Das Panthéon in Paris ist den grands hommes gewidmet und erhebt sich über das gesamte Quartier Latin, ein Meisterwerk des Klassizismus und heute selbstverständlich ein Touristenmagnet. Innen drängen sich die Besucher an den Gräbern der großen Männer – die großen Frauen mussten bis 1995 warten, als die sterblichen Überreste von Marie Curie Aufnahme fanden.
Die Überführung ins Panthéon ist eine Art säkulare Heiligsprechung in Frankreich, aber auch eine Inbesitznahme vonseiten der Herrschenden, die Debatte um Sarkozys Wunsch, auch Albert Camus dort beizusetzen hat erst kürzlich wieder gezeigt, wie emotional das Thema noch immer ist. Den Touristen ist all das egal. Sie lassen sich in der Krypta vor den Sarkophagen von Voltaire und Rousseau fotografieren und bewundern oben das Foucault’sche Pendel. Das Denkmal für die Encyclopédie und ihren Herausgeber Diderot an einer Säule direkt daneben bemerkt kaum jemand.
Nur wenige reflektieren über das Geschichtsbild, das sich in diesen Monumenten ausdrückt. Voltaire war 1791 der zweite grand homme, der hier beigesetzt wurde, und der erste, der blieb – Mirabeau wurde zuerst feierlich aufgenommen und dann wieder hinausgeworfen. 1794 kam Jean-Jacques Rousseau an die Reihe, auch wenn sein größter Bewunderer unter den Revolutionären, kein anderer als Maximilien Robespierre, bereits einige Monate vorher seine brutale Tugendherrschaft unter der Guillotine beendet hatte.
Geschichte wird von Siegern geschrieben, und die Sieger feierten Voltaire und Rousseau als spirituelle Väter der Revolution, der Republik, des Neubeginns. Dabei war Voltaire zu Lebzeiten zwar die Gallionsfigur der Aufklärung, aber weder der einzige, noch der konsequenteste Pionier der Menschenrechte – im Gegenteil, seine Reputation und sein persönlicher Reichtum beruhten auf einer Art von Toleranz, die gerade den Mächtigen gegenüber besonders stark ausgeprägt war. Aus seinem Exil in Ferney zog Voltaire die Fäden im intellektuellen Europa, nutzte seinen öffentlichkeitswirksamen Kampf gegen Aberglauben und Willkür als Vehikel für den eigenen Ruhm und sabotierte systematisch diejenigen, die drohten, ihm Konkurrenz zu machen. Jean-Jacques Rousseau bietet ein noch ambivalenteres Bild. Er wurde zum erklärten Feind der Aufklärung und zum spirituellen Vater der totalitären Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts.
Trotz solcher Verwerfungen wurde das ungleiche Paar ins Allerheiligste der französischen Republik und ins Pantheon des europäischen Denkens aufgenommen und gelten die beiden noch heute als die wichtigsten Gewährsmänner der persönlichen Freiheit, der Toleranz und der Brüderlichkeit. In der Krypta wird ihr Andenken zelebriert, während einen Stock höher eine weitere Figur der französischen Lumières gewissermaßen antichambriert: Diderot, der in der Haupthalle als Herausgeber eines Nachschlagewerkes gewürdigt wird – ein Denkmal, das allerdings erst 1925 installiert wurde.
Zu seinen Lebzeiten galt Diderot als der mutigste aller Aufklärer in Europa, und nicht nur, weil er die Encyclopédie herausgab. Wie auch sein Freund und Mitstreiter Thiry d’Holbach liegt er anonym am anderen Ufer der Seine begraben, in der Kirche der Pfarre Saint-Roch an der rue Saint-Honoré in der Nähe des Louvre. Die Grabinschriften der beiden sind längst verloren gegangen, ihre Gräber unauffindbar, kein Tourist verirrt sich in die barocke Kirche, um zwei Vordenker der Aufklärung zu finden. Mehr noch: Wer heute das Wort „Aufklärung“ gebraucht, meint meistens Voltaire und Immanuel Kant, nicht aber Diderot und Holbach. Rousseau ist ein komplizierterer Fall, aber wohl der bis heute einflussreichste Autor von allen.
Wie kommt es, dass Voltaire und Rousseau den Streit um die Nachwelt gewonnen haben, während Holbach völlig vergessen ist und Diderot zum vielschreibenden Enzyklopädisten herabgewürdigt wurde und als Philosoph nur wenigen bekannt ist? Wie lässt es sich erklären, dass eine Art von Aufklärung dominant geworden ist, während eine zweite, wesentlich radikalere, kaum über die Universitäten hinaus bekannt ist?
Die „böse Gesellschaft“
Diderot und Holbach sind physisch verschwunden, und mit ihnen verschwanden auch die intensiven Diskussionen des Freundeskreises, der sich fast drei Jahrzehnte lang, von etwa 1750 bis in die späten 1770er-Jahre, in Holbachs Stadthaus traf. Seine Adresse in der rue royale Saint-Roch, der heutigen rue des Moulins, ein paar hundert Meter von der Kirche Saint-Roch entfernt (das Haus steht heute noch), wurde zum ersten Anlaufpunkt von progressiven und revolutionären Denkern aus ganz Europa. Franzosen wie Jean d’Alembert und der Comte de Buffon, Ausländer wie David Hume und Adam Smith, Lawrence Sterne und Cesare Beccaria, sie alle haben an Holbachs Tisch gesessen und bis spät in die Nächte hinein gestritten, geredet und getrunken, „wann immer ich in Paris bin, gehe ich zu dieser bösen Gesellschaft“, schrieb etwa der große Londoner Schauspieler und Theaterreformer David Garrick einem Freund.
Der Holbach-Kreis, eine böse Gesellschaft? Was Garrick scherzend nach England schrieb, reflektiert in vieler Hinsicht die Wahrnehmung der Zeitgenossen. Was also wurde in Holbachs Salon diskutiert?
Die Rekonstruktion von einem Vierteljahrhundert an Tischgesprächen und Disputen steht vor dem offensichtlichen Problem, dass sie nicht niedergeschrieben wurden, auch ganz bewusst, denn Geheimpolizei und Zensur suchten nur nach Vorwänden, den berüchtigten Freigeistern das Leben schwer zu machen. Was an Holbachs Tisch gesagt wurde blieb unter Freunden. Diese Freunde allerdings waren als Korrespondenten und Autoren immens produktiv, und so haben wir in ihren Briefwechseln, Romanen, Theaterstücken, in philosophischen Werken und Kunstkritik, Aufsätzen und Prosaskizzen eine Fülle von indirekten Hinweisen darauf, wer in Holbachs Salon welche Position vertrat.
Voltaire: „Ich will, dass mein Anwalt, mein Schneider, meine Diener und meine Frau an Gott glauben, denn dann, denke ich, werde ich seltener beraubt und betrogen.“
Das intellektuelle Profil des Salons wurde entscheidend geprägt vom Gastgeber, Baron Paul Thiry d’Holbach (1723–1789), und seinem wohl prominentesten Dauergast und persönlichen Freund Denis Diderot (1713–1784), deren Lebensläufe und Werke exemplarisch für andere aus dem Kreis stehen.
Holbach wurde als Sohn eines Winzers in der Pfalz geboren und kam schon als Kind nach Paris, wo ein reicher Onkel sich seiner Erziehung annahm. Er studierte an der Universität Leiden, damals ein Zentrum der naturwissenschaftlichen Revolution und Refugium für radikale Philosophen, die andernorts um ihr Leben fürchten mussten. Unter ihnen waren beispielsweise der Franzose Julien Offray La Mettrie, der die Existenz einer unsterblichen Seele rundweg leugnete und dessen unnachgiebiger Materialismus und hedonistische Grundeinstellung sich in den Titeln seiner beiden Hauptwerke widerspiegeln: L’homme machine (Der Mensch als Maschine, 1747) und L’art de jouir (Die Kunst, Wollust zu empfinden, 1751). Ein Jahrhundert früher hatte René Descartes in Leiden Zuflucht gesucht, und auch Spinoza hatte dort studiert und den Rest seines Lebens im nahen Rijnsburg verbracht.
Das empirische und ausgesprochen internationale Klima an der Universität begeisterte den jungen Holbach. Als er 1749 wieder nach Paris zurückkam, suchte er nach einem Projekt, bei dem er seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse einbringen und die intellektuelle Freiheit seiner Studententage weiterführen konnte. Er fand es in der Encyclopédie, deren Herausgeber, der 37-jährige Denis Diderot, gerade die erste große Krise seiner professionellen Laufbahn hinter sich hatte.
Anders als sein späterer Freund kam Diderot nicht aus großbürgerlichem Hause. Sein Vater war Klingenschmied in Langres, in der Champagne, hatte seinen intelligenten ältesten Sohn dazu bestimmt, Priester zu werden und schickte ihn in die Hauptstadt, wo er die beste Ausbildung bekommen konnte. Schon im Alter von 13 Jahren wurde der Junge Abbé, die sogenannten „niederen Weihen“, deren Träger meist Gelehrte wurden, und erhielt die Tonsur.
In Paris angekommen, fand der junge Denis bald, dass die Metropole außer theologischen Traktaten und feierlichen Messen noch andere Attraktionen bot. Es zog ihn in die Theater und in die Halbwelt der Cafés, in denen getrunken, Schach gespielt und diskutiert wurde. Schon bald brach der junge Mann seine Ausbildung ab und lebte von der Hand in den Mund als Nachhilfelehrer und Übersetzer.
Seine wesentlichen intellektuellen Impulse bezog Diderot am Anfang seiner Karriere aus der epikureischen und stoischen Philosophie der Antike und frühen Aufklärern wie Pierre Bayle, Charles de Montesquieu und Shaftesbury, den er auch ins Französische übertrug. Als er sich 1749 mit einem kleinen, skeptischen Werk selbst als Philosoph etablieren wollte, wurde sein Übermut sofort bestraft. Mehrere Monate lang verbrachte er in einer Zelle in der Festung von Vincennes, bevor er auf Betreiben einflussreicher Freunde wieder freigelassen wurde – allerdings nicht ohne ein Dokument unterzeichnet zu haben, in dem er unter Androhung lebenslanger Haft versicherte, nie wieder philosophische Werke zu verfassen.
Der Ex-Abbé und der wohlhabende Amateurwissenschaftler freundeten sich rasch an und scharten in Holbachs Salon Gleichgesinnte um sich. Zu den Gründungsmitgliedern des Zirkels gehörte auch Jean-Jacques Rousseau, damals einer der engsten Freunde Diderots. Ihr gemeinsames Anliegen war sowohl politisch als auch philosophisch und fand schon bald den väterlichen Beifall von Voltaire: der Kampf gegen Ignoranz und Aberglauben, besonders gegen die unbeschränkte Herrschaft der Kirche und die Neubegründung einer säkularen Moral.
Das entschleierte Christentum
Während Voltaire, der Schutzpatron der Aufklärung, die meist anonym aus der rue Royale strömenden Publikationen anfangs noch wohlwollend kommentierte, wurde sein Ton schärfer, sobald deutlich wurde, dass Diderot und Holbach nicht die Absicht hatten, als bloße Epigonen im Kielwasser des großen Mannes zu fahren. Tatsächlich war ihre Gedankenwelt um so viel radikaler, dass Voltaire ihre Positionen nicht mehr akzeptieren konnte und begann, sie seinerseits zu unterminieren.
Diese Wende kam nicht von ungefähr. Voltaire war unendlich scharfsinnig, unerhört provokant und zitierbar, achtete aber immer darauf, nicht über das Ziel hinauszuschießen und die aufgeklärteren Köpfe in Europas Fürstenhäusern nicht zu verprellen. Er wandte sich gegen Aberglauben und gegen den Machtmissbrauch der Kirche, wollte aber aus sehr pragmatischen Motiven mit der Religion nicht brechen: „Ich will, dass mein Anwalt, mein Schneider, meine Diener und meine Frau an Gott glauben, denn dann, denke ich, werde ich seltener beraubt und betrogen“, befand er, geistreich wie immer. Seine Sorge um Eigentum und Status kam nicht von ungefähr: Er war ein reicher Mann und vermehrte seinen Reichtum, indem er gut verzinste Darlehen an Fürstenhäuser vergab, an dieselben Fürsten also, deren Willkür er in seinen weithin bewunderten
Büchern geißelte.
Im Gegensatz zu Voltaire war Holbachs Opposition gegen alle Religion von geradezu teutonischer Konsequenz. In seinem unter einem Pseudonym erschienenen Werk Christianisme dévoilé (Das entschleierte Christentum, 1761) polemisierte der Baron gnadenlos gegen die christliche Doktrin und den Glauben an einen Gott:
Durch einen unvorstellbaren Akt der Allmacht läßt Gott das Universum aus dem Nichts hervorkommen; er erschafft die Welt, um Wohnstätte des Menschen zu sein, den er in seinem Bilde macht; kaum hat dieser Mensch, das einzige Objekt von Gottes Bemühungen, das Licht der Welt erblickt, stellt sein Schöpfer ihm eine Falle, in die er sicherlich tappen muß. Eine sprechende Schlage verführt eine Frau, die sich über dieses Phänomen nicht weiter wundert und die … ihren Mann dazu bringt, eine Frucht zu essen, die Gott selbst verboten hat. Adam, der Stammvater der Menschheit, zieht durch diesen Fehler auf sich und seine unschuldige Nachkommenschaft ein Heer von Übeln herab, auf welche der Tod folgt, ohne sie zu beenden.
Die ganze Menschheit, so schloss der Baron sarkastisch, sei wegen eines einzigen Apfels verdammt worden. Das Grundübel seiner Zeit, so argumentierte er, war die Unfähigkeit der Menschen, eine einfache, empirische Erklärung ihrer Existenz hinzunehmen und ihre letztendlich narzisstische Überzeugung, dass die Welt, in der sie lebten, einfach nicht sinnlos sein könne, wie er in seinem Hauptwerk Système de la nature ausführte:
Der Mensch ist unglücklich, weil er die Natur schlecht kennt. Sein Geist ist so infiziert von Vorurteilen daß man meinen könne, er sei verdammt, ewig im Irrtum zu verharren: Die Augenbinde der Meinung, die ihm von frühester Kindheit umgebunden wird, ist so eng, daß es nur unter größten Schwierigkeiten möglich ist, sie abzunehmen. [Der Mensch] verachtet die Wirklichkeit, um über Chimären zu meditieren… er verweigert das Studium der Natur um Gespenstern nachzulaufen, die ihm Angst machen oder ihm Hoffnung geben… und ihm vom einfachen Weg der Wahrheit abbringen, ohne den er nicht zum Glück finden kann.
Tatsächlich beginnt mit der französischen Revolution die systematische Unterdrückung beziehungsweise Marginalisierung der radikalen Aufklärung.
Anstatt also die materielle Welt zu verstehen, so der Baron, zogen Menschen extravagante Wundermärchen vor und unterwarfen sich aus Ignoranz oder Furcht einer „Verschwörung der Priester und Magistrate“, die diese Märchen nutzten, um ihre Macht zu erhalten – ein Gedanke, in dem der Keim der Revolution steckt.
Holbach war der erste Autor seit der Antike, der solche Gedanken in Buchform (wenn auch ohne Nennung des eigenen Namens) publizierte. Völlig neu waren diese Ideen freilich nicht. Schon dreißig Jahre vor ihm hatte das Testament des Priesters Jean Meslier in mehreren handschriftlichen Exemplaren die Runden gemacht. Nach einem scheinbar ereignislosen Leben als Landpfarrer hatte der verbitterte Meslier ein Dokument von enormer intellektueller Sprengkraft hinterlassen, ein wütendes, proto-sozialistisches, 700-seitiges Manifest gegen die Kirche, das Christentum und die Mächtigen, in dem er seine Leser anflehte, endlich zu begreifen, dass sie systematisch betrogen wurden. Voltaire ergriff die Gelegenheit und gab das Testament als Buch heraus – „gereinigt“ von allen atheistischen und anarchistischen Passagen und so effektiv kastriert.
Holbach und Diderot kannten ihre Vorgänger und beriefen sich auf sie. Die konsequente Opposition gegen Kirche und Religion war aber erst der ihres philosophischen Vorhabens. Aufbauend auf einem strikt naturalistischen Weltbild, das Menschen als biologische Maschinen in einem sinnlosen Universum begriff, begannen sie, eine Moral zu formulieren, die ganz im Sinne ihrer antiken Vorbilder Epikur und Lukrez auf dem hedonistischen Kalkül beruhte: „Der Mensch liebt Lust und flieht Schmerz, und in jeder Gesellschaft ist er umgeben von fühlenden Wesen, die wie er Lust suchen und Schmerz fliehen,“ schrieb Holbach.
Der kompromisslose Materialismus der beiden Freunde, die hier auch für andere Mitglieder des Salons stehen, führte sie zu weitreichenden Schlussfolgerungen. Holbach spekulierte, dass das Leben durchaus durch einen Meteoriten auf die Erde gekommen sein könnte und dass unterschiedliche Lebensformen sich kontinuierlich weiterentwickeln werden, eine Ansicht, die in direktem Widerspruch zum biblischen Schöpfungsbericht stand. Auch Diderot war der Ansicht, dass das menschliche Leben nur eine von vielen, sich dauernd verändernden Lebensformen sei und zog daraus Konsequenzen (wie so oft in Form einer Anekdote), die ihn in bemerkenswerte Nähe zu Charles Darwin bringen:
Ein Posten wird frei; eine Frau nützt ihre Verführungskünste; sie lüpft ihren Rock ein wenig; sie läßt ihn wieder herunter und voilà ihr Mann, ein armer Schreiber mit hundert Francs im Monat, ist plötzlich Monsieur le Directeur mit fünfzehntausend Livres pro Jahr. Aber wo liegt die Verbindung zwischen einer gerechten und großzügigen Tat und dem wollüstigen Verlust einiger Tropfen Flüssigkeit? Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube, die Natur ist gleichgültig gegenüber gut und böse. Sie hat nur zwei Ziele: die Erhaltung des Individuums und die Fortpflanzung der Art.
Zitate wie dieses zeigen einerseits, warum die Beschäftigung mit Diderot immer wieder ein Vergnügen ist und andererseits, warum er noch heute kaum als großer Denker anerkannt ist. Als Philosoph war er nicht nur mit einem strikten Publikationsverbot belegt, er war auch vom Temperament her kein Systematiker. Immer wieder wiesen Zeitgenossen darauf hin, dass man Diderot nicht kenne, wenn man ihn nicht sprechen gehört habe, aber wie Johann Sebastian Bachs Orgelimprovisationen sind auch Diderots Gespräche für die Nachwelt verloren. Seine stärksten Gedanken und subtilsten Ideen finden sich nicht in philosophischen Werken, sondern in seinen Briefen an seine Geliebte Sophie Volland, in seinen Romanen, seiner Kunstkritik und anderen Gelegenheitsschriften. Das systematisch orientierte neunzehnte Jahrhundert verweigerte einem so schwer greifbaren Geist die Aufnahme in den philosophischen Kanon.
Wollust und Moral
Während Holbach seine Ideen mit einer an Pedanterie grenzenden Geduld bis in den letzten Winkel verfolgte und ausargumentierte (mehrere Zeitzeugen vermuteten, dass Diderot ihn bei seinen geglückten Formulierungen zur Hand gegangen war, und er selbst machte sich, wie auch Kant, keine Illusionen über seinen Stil), dachte Diderot dialogisch, pointiert, oft poetisch und immer mit einer enormen Lust an der Provokation. So spitzte er auch die Idee des Lustgewinns als höchstes menschliches Gut weiter zu, in dem er nicht über Lust (plaisir) sondern über Wollust (volupté) sprach und sowohl in die grundlegendste Motivation als auch die höchste Bestimmung der biologischen Maschine Mensch im Orgasmus sah: „Auf dem Grund der sublimsten Gefühle und der reinsten Zuwendung ist immer ein Teil testicule (von Diderot für männliche wie weibliche Geschlechtsorgane gebraucht)“, schrieb er an Sophie Volland.
Wenn die Wollust für Diderot einen zentralen Ort der menschlichen Existenz einnahm, so rechtfertigte sie allerdings kein egoistisches Handeln. Nicht nur die Lust, auch das Mitleid sah er als angeboren an, und in einer Welt ohne göttliches Gesetz und offenbarte Wahrheit gab es keinen höheren Wert als die Solidarität von Menschen untereinander. „Welches Recht hast du über deinen Bruder, das er nicht über dich hätte?“, lässt der Philosoph, ein früherer und erbitterter Gegner von Kolonialismus und Sklaverei, in seinem großen Aufsatz Supplément au voyage de Bougainville einen Tahitianer seinen Kolonialherren fragen.
Während also die Lust den eigentlichen Motor des menschlichen Handelns darstellte, waren für Holbach und Diderot Mitleid und Solidarität ausreichend stark, um eine ganze Moral darauf aufzubauen. In einer Welt ohne christlichen Gott hatte das Leiden an sich keinen Wert mehr, und das Ziel aller Handlungen war die größte Lust (die größte Erfüllung) der meisten Menschen.
„Dieses Buch führt zum Atheismus“
Diese skizzenhafte Darstellung macht deutlich, warum diese Art der Aufklärung – dezidiert atheistisch, materialistisch und hedonistisch – von ihren Zeitgenossen als radikal und gefährlich wahrgenommen wurde.
Mit der moderaten Aufklärung vom Zuschnitt Voltaires oder auch Kants war diese Weltsicht nicht zu vereinbaren, zumal die Freunde aus der rue Royale die Menschen dezidiert nicht als ein primär vernünftiges Wesen begriffen. Auch der Kant’sche Traum des reinen Denkens war mit diesem Menschen nicht zu träumen.
Voltaires zunehmend ambivalente Haltung zu Holbachs Salon gipfelte in direkten Angriffen auf seine Bücher, auch wenn nicht klar ist, ob er sicher wusste, wer ihr Autor war. „Dieses Buch führt zum Atheismus, den ich verabscheue,“ teilte er einem Korrespondenten mit. „Der Verfasser scheint den Mächten zu feindlich gesinnt. Menschen, die wie er denken, würden nur eine Anarchie aufbauen.“ Um die wachsende Reputation seiner ehemaligen Schützlinge zu beschneiden, verlegte er sich auf Manipulation. In mehreren Briefen schrieb er Diderot und Holbach die Autorschaft an atheistischen Pamphleten zu, wohl wissend, dass er im Polizeistaat des ancién regime damit ihr Leben aufs Spiel setzte, gerade in diesen Jahren kam es in Frankreich immer wieder zu Hinrichtungen wegen Blasphemie und Ketzerei.
Voltaires gefährliche Spiele waren aber wohl mehr als bloße Missgunst, denn er sah deutlich, dass das Projekt des Holbach-Kreises auf eine Weltsicht hinauslief, die mit seiner nicht vereinbar war. Voltaire baute seinen Aufklärungsbegriff auf der Vernunft auf: Die Welt als Gottes Schöpfung ist sinnvoll und vernünftig. Der Mensch als Vernunftwesen hat die Aufgabe, das Leben der Vernunft zu unterwerfen und irrationale Faktoren auszuschalten – die Dialektik der Aufklärung, die nach Adorno und Horkheimer keinen Schutz davor bietet, in einen völlig durchrationalisierten Totalitarismus zu münden. Der kleine Arbeiter in Charlie Chaplins Modern Times lebt in einer solchen, ganz nach rationalen Prinzipien geregelten Welt, die den Menschen längst vergessen hat.
Die radikale Aufklärung des Kreises um Diderot und Holbach verortet den ursprünglichen Antrieb des Lebens nicht in der unendlichen Weisheit eines schöpferischen Prinzips und daher auch nicht in der Vernunft, sondern in der ziellosen Evolution einer blinden Natur, deren zufällige Produkte die Menschen sind. Der Drang zum Leben aller lebendigen Dinge drückt sich in der menschlichen Natur im Streben nach Lustgewinn aus, einem a priori irrationalen Bedürfnis, das unsere einzige Antriebskraft ist, wenn auch eine, die durch Empathie temperiert und durch rationale Analyse in konstruktive Bahnen gelenkt werden kann.
Dies ist der fundamentale Unterschied zwischen den beiden aufklärerischen Traditionen: Kant und Voltaire müssen die Vernünftigkeit des menschlichen Lebens postulieren, um an ihrer deistischen Weltsicht festhalten zu können. Diderot und Holbach eliminieren nicht nur Gott, sondern mit ihm auch jede metaphysische Sinnfrage als Gegenstand der philosophischen Debatte und kommen so zu einem evolutionistisch gefassten, rein materiellen Naturbegriff, in der die Vernunft als Teil des menschlichen Naturells genutzt werden kann, um nach rein utilitaristischen, hedonistischen Prinzipien eine bessere Welt zu schaffen, das heißt eine Welt, die als weniger grausam erfahren wird und in der mehr Menschen ein lustvolles, das heißt erfülltes Leben führen können.
Auch politisch hatte dieser Gegensatz Konsequenzen. Bei Voltaire führte das Zurückscheuen vor den Konsequenzen des aufklärerischen Ansatzes zu einer folgenschweren Setzung, die politisch gesprochen Macht und Legitimität in die Hände derjenigen legt, die sich als Hüter der göttlichen Vernunft ausweisen können. Die radikale Aufklärung dagegen kennt kein anderes Gut als das höchste Glück von Individuen in der Gesellschaft und erfordert zwar einerseits eine Aufklärung über die Tücken des hedonistischen Kalküls (denn eine methodische Selbstentfaltung ist das exakte Gegenteil der Spaßkultur), legt aber andererseits alle Legitimität in die Hände derer, die bereit sind, Verantwortung für sich selbst zu ergreifen.
Rousseau: die paranoide Romantik
Während Voltaire durch die Entschlossenheit der Mitglieder von Holbachs Salon zunehmend beunruhigt war, entwickelte sich Rousseau zum erklärten Feind der Gruppe, der er ursprünglich selbst angehört hatte. Rousseaus persönliche und philosophische Entwicklung ist komplex, aber es scheint gesichert, dass sein vollständiger Bruch mit seinen ehemaligen Freunden von paranoiden Schüben mitverursacht wurde. Überall witterte er Verschwörungen, durch jede großzügige Geste wähnte er sich lächerlich gemacht, in jedem freundschaftlichen Rat sah er unerhörte Bevormundung. Diderot bemühte sich mehrere Jahre lang um ihre früher so enge Freundschaft, gab aber schließlich frustriert auf.
1766 lud David Hume, der drei Jahre lang als Legationsrat in Paris gearbeitet hatte und auch ein regelmäßiger Gast in Holbachs Salon gewesen war, den inzwischen völlig isolierten Rousseau ein, ihn nach England zu begleiten, wo er seine Beziehungen bei Hofe dazu nutzte, dem Philosophen ein Landhaus und eine Pension des Königs auf Lebenszeit zu erwirken. Rousseau verlor nicht viel Zeit, bevor er Korrespondenten in ganz Europa schrieb, Hume sei ein zutiefst mittelmäßiger Mensch, der ihn wie eine Jahrmarktsattraktion halte, um seine eigene Reputation aufzupolieren. Der darauf folgende, sehr öffentliche Streit zwischen Hume und Rousseau spaltete das gesamte intellektuelle Europa in zwei Lager.
Rousseaus Konflikt mit Holbach und seiner „Coterie“, wie er die in der rue Royale versammelten Freunde nannte, war nicht nur persönlicher Natur. Sein eigenes Denken hatte sich mehr und mehr von den Prinzipien der radikalen Aufklärer entfernt und schlug endlich in Gegenaufklärung um. Besonders den in Holbachs Salon so offensiv vertretenen Atheismus konnte er nicht akzeptieren: „Nein,“ schrieb er mit romantischer Geste in einem Brief, „ich habe in diesem Leben zu viel gelitten um nicht auf ein weiteres zu hoffen. Alle Subtilität in der Metaphysik wird mich nicht einen Moment lang an der Unsterblichkeit der Seele zweifeln lassen; ich fühle sie, ich glaube an sie, ich will sie, ich hoffe auf sie, ich werde sie bis zum letzten Atemzug verteidigen.“ Für den Gesinnungsphilosophen Rousseau reichte es aus, eine Wahrheit zu fühlen.
Der Autor, der in seinen Konfessionen stolz berichtet, dass er seine drei eigenen Kinder ins Waisenhaus schickte, weil ihr Geschrei ihn bei seiner Arbeit an seinem Erziehungsroman Emile behinderte, zeigt immer wieder Züge, die in ihrer Perversität noch heute verstörend wirken. So beschreibt er in Emile die beste und schönste Möglichkeit, einem Kind zu erklären, wo die Babies herkommen. Er habe einmal gehört, wie eine einfache Frau aus dem Volke ihrem eigenen Sohn auf seine Frage antwortete: „Die Frauen pissen sie unter fürchterlichen Schmerzen aus und manchmal sterben sie daran“. Selten sind die sehr calvinistischen Motive von Schmutz, Qual und Tod dieses irdischen Jammertales eindrücklicher in einem Satz zusammengefasst worden, und es ist verständlich, warum der Autor dieser Zeilen den lustvollen Hedonismus eines Diderot ablehnen musste. In biografischer Hinsicht ist in diesem Zusammenhang auch bemerkenswert, dass Rousseaus eigene Mutter neun Tage nach seiner Geburt an den Folgen der Entbindung starb.
Auch in seiner Sozialphilosophie war Rousseau weit vom Denken seiner ehemaligen Freunde entfernt. In Vom Gesellschaftsvertrag entwirft er eine ideale Gesellschaft aufgrund des gesunden, natürlichen Wollens des Einzelnen, der immer im Einklang mit dem Willen des Schöpfers steht. Das Werk beginnt mit den bewegenden Worten: „Der Mensch ist frei geboren und doch liegt er überall in Ketten“, aber schon bald stellt sich heraus, dass die Ketten nicht durch Tyrannen angelegt wurden, sondern durch die schädliche Eigenliebe der Menschen, die sich an Status und materiellem Besitz binden und ihrer natürlichen Unschuld und dem gesunden Willen entfremden. Freiheit lässt sich in der Gesellschaft nur erreichen, indem der Einzelne seinen Willen dem allgemeinen Willen (volonté générale) unterordnet und dafür Schutz und Sicherheit bekommt.
Da demokratische Prozesse und Partikularinteressen den allgemeinen Willen nur verzerren, muss ein weiser Gesetzgeber eingesetzt werden, der über seine Erhaltung wacht, führt Rousseau aus. Eine Staatsreligion soll der Allgemeinheit durch Rituale die ewige Wahrheit der göttlichen Schöpfung vor Augen führen. Um zu verhindern, dass die Bevölkerung durch schädliche Ideen verwirrt wird, empfiehlt der Autor eine strenge Zensur aller Bücher. Denjenigen Bürgern aber, die sich dem göttlichen Willen und seinem gesellschaftlichen Ausdruck, dem allgemeinen Willen, widersetzen (man denkt hier unwillkürlich an seinen ehemaligen Freund Diderot), droht er mit Exil und sogar Hinrichtung. Aus einer Utopie der Freiheit ist eine Vision des Totalitarismus geworden.
Der Kult des höchsten Wesens
Es ist kaum verwunderlich, dass gerade Maximilian Robespierre eine großer Verehrer Rousseaus war, und tatsächlich beginnt mit der Französischen Revolution die systematische Unterdrückung beziehungsweise Marginalisierung der radikalen Aufklärung, auch wenn deren Protagonisten bereits gestorben waren (Holbach zeigte einen ausgezeichneten Sinn für Timing, als er im Januar 1789 starb).
Jede Diktatur braucht Transzendenz, das Versprechen eines besseren Jenseits, dass die Bevölkerung über die Unzulänglichkeit des Diesseits hinwegsehen lässt. Mit ihrer Forderung, hier und jetzt durch aufgeklärten Hedonismus ein erfülltes Leben zu führen, waren Diderot, Holbach und ihre Freunde für die Zwecke der Revolution nicht zu gebrauchen. Rousseau hingegen lieferte einen perfekt adaptierten Bauplan für eine autoritäre, repressive Herrschaft im Namen der Freiheit. Das war die eigentliche Neuerung seines sozialen Denkens: Gewaltherrschaft hatte es schon immer gegeben, nun aber konnte sie auf menschlicher Freiheit und Würde begründet werden.
Robespierre führte eine geradezu kultische Verehrung von Rousseau und seinen Werken ein. Auf Prozessionen durch die Stadt wurde seine Büste mitgeführt, während die Büste von Claude Helvétius, einem Mitstreiter von Diderot, auf Robespierres Anweisung zerstört wurde. Ihre Werke wurden nicht mehr verlegt, Historiker begannen, ihre Bedeutung herunterzuspielen, ihre Portraits verschwanden aus der Öffentlichkeit, eine vollkommene condamnatio memoriae.
Holbach spekulierte, dass das Leben durchaus durch einen Meteoriten auf die Erde gekommen sein könnte und dass unterschiedliche Lebensformen sich kontinuierlich weiterentwickeln werden.
Die Revolution konstruierte sich konsequent nach Rousseau’schen Prinzipien. Bei einer groß inszenierten Feier zu Ehren des Höchsten Wesens am 20. Prairiral des Jahres II (dem 8. Juni 1794) wurde eine Statue des Atheismus verbrannt, die den Blick auf ein, wenn auch rauchgeschwärztes, Abbild der Wahrheit freigab. Auch eine Rousseau’sche Staatsreligion wurde eingeführt: Der Kult der Gottheit der Vernunft wurde öffentlich gefeiert und borgte liturgische Elemente von der katholischen Messe. Nach der Hinrichtung des Unbestechlichen blieben Rousseau und auch Voltaire zwei säkulare Heilige der Revolution, wie ihre Überführung ins Pantheon belegt.
Erschüttert von der Revolution und von Napoleon brauchte Europa am Anfang des 19. Jahrhunderts ein staatstragendes Denken, das je nach philosophischem Temperament rationalistisch oder gesinnungsfromm gefärbt war, ohne die Konsolidierung der Gesellschaft und die kapitalistischen Strukturen der sich beschleunigenden Industrialisierung in Frage zu stellen. Hier erwies sich der Genius von Voltaire und Rousseau. Ihr Anspruch war kritisch, aber nicht zu kritisch, sie wandten sich gegen den Aberglauben ohne gegen Religion zu sein, sie geißelten die Willkür, ließen aber die Dominanz des Bürgertums gelten, sie waren zitierbar ohne bedrohlich zu sein.
Die Denker der radikalen Aufklärung entsprachen in keiner Weise den Werten des 19. Jahrhunderts. Ganz wie Voltaire sah man ihren Atheismus als anarchistisch und umstürzlerisch, ihre Kritik an der „Verschwörung von Priestern und Magistraten“ und ihrer Betonung der sozialen Solidarität als subversiv, das hedonistische Kalkül als gefährlich, ihre Gegnerschaft zu Nationalismus und Kolonialismus als zutiefst suspekt und ihren Sensualismus als unanständig.
Auch Diderots Tochter Angélique, auf deren Erziehung er die größte Mühe verwendet hatte, war die bürgerliche Wohlanständigkeit wichtiger als die Reputation ihres Vaters, und sie unterdrückte oder vernichtete Arbeiten von ihm. Sein satirisches Meisterwerk, der Roman Rameaus Neffe erschien auf Französisch zum ersten Mal 1821, siebenunddreißig Jahre nach seinem Tod – in der Rückübersetzung von Johann Wolfgang von Goethes deutscher Version. Die Originalversion wurde erst 1891 publiziert, nachdem das verloren geglaubte Manuskript zufällig bei einem Buchhändler auf dem Quai Voltaire aufgetaucht war.
Die Reflexe des christlichen Abendlandes
Während Voltaires blasser Deismus den Ereignissen des 20. Jahrhunderts interpretativ nur wenig entgegenzusetzen hatte und die meisten seiner Werke mit Ausnahme seines philosophischen Romans Candide heute praktisch in Vergessenheit geraten sind, hat das Denken Jean-Jacques Rousseaus einen profunden und noch immer andauernden Einfluss gehabt.
Diese enorme Wirkungsmacht und Anziehungskraft seines Werkes erklärt sich vielleicht am besten aus seiner wohl zentralen Errungenschaft: Rousseau ent-theologisierte die Werte des Christentums, befreite zentrale Topoi der christlichen Moral und Weltsicht von ihrem kirchlichen, dogmatischen Ballast. Mit Rousseau zu denken heißt, die kulturellen Reflexe des christlichen Abendlandes nicht in Frage zu stellen, ohne dabei die eigenen Gedanken in einem konfessionellen Rahmen zwängen zu müssen.
Der Körperhass, die Trennung zwischen der reinen Seele und der unreinen Materie, die Unsterblichkeit der Seele, das Misstrauen gegen Sexualität, der positive Wert des Leidens, die Sehnsucht nach Erlösung, die Wichtigkeit von Glaube und Gesinnung, die Unterordnung unter eine offenbarte Wahrheit und ihre irdische Repräsentanz – all das bleibt unbeschadet erhalten und wird einem philosophischen (und romantischen) Diskurs zugänglich gemacht.
Diktatoren wie Stalin beriefen sich auf Rousseaus Rechtfertigung brutaler Autokratie im Namen der Freiheit, und niemand nahm ihn genauer beim Wort als Pol Pot, der sich während seiner Studienzