Die Anthropologie des zwanzigsten Jahrhunderts bezog ihre Legitimation aus unterschiedlichsten Theoremen, in denen noch die schaurigen Hybride aus kolonialen und rassistischen Interessen widerhallten. Daneben gab es allerdings auch Versuche, das Feld kultureller Andersheit in Anspruch zu nehmen, um eine Alternative zum „ideologischen Schlummer“ (Nietzsche), der vom Westen Besitz ergriffen habe, zu formulieren.
Anthropologen erhofften sich besonders in den „revolutionären“ Sechziger- und frühen Siebzigerjahren kybernetische Effekte aus der Verknüpfung der „identitären“ mit den „alteritären“ Linien. In Deutschland publizierten Fritz Kramer und Christian Sigrist 1978 unter dem sprechenden Titel Gesellschaften ohne Staat anthropologische Texte zu sozialen Organisationsformen, die ohne Vertikalisierung der Macht auskommen. Dem Kult der Staatsidee, die nach dem Modell einer Evolution politischer Strukturen den Gipfel darstellte, wurde durch die Blume dieser Schriften eine klare Absage erteilt. Das Fehlen eines Staatsapparates, so die Autoren, erweise sich nicht als Charakteristikum der Primitivität, sondern als ihr exaktes Gegenteil. Es ist nichts weniger als die realisierte Form von Egalität, die den Mangel an Staatlichkeit bedingt. Die primitiven Gesellschaften enthüllten sich so als diejenigen, deren „Demokratie“ nicht nur ein Lippenbekenntnis darstellt. Sie erschienen als der wahre demos, der nicht „von oben“ regiert wird. Das Argument, dass die Lebensform des „frommen Wilden“ nur für die Kleinorganisation eines aus wenigen Familien hervorgehenden sozialen Verbandes gelte und daher unvollkommen in Blick auf die voll entwickelte Struktur des Politischen sei, wurde mit dem Hinweis auf Beispiele von akephalen (griech: „ohne Kopf“, d.h. ohne „höhere Autorität“) Gesellschaften, die es auf einige Hunderttausende von Individuen bringen, zurückgewiesen. Im Vorwort zur betreffenden Publikation hebt Sigrist dem allegorischen Wert der auf Gleichberechtigung der Individuen basierende „Anarchie“ aus und hebt ihren für die politische Diskussion der Zeit hervor.
Permanenter Kriegszustand
Bereits 1974 hatte der französische Anthropologe Pierre Clastres die Studie Société contre l’état (dt: Staatsfeinde) zum Thema veröffentlicht. Clastres’ politische Intention stimmt zunächst mit derjenigen von Kramer und Sigrist überein: Als wesentliches Merkmal einer Gesellschaft ohne Staat setzt er den Umstand an, dass sie keine Trennung zwischen Gruppe und Organ aufweise. Sie besitze kein Organ der Macht, sie sei vielmehr selbst ein solches. Die als ursprünglich angenommene Teilung in Herrschende und Beherrschte sei aus der Warte der primitiven Gesellschaft eine Fiktion. Der Häuptling sei, wohlgemerkt, ohne Machtbefugnis, ein „unentgeltlicher Angestellter der Gesellschaft“, der damit beauftragt ist, sich des Willens dieser Gesellschaft, als eine „ungeteilte Totalität zu erscheinen“, anzunehmen. Er ist berufener Wortführer des gemeinsamen Zieles. Unterliegt der Häuptling der Versuchung der Macht, kommt, nach Clastres, ein einfaches Verfahren zur Anwendung: Er wird fallen gelassen, wenn nicht getötet.
Während Kramers und Sigrists Konstruktion der Subversion aus dem Geiste Rousseaus eine gewisse Friedfertigkeit und Horizontalität primitiver Gesellschaftsformen den hochgerüsteten Kriegsmaschinen moderner Nationalstaaten entgegenstellt, führt Clastres einen neuen Ton in die Debatte ein. Er behauptet, die primitiven Gesellschaften befänden sich notwendig und konsequent in einem permanenten Krieg. In einem verästelten Gedankengang wird dargelegt, weshalb Gleichheit bzw. Ungeteiltheit, die die primitive Gesellschaft charakterisieren, weder mit Freiheit noch mit Friedlichkeit in Eins zu setzen sind. Im Gegenteil. Die Ungeteiltheit des politischen Körpers reiht erstens die kollektive Funktion vor die individuelle, was die Frage nach der Freiheit anders aufwirft, als wir sie zu stellen gewohnt sind. Und zweitens beschert seine Ungeteiltheit diesem solidarpflichtigen politischen Körper eine Art von Hochempfindlichkeit, ja Gereiztheit an seinen „Rändern“, die eine Form des Besonderen zwingend macht: den Typus des Kriegers.
Das Fehlen eines Staatsapparates erweist sich nicht als Charakteristikum der Primitivität, sondern als ihr exaktes Gegenteil.
Clastres unterstellt den Kollegen vom Fach, dass sie wie hypnotisiert auf Fragen der Tauschbeziehungen, der Symbolisierung und der Ritualproduktion gestarrt hätten, um sich von dem irritierenden Interesse abzulenken, das die primitive Gesellschaft dem Kriegerischen entgegenbringt. Befangen im Modell des militärischen Gewaltmonopols sei ihnen die kriegerische Performance der von ihnen untersuchten Gesellschaften unorganisiert und willkürlich vorgekommen, was Grund genug war, sie aus ihren gelehrten Diagrammen auszublenden. Clastres legt hier eine theoretische Wasserscheide offen: Während die einen die Anthropologie in der Lehre von Gabe und Habe begründet sehen wollen, setzt Clastres auf eine andere Form der universalen Gier: diejenige nach Prestige. Dieses Begehren ist seiner Meinung nach das Betriebsmittel einer Gesellschaft, die nach Selbsterhaltung ihres ungeteilten Körpers strebt. Der Krieger nimmt sich der Erhaltung und Verteidigung dieses gesellschaftlichen Körpers in der Weise an, dass er selbst dadurch ausgezeichnet wird. Das Streben nach Prestige müsse dem kriegerischen Tun vorausgesetzt werden. Die Anthropologen seien nicht wenig verblüfft gewesen, als sie herausfanden, wie viele solche Krieger in kleinsten Gruppen oder sogar im Alleingang sich auf kriegerische Taten verlegen. Das Ideal des Krieger-Helden ist keineswegs in besonders zahlenstarken Kohorten verkörpert, sondern im herausragenden Individuum, das dann auch Wert auf die persönliche Zuschreibung eines entsprechenden Ehrentitels und das Tragen eines ihn auszeichnenden Schmuckes legt.
Der Schluss Clastres’ lautet, dass wohl besondere Zeiten kriegerischen Unternehmungen gewidmet werden, während welcher eine Gruppe zur Tat ausfährt, dass aber die kriegerischen Überfälle und Alleingänge auch nach dem Ende solcher Zeiten nicht aufhören. Es gebe bei den jungen Männern bei den Guaicuru – dies zitiert Clastres nach einer jesuitischen Quelle des 18. Jahrunderts – keinerlei Interesse an Dingen, außer an Lippenschmuck, Pferden und Waffen. Ab dem Alter von ungefähr 16 Jahren gilt die unbedingte Aufmerksamkeit der Möglichkeit, über die kriegerische Karriere Prestige anzuhäufen. Wir staunen über dieses Ideal. Sofern wir versucht sind, in Zeiten der fausse monnaie die Habgier als universale treibende Kraft zu denken – was einen unvermeidlichen Absturz der anthropologischen Diagnostik in Richtung Barbarei, Blindheit und Asozialität bedeutet –, tut uns dieses Staunen gut. Denn auch wenn der Mythos des friedlichen Wilden in sich zusammengestürzt ist, so sehen wir doch mit dem Gebot der Furchtlosigkeit und der mit ihm gekoppelten Gewaltbereitschaft in den „Gesellschaften ohne Staat“ eine Logik der Selbstachtung am Werk, die die kriseninduzierte westliche Misanthropie unterläuft. Die Guaicuru kultivierten eine derart maßlose Selbstverherrlichung, dass sie alle übrigen Völker, von denen sie Kenntnis besaßen – die Spanier inbegriffen –, als Sklaven betrachteten. Überhaupt fällt in diesem Weltbild einer Gesellschaft ohne Staat die Menschheit aufs einfachste in Freunde und Feinde auseinander. Hier setzt dann, so Clastres, die nationalstaatliche Maschine mit ihren ethnozidären Maßnahmen ein: Um zu einem Staat der Gleichen zu kommen, müssen die sezessionistischen Tendenzen der Identifikation ausgelöscht werden. Zugleich wird die Gewalt monopolisiert und die Entscheidung über Krieg und Frieden vom Körper der Gesellschaft abgelöst.
