verachtung anheim gefallen.