Das Reale der Diskursanalyse

Michel Foucaults Nähe zur Genetik und zur Evolutionstheorie. Von Philipp Sarasin

Online seit: 15. September 2019

Wenn man gerade jetzt zur Frage nach der „Evidenz“1 über das „Reale der Diskursanalyse“ nachdenken soll, scheint der Zeitpunkt dafür nicht schlecht gewählt. Denn was wir gegenwärtig erleben, hat mit der kulturwissenschaftlichen Frage nach der Evidenz, vielleicht auch der „Wirklichkeit“ einiges zu tun. Man könnte argumentieren, dass die Finanzindustrie in den letzten zwei Jahrzehnten in ihrem globalen und deregulierten Aufstieg zu immer größeren Gewinnmöglichkeiten nicht einfach „kapitalistisch“ war, sondern in einem spezifischen Sinne postmodern. Denn wie nirgends sonst wurde hier die postmoderne Parole ernst genommen, dass das Reale, oder einfacher gesagt: die Wirklichkeit als solche nicht die Kraft hat, unsere Wahrnehmung der Welt zu prägen, sondern dass es Zeichen und Codes, Medien, Bilder und Diskurse sind, die unsere Auffassung dessen, was die Wirklichkeit sei, bestimmen würden. Wir kennen alle die guten theoretischen Gründe, die für diesen semiotischen Konstruktivismus sprechen – und nehmen jetzt erschreckt zur Kenntnis, dass die berühmt-berüchtigten derivativen Produkte der Finanzindustrie de facto genau nach diesem Muster konstruiert wurden (ohne dass die Banker unsere Theoretiker gelesen hätten): Diese Produkte bezogen Erwartungen auf Erwartung, konstruierten Optionen auf die Erwartungen künftiger Gewinne aus der Kursbewegung von Wertschriften, die auch wiederum nur auf andere Papiere und Optionen sich bezogen – Zeichen referierten auf Zeichen, sozusagen. „Abgesichert“ aber, so haben wir gelernt, seien diese von kaum jemandem mehr durchschauten Konstrukte durch Schuldverschreibungen auf dem Markt für sehr mittelprächtige Liegenschaften in den USA gewesen, mit Liegenschaften also, für deren Hypothekarzinsen die von der Politik des Präsidenten George Bush gebeutelte amerikanische Mittelklasse aufzukommen hoffte – eine weitere ungedeckte Erwartung. Man weiß, was dann passiert ist: Dieser schäbige Rest von Realität hat das ganze System des semiotischen Kapitalismus zum Einsturz gebracht.

Es ist wohl kein Zufall, dass das nicht nur der historische Moment Barack Obamas ist, der die Rückkehr des Staates als Regulator fordert, sondern vor allem, dass wir Kulturwissenschaftler uns wieder die Frage nach der „Präsenz“ (Hans Ulrich Gumbrecht), nach dem „Realen“ (Albrecht Koschorke) oder eben auch nach der „Evidenz“ (Helmut Lethen) stellen. Wir haben zwar – im Stil einer rhetorischen Geste – mit Lacan immer beteuert, dass „das Reale“ selbstverständlich in unsere Wirklichkeit „einbrechen“ könne, aber ernsthaft beunruhigt hat das unsere Zeichenspiele nicht. Die Wirklichkeit war für die Kulturtheorie der letzten beiden Jahrzehnte gerade etwa so wichtig wie Einfamilienhäuser im Mittleren Westen für die globale Finanzindustrie in besseren Zeiten.