Unterliegt der Häuptling der Versuchung der Macht, wird er fallen gelassen, wenn nicht getötet.
Die staatsmonopolisierte Gewalt und die Gewalt in Gesellschaften ohne Staat bilden allerdings eine radikal verschiedene Stellung der Frau ab. Während der prestigesüchtige Krieger der akephalen Gesellschaft die Güter dieser Gesellschaft sichert, die in letzter Instanz in der Frau und ihrer Reproduktionsfähigkeit gesehen werden, ist der Krieg auf nationalstaatlicher Ebene eine Angelegenheit, die die Interessen von Frauen vollständig und absolut ignoriert. Clastres diskutiert die Merkwürdigkeit einer außerordentlich geringen Kinderzahl bei den Guaicuru und den Abiponen, die den Missionaren und Jesuiten aufgefallen war. Ein Jesuit gibt an, nur vier Paare gesehen zu haben, die mehr als ein Kind, nämlich zwei, gehabt hätten. Die Geburtenschwäche sei geradezu hervorstechend gewesen. Durch die kriegsbedingte Sterblichkeit sei das nicht zu erklären. Offenbar – und das ist nun Clastres Schluss – gab es wenig Kinder, weil die Frauen keine Kinder wollten. Die jungen Frauen seien wohl bereit gewesen, den prestigesüchtigen, gefährlichen kriegerischen Lebensstil zu teilen und sich mit Kriegern zu verbinden. Sie seien aber nicht bereit gewesen, die Mütter ihrer Kinder zu sein.
Suizidales Heldentum
Wie anders sieht das Bild aus, wenn man die Logik und Demographie des nationalstaatlichen Krieges untersucht: Gunnar Heinsohn, Soziologe an der Universität Bremen, hat in einem unlängst in der Tageszeitung Der Standard erschienenen Artikel mit dem Titel „Zum Sterben geboren, was sonst?“ ein Licht auf die sagenhaften Explosionen von Geburten bei besonders durch Krieg und Genozid heimgesuchten Nationen geworfen. Zwischen 1998 und 2003 habe es im Kongo 5 Millionen Tote gegeben; trotzdem betrug der Bevölkerungszuwachs in derselben Zeit 7 Millionen. 2008 werden 67 Millionen Einwohner gezählt, davon 16 Millionen Burschen, 9 Millionen zwischen 15 und 29 Jahren. Heinsohns Kalkül ist erschreckend: Zehn Frauen im Kongo bringen es auf 32 Söhne, in Deutschland hingegen nur auf 7. Ein ähnliches Bild bietet sich in Ruanda: Die 1995, nach dem Bürgerkrieg zwischen den Hutu und den Tutsi auf 5,5 Millionen reduzierte Bevölkerung „erholte“ sich auf derzeit 10,2 Millionen. Das männliche Durchschnittsalter in Ruanda beträgt 16 Jahre, in Deutschland liegt es heute bei 40,4 Jahren. Das „Wirtschaftswunder“ von Ruanda im Hinblick auf die Produktion von Menschen wird von Müttern vollbracht, die im Durchschnitt 5,3 Babys haben. Heinsohn sieht weitere kriegerische Aktivitäten durch diesen Überschuss an männlichen Individuen vorprogrammiert. Was sollten die „zu Vielen“ sonst tun? Ihnen bleibt, wie Heinsohn meint, nur die Verzweiflung des suizidalen Heldentums. Pierre Clastres hat den Unterschied zwischen dem Krieg unter dem Vorzeichen des staatlichen Gewaltmonopols und den kriegerischen Stolzgesellschaften sehr genau gesehen: dass nämlich in letzterer der Frau eine wesentliche Rolle zugedacht war. Die Frau, die nicht gehört wird, „schweigt“ und gebiert. Um sie wird nicht gekämpft. Ihre Produktion wird nicht geehrt, sondern nur, wie Heinsohn richtig gesehen hat, neuer Gewalt und Auslöschung vorausgesetzt. Ihre Produktion wird inflationär.