Ich glaube nun allerdings nicht, dass man die Präsenz oder die Evidenz oder das Reale einfach beschwören oder einfordern könnte. Dazu wissen wir zuviel über die komplexe Vermitteltheit der Wirklichkeit im Geflecht der Zeichen, Medien und Diskurse. Es ginge vielmehr darum, unsere theoretischen Modelle darauf zu befragen, ob sie der veränderten historischen Situation standzuhalten vermögen beziehungsweise wie sie allenfalls angepasst oder neu konstruiert werden müssten. Mein Ausgangspunkt dazu ist Michel Foucaults Diskursanalyse, und ein Stück weit scheint man damit in einer nicht unkomfortablen Lage zu sein. Foucault hat sich, wie sich zeigen ließe, immer sehr deutlich von der Semiotik und von der Theorie des Signifikanten distanziert2 – von Jacques Derridas Dekonstruktion ganz zu schweigen. Das will ich hier nicht näher darstellen; es reicht festzustellen, dass dies unser Problem wohl nicht wirklich löst. Denn Foucault hat seine Diskursanalyse – und dabei war er in bester philosophischer Gesellschaft – gleichwohl nicht an eine angebliche Evidenz der Dinge angeschlossen. In Die Ordnung des Diskurses von 1970 heißt es in dieser Hinsicht ebenso deutlich wie programmatisch: „Wir müssen uns nicht einbilden, dass uns die Welt ein lesbares Gesicht zuwendet, welches wir nur zu entziffern haben. Die Welt ist kein Komplize unserer Erkenntnis. Es gibt keine prädiskursive Vorsehung, welche uns die Welt geneigt macht. Man muss den Diskurs als eine Gewalt begreifen, die wir den Dingen antun; jedenfalls als eine Praxis, die wir ihnen aufzwingen.“3 Ganz unabhängig davon also, ob wir nun von den einigermaßen stabilisierten Sagbarkeitsbedingungen reden, die Diskurse herstellen, oder etwa vom Gleiten des Signifikanten und von der différance (Derrida): In jedem Fall und daher auch bei Foucault gibt es in unserem Sprechen offenbar keine Garantie für Evidenz, die von der Wirklichkeit selbst her käme.

Wie sehr diese These von guten philosophischen Eltern ist, zeigt auch ein kurzer Blick in einen Text, den Foucault oft zitierte und der bekanntlich als so etwas wie das nachträgliche Gründungsdokument der, mit Richard Rorty gesprochen, ironischen Haltung der Postmoderne4 gelten darf: Friedrich Nietzsches kurzer Essay „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn“ von 1873, wo davon die Rede ist, dass die Wahrheit nicht nur vollständig kontingent ist, sondern genauer noch dass sie ein „bewegliches Heer von Metaphern“ sei, von denen „man vergessen hat, dass sie welche sind“.5

Das rätselhafte X des Dings

Folglich bleibt für Nietzsche – und darin folgte dieser schlicht Immanuel Kant – die Wirklichkeit der Welt unfassbar: Er redet bekanntlich vom „rätselhaften X des Dings“ (S. 879), das bei allem menschlichen Sprechen und Wahrheiten Behaupten unfassbar und unerreichbar bleibe. Wenn wir nun aber weiter kurz bei Nietzsche bleiben, zeigt sich in diesem Text ein wichtiges Argument, das de facto ebenfalls kantianisch ist und das sich dann in derselben Weise auch bei Foucault findet. Nietzsche bleibt nicht einfach beim schulterzuckenden Relativismus stehen, sondern sagt über unser Sprechen zwei Dinge: Erstens entwirft er eine Art Urszene der Sprache, dergestalt, dass die frühen Menschen beim Übergang zum Leben in Gemeinschaft und einem zumindest minimalen Frieden sich auf die gemeinsame Bezeichnung der Dinge geeinigt hätten – das ist, mit anderen Worten, eine konventionalistische Theorie der Wahrheit, die die Basis für alle anderen Argumente darstellt, die ich hier nicht weiter verfolgen will. Zweitens aber, und darauf kommt es hier an, vertritt Nietzsche eine ebenfalls de facto kantianische Theorie der Evidenz, und zwar in doppelter Form: Zum einen ist für Nietzsche klar, dass wir genau das an der Welt als stabil und wahr erkennen können, „was wir hinzubringen, die Zeit, der Raum, also Successionsverhältnisse und Zahlen“, oder anders gesagt: „Alle Gesetzmässigkeit, die uns im Sternenlauf und im chemischen Processe so imponirt, fällt im Grunde mit jenen Eigenschaften zusammen, die wir selbst an die Dinge heranbringen.“ (S. 886) Das ist die kantische Seite des Arguments: Evident ist die Natur deshalb, weil die Vernunft sie mit ihren eigenen Kategorien ordnet; erkennen können wir, was wir als erkennende, sprechende und handelnde Wesen in die Natur hineinlegen.

Die Wirklichkeit war für die Kulturtheorie der letzten Jahrzehnte gerade etwa so wichtig wie Einfamilienhäuser im Mittleren Westen für die globale Finanzindustrie in besseren Zeiten.

Nicht kantianisch ist zwar die gewichtige Differenz, dass Nietzsche die „Wahrheit“ unserer Erkenntnis nicht allein an stabile Kategorien der Vernunft und der Anschauung zurückbindet, sondern sie erstens den Konventionen der Sprache und zweitens dem volatilen Spiel der Metaphern unterwirft. Das ändert aber nichts daran, dass auch für Nietzsche dasjenige, was wir an den Dingen zu erkennen vermögen, das von uns Hinzugedachte ist. Er geht daher in gleichsam kantianischer Weise über Kant hinaus, als er diese Tätigkeit des menschlichen Geistes „schöpferisch“, ja „künstlerisch“ nennt, und daher dem trockenen Begriffsmenschen den „intuitiven Menschen“ gegenüberstellt, der neue Metaphern erfindet, die mit der Zeit vielleicht zu neuen Wahrheiten werden. Dieser „intuitive Mensch“ – oder auch ein ganzes „mythisch erregtes Volk“ wie die Griechen – könne, so Nietzsche, „sich günstigen Falls eine Kultur gestalten“, und dort könne dann „die Herrschaft der Kunst über das Leben sich gründen“. Nietzsche konstruiert hier einen expliziten Gegensatz zwischen der Kultur und der so genannten Realität, wenn er mit Blick auf die griechische Kultur schreibt: „Weder das Haus, noch der Schritt, noch die Kleidung, noch der thönerne Krug verrathen, dass die Nothdurft sie erfand.“ (S. 889) Was Nietzsche in kantianischer Manier und mit seinem eigenen Zusatz des „intuitiven Menschen“ behauptet, ist nichts weniger als die Evidenz von Kultur: Es geht dabei nicht um die Frage nach der „Wahrheit“ zum Beispiel des „thönernen Kruges“ – das wäre die „Notdurft“ –, sondern um die Frage, wie die Kultur sich selbst in ihren Schöpfungen spiegelt, wie sie die Welt entwirft, um sich in ihr zu erkennen. Oder noch einfacher gesagt: Selbstverständlich ist ein großer Teil der Wirklichkeit schon nur deshalb für uns evident, weil wir sie selbst geschaffen haben.

Wie weit taucht diese Konzeption der Evidenz der Kultur auch bei Foucault auf? Um diese Frage zu beantworten, kann man mit der empirischen Beobachtung beginnen, dass sich Foucault erklärtermaßen und dezidiert immer mit Wissenschaften bzw. mit Diskursen beschäftigt hat, deren Gegenstände doch sehr zweifelhaft erscheinen, angefangen natürlich mit der Psychiatrie und der Psychopathologie und ihrem Gegenstand, dem Wahnsinn, dann mit Strafrechtsdiskursen und dem kriminellen Subjekt als deren Gegenstand, oder schließlich mit der Sexualpathologie und ihrem noch schwieriger zu fassenden Objekt: Von all diesen Diskursen hat Foucault immer gesagt und in seiner Archäologie des Wissens von 1969 in einer schon beinahe kanonischen Formulierung festgehalten, dass Diskurse als Praktiken „systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“.6 Es ist in der Forschung oft darauf hingewiesen worden, dass Foucault Kant viel verdankt, er hat es selbst ausdrücklich gesagt. Daher kann man nun hier, auch über den Vermittler Nietzsche, festhalten, dass Foucault Diskurse als Praktiken – als Klassifikations- und Bezeichnungspraktiken – sieht, die die Welt der Dinge so umformen, dass sie uns dann eben doch ein lesbares Gesicht zuwenden, ja, dass zumindest eine ganze Reihe von Dingen wie der Wahnsinn oder der Sex weitgehend als von uns, von der Kultur geschaffen erscheinen. Das bedeutet nicht, dass uns das auch bewusst sei – ja, die Evidenz von Kultur besteht üblicherweise gerade darin, dass uns die Konstruiertheit ihrer Gegenstände nicht bewusst ist, sondern uns diese als – wie schon Karl Marx so schön sagte – „naturwüchsig“ erscheinen. Diese Evidenz-Illusion aufzulösen ist seit Marx die Aufgabe der historischen Kritik, und diese Aufgabe erscheint bei Foucault zuerst in Gestalt der Diskursanalyse, uns die Gegenstände des Wissens als kontingente Schöpfungen der Kultur bewusst und der Kritik zugänglich zu machen; auf die zweite Gestalt dieser historischen Kritik, die Genealogie, werde ich zurückkommen.

Der Diskurs als Apparat

Das alles ist wohl bekannt, dennoch möchte ich hier noch einen wichtigen Unterschied zu einer rein semiotischen oder kulturalistischen Position markieren. Foucault hat sich, wie erwähnt, deutlich von der Semiotik distanziert; er konzipierte Diskurse nicht als ein permanentes Gleiten, als Apparat zur Produktion von différance, sondern im Gegenteil als einen Apparat, der nach Möglichkeit nicht nur semantische Stabilität garantieren soll – und damit Widererkennbarkeit bzw. Evidenz. Doch mehr noch: Foucault konzipierte Diskurse als einen Apparat, der Gegenstände hervorbringt. Die Differenz zur – wie man verkürzend sagen könnte – postmodernen Zeichentheorie besteht dabei darin, dass die Frage des Analytikers nicht darauf zielt, das Spiel der différance nachzuzeichnen und zu behaupten, es könne gar nichts anderes geben als dieses endlose Verweisen von Zeichen auf andere Zeichen, von Sprachspielen auf andere Sprachspiele, wie etwa Rorty betont. Der Analytiker zielt vielmehr darauf, die diskursive Maschine zu verstehen, welche jene Gegenstände hervorbringt, die eine Weile lang stabil und ziemlich real sind.

Dennoch ließe sich einwenden, dass das noch kein sehr starkes Argument sei, sondern dass, wie auch immer man es wenden möge, kulturelle Praktiken eben kulturelle Produkte hervorbringen, von denen wir nicht zu sagen vermögen, was diese mit der Wirklichkeit in einem mutmaßlichen Außerhalb zu tun haben. Foucault war in dieser Hinsicht ziemlich zweideutig. In der Archäologie bemerkt er kurz, selbstverständlich wäre „eine Geschichte des Referenten möglich“ (S. 72) – also eine Geschichte der Dinge unterhalb der Ebene des Diskurses; und in Die Ordnung des Diskurses sagte er bekanntlich über Gregor Mendels Genetik: „Mendel sagte die Wahrheit, aber er war nicht ‚im Wahren‘ des biologischen Diskurses seiner Epoche.“7 Wir haben den ersten Teil des Satzes bisher vielleicht ein wenig überlesen: „Mendel sagte die Wahrheit“ – aber diese konnte noch nicht gehört werden, weil, so Foucault in einer anderen berühmten Formulierung, er nicht „den Regeln einer diskursiven ‚Polizei‘ gehorchte“ (S. 25): Der Diskurs ist, mit anderen Worten, eine Art kulturelle Zwangsveranstaltung, die Erkennbarkeit und Evidenz garantiert – aber Foucault mochte doch bei Wissenschaften, die weniger zweifelhafte Gegenstände behandelten als die Psychopathologie oder die Sexualpathologie, durchaus von der Wahrheit sprechen, die auch außerhalb des Diskurses einer Epoche liegen konnte, ohne deshalb unwahr zu sein, ja, ohne deshalb prinzipiell nicht wahr sein zu können. Er hat auch nie behauptet, die Physik Newtons oder Maxwells oder die Biologie Darwins seien bloß „Diskurse“ gewesen …

Die Logik des Lebenden

Ich möchte das erkenntnistheoretische Problem, das sich hier stellt – nämlich: wie sich die Wahrheit etwa der Mendelschen Genetik denn bestimmen lasse, wenn nicht einfach an einem späteren Diskurs – auf sich beruhen lassen und stattdessen festhalten, dass für Foucault Diskurse erstens Gegenstände schaffen und Wahrheiten generieren, und zweitens, dass sie sich eine Zeitlang im Medium der Kultur kopieren und damit Gegenstände und Wahrheiten auf Dauer zu stellen vermögen. Damit könnte man es bewenden lassen – Kultur bringt ihre eignen Produkte hervor, und die erscheinen ihr dann evident; die Frage naturwissenschaftlicher Wahrheiten ist damit eher umgangen, wird aber, so scheint es, von Foucault auch nicht weiter diskutiert.

Foucault war allerdings mit dieser Lösung nicht zufrieden, weil sie ihm erkennbar zu „kulturalistisch“ war. Er machte dies kurz der Publikation der Archéologie du Savoir von 1969 verschiedentlich deutlich, so zum Beispiel in einem kurzen Text, in dem es um die avancierteste Naturwissenschaft seiner Zeit geht: Die Rede ist von der Genetik François Jacobs, der 1965 mit dem Nobelpreis für Medizin und Physiologie ausgezeichnet wurde; Foucault hat die molekulargenetischen Forschungen von Jacob und seine Kollegen offensichtlich verfolgt, und er publizierte im November 1970 in Le Monde eine Besprechung von Jacobs Buch La Logique du Vivant (dt.: Die Logik des Lebenden), das eine Geschichte der Biologie bis hin zur Bakteriengenetik der 1960er Jahre bietet und das Foucault begeistert rezensierte. Ich will aus diesem erstaunlichen Text nur einige Punkte genauer betrachten. Zum einen wird deutlich, dass Foucault den Kopiervorgang der DNA mittels RNA-Matrizen – der bei den Bakterien, die Jacob untersucht, noch ohne Sexualität und ohne den Tod vonstatten geht, wie Foucault besonders hervorhebt – ganz anders als viele Genetiker, aber auch als viele strukturalistische Semiotiker wie etwa Roman Jakobson8, nicht als Sprache begreift: Foucault folgt vielmehr Jacob und dessen ähnlicher Auffassung, wenn er in Bezug auf die genetischen Kopiervorgänge schreibt: „Man muss […] beachten, dass die Interpreten hier die Reaktionen selbst sind: es gibt keinen Leser, keinen Sinn, sondern ein Programm und eine Produktion. Es ist sinnlos, hier von einer Sprache zu sprechen, und sei es die Sprache ‚der Natur‘.“9

Diskurse kopieren sich, ohne dass sie – wie Foucault nicht müde wurde zu betonen – von einem Sinn gesteuert sind oder von einem Interpreten verstanden werden müssen.

Dazu sind zwei Dinge zu sagen: Erstens gleicht diese Konzeption der Kopiervorgänge des genetischen Codes ziemlich genau der Art, wie Diskurse sich reproduzieren: Sie kopieren sich, ohne dass sie – wie Foucault nicht müde wurde zu betonen – von einem Sinn gesteuert sind oder von einem Interpreten verstanden werden müssen. Ihr einziger „Sinn“ sind die Gegenstände, die sie generieren: Diskurse sind Matrizen zur Produktion von gesellschaftlicher Realität, von kultureller Evidenz. Man muss nicht behaupten, Foucault habe bei der Abfassung der Archäologie des Wissens die Genetik direkt vor Augen gehabt, aber bei der Lektüre Jacobs kommt ihm die Genetik offensichtlich sehr vertraut vor. Und zwar so vertraut, dass er diese, wie Foucault sagt, jede Substanz oder Essenz „des“ Menschen  zerstreuenden Kopiervorgänge der DNA auf seine eigene Analyse vom Verschwinden des Menschen in Die Ordnung der Dinge von 1966 rückbezieht. Er schreibt dazu in der Besprechung von Jacobs Buch: „Kann man diese produktive Ernüchterung mit derjenigen vergleichen, die man heute erfährt, wenn man gewahr wird, dass man den ‚Menschen‘ oder die ‚menschliche Natur‘ meiden muss, wenn man die Systeme der Gesellschaft und des Menschen analysieren will?“ (S. 128) Offensichtlich – genau das dachte Foucault. Kurzum: Die genetische Replikation ist keine Sprache, sondern eine Matrize zur Produktion von Gegenständen und gleicht darin exakt dem, was Foucault als Diskurs zu beschreiben versuchte. Und zweitens hat dies zur Konsequenz, dass sich das Bild des Menschen auflösen wird wie ein Gesicht im Sand.

Die Evolution des Diskurses

Das ist aber noch nicht alles. Foucault fährt nach der eben zitierten Passage aus der Buchbesprechung mit den Worten fort: „Hören wir die glänzende Lektion von François Jacob“, und er zitiert nun unter anderem Jacobs Worte: „Ein lebendes System zu beschreiben heißt, sich sowohl auf die Logik seiner Organisation wie auf die seiner Evolution zu beziehen.“ Foucault schließt gleich danach seine Rezension mit den Worten, das Buch Jacobs lade „zu einem großen Wiedererlernen des Denkens ein“. Nun – das ist emphatisch – doch was heißt das für Foucault? Ich will nur auf einen Punkt hinaus: Was Foucault bei Jacob findet, ist die Verbindung der Logik der Organisation – d.h. der horizontalen Ebene der Reproduktion des Codes, der wirklichkeitsgenerierenden Diskurse, wie er sie in der Archäologie beschrieben hat – mit der vertikalen Achse dessen, was Jacob die Evolution nennt und was Foucault in genau jener Zeit und mit Bezug auf Darwin und Nietzsche Genealogie nennen wird.10 Die Analyse lebendiger Systeme habe demnach zwei Achsen, die sich kreuzen: eine archäologische Achse, und hier sprach Jacob auch von den „Algorithmen der lebenden Welt“;11 Foucault hat diese Achse in den Diskursen verschiedener Wissenschaften und den Codes der Disziplinaranstalten untersucht – weil er, um dies zu wiederholen, der Auffassung war, dass diese Diskurse und Codes ebenso Wirklichkeit generieren wie die RNA-Matrizen in den Zellen Proteine produzieren. Jacob aber erinnerte daran – zusammen mit der Biologie seiner Zeit und ganz im Sinne von Foucaults eigener Lektüre Darwins –, dass die zweite, die vertikale Analyseachse die genealogische zu sein und man daher die Geschichte dieser Kopiervorgänge als eine Geschichte von Mutationen und Rekombinationen zu untersuchen habe.

An diesem Punkt sind wir, so meine ich, endlich in der Lage, die Frage nach dem Realen der Diskursanalyse wirklich zu stellen. Denn wenn Diskurse Kopiermaschinen sind, die ihre eigene Wirklichkeit reproduzieren, dann scheint das Reale dieser Vorgänge nicht das zu sein, was sie produzieren – die Gegenstände, die sie hervorbringen, sind ein Abgeleitetes, ein gemäß einem kulturellen Muster Hergestelltes. Diskurse produzieren zwar die Evidenz von Kultur, ihre Produkte können aber nicht selbst das Reale der Diskursanalyse sein, auch wenn es, so Foucault, keinen Interpreten und keinen Sinn braucht, um sie hervorzubringen. Doch was wäre die Alternative? Ist es die Genealogie? Man kann mit guten Gründen sagen, dass die genealogische Frage nach der Herkunft und der Abfolge von Diskursen sich selbstverständlich ihrerseits auch immer nur im Rahmen von Diskursen bewegen kann, dass sie historiographischen Mustern folgt etc. Ich neige zwar dazu, die Möglichkeit, wahre Sätze über die Vergangenheit zu äußern, nicht einfach auszuschließen. Es wäre absurd zu behaupten, wir hätten keine Möglichkeit, wirklich festzustellen, wie Dinge in zeitlicher Sukzession auseinander hervorgehen. Die Evolutionsbiologie basiert darauf, dass man feststellen kann, wie Generationen aufeinander folgen, und auch wir können zumindest in den allermeisten Fällen zweifelsfrei sagen, wer unsere Mutter war. Es gibt also so etwas wie einen harten Kern der Erkennbarkeit von historischer Realität – die Abfolge der Generationen ist vielleicht das ursprünglichste Muster von Geschichte und der Erfahrung von Geschichtlichkeit überhaupt. Der Einwand allerdings liegt auf der Hand: nämlich, dass die Geschichte sehr viel komplexer ist als die bloße Abfolge von Generationen und wir angesichts dieser Komplexität möglicher historischer Faktoren doch auf die ordnende Funktion von Diskursen angewiesen sind.

An diesem Punkt ist es vielleicht nützlich, noch einmal zu Nietzsche zurückzukehren und die Art seiner Argumentation genauer zu betrachten. Nietzsche nennt, wie erwähnt, die Wahrheit ein „bewegliches Heer von Metaphern“ – doch im selben Text bietet er eine Geschichte davon, wie diese Metaphern zu Wahrheiten wurden. Man kann diese Geste in der gesamten Genealogie Nietzsches beobachten: Der Genealoge erkennt hinter den Mustern seiner Kultur die wahre Geschichte ihres Herkommens. Foucault macht nichts anderes, wenn er etwa im Aufsatz „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“ von 1971 schreibt, dass alle Diskurse und kulturell stabilisierten Regeln ihre Wurzel im unausgesetzten Krieg zwischen Herrschern und Beherrschten hätten, dessen einzige „Regel die kalkulierte Lust am Gemetzel und die Hoffnung auf Blut“ sei. Die kodifizierten Regeln seien als solche „leer“, ja selbst „gewalttätig“.12 Unabhängig davon, ob wir diese Herkunftsgeschichte in jedem Fall als adäquat – als „wahr“ – betrachten oder ob wir, gestützt auf historisches Material, doch eine andere Interpretation vorschlagen möchten, so gilt doch, dass wir Interpretationen dieses Typs genealogisch nennen, weil sie auf das reale Herkommen von Kultur und von kulturellen Gegenständen zielen. Der entscheidende Punkt ist dabei: Diese Interpretationen wollen nicht Interpretationen sein, sondern die nackte, kalte historische Wahrheit gegenüber den Prätentionen der Kultur. Damit aber produziert der Genealoge, der weiß, dass Wahrheiten ein bewegliches Heer von Metaphern sind, systematisch einen unhintergehbaren performativen Selbstwiderspruch. Der Genealoge muss behaupten, dass es möglich sei, eine historische Wahrheit zu erkennen, obwohl er als Archäologe gleichzeitig weiß, wie solche Wahrheiten zustande kommen. Die Biologie kennt einen ähnlichen Widerspruch: Sie muss die biologische Erkennbarkeit von kopiergenau sich reproduzierenden Arten behaupten, obwohl sie das, was diese Arten „sind“, nur evolutionsbiologisch, das heißt von ihrer Geschichte, oder wie Foucault sagt, von ihren Kopierfehlern her erklären kann.

Zum Schluss bleibt mir nur noch eine sehr kurze Feststellung: Das Reale der Diskursanalyse ist genau jener unmögliche Schnittpunkt, in dem die archäologische Achse der Kulturanalyse von der genealogischen Achse der Geschichte gekreuzt wird. An diesem Punkt ist das Begehren des Historikers eingelassen, als Genealoge die geschichtliche Wahrheit der archäologisch bloß beschreibbaren kulturellen Codes und Diskursmuster als eine reale Geschichte ihres Herkommens zu enthüllen. Ohne dieses Begehren – bzw. mit dem offensiven Verzicht auf dieses Begehren – würde Kulturanalyse zum zynischen Spiel bloßer Selbstreferenzialität, die die Frage nach historischer Realität in die Variation ihrer Beschreibungen auflösen will. Der Diskursanalytiker Foucault ist genau deshalb kein Postmoderner gewesen, weil er sich diesem performativen Selbstwiderspruch ausgesetzt hat und die Genealogie dort installierte, wo er den Mangel der Archäologie empfand.

1 Was zeigt sich? Evidenz in den Kulturwissenschaften“. Tagung am Intenationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) Wien, 23.-25. Oktober 2008. Der vorliegende Text folgt weitgehend dem Referat, das ich auf dieser Konferenz gehalten habe.

2 Vgl. dazu meine Darstellung in Philipp Sarasin: Michel Foucault zur Einführung, Hamburg: Junius 2008 (3. Auflage, 1. Auflage 2005), insb. Kapitel 4.

3 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France – 2. Dezember 1970, Frankfurt/M.: Fischer 1991 (L’Ordre du Discours, Paris 1970), S. 36f.

4 Vgl. Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992.

5 Friedrich Nietzsche: „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, in: ders., Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, hg. von G. Colli. M. Montinari, München, Berlin, New York: dtv/de Gruyter 1980, S. 873-890, Zitat S. 880-881.

6 Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995 (Paris 1969), S. 74.

7 Foucault, Ordnung des Diskurses, S. 24.

8 Vgl. dazu Lily E. Kay: Das Buch des Lebens. Wer schrieb den genetischen Code?, München: Hanser 2001 (Originalausgabe Stanford University Press 2000), insb. S. 394-409.

9 Michel Foucault: „Wachsen und vermehren“, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band I: 1970-1975, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 123-128, Zitat S. 127.

10 Vgl. dazu ausführlich Philipp Sarasin: Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009.

11 François Jacob: Die Logik des Lebenden. Von der Urzeugung zum genetischen Code, Frankfurt/M.: S. Fischer 1972 (Paris 1970), S. 319.

12 Michel Foucault: „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band II: 1970-1975, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 166-190, S. 177.

Philipp Sarasin, geboren 1956, ist Professor für Neuere Allgemeine Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich. Von ihm erschienen u.a. Anthrax. Bioterror als Phantasma (2004) und Michel Foucault zur Einführung (2005). Im Februar 2009 wird sein neues Buch Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie bei Suhrkamp erscheinen. Der hier abgedruckte Text basiert auf einem Vortrag, den Sarasin im Oktober 2008 am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien gehalten hat.

Quelle: Recherche 3/2008

Online seit: 15. September 2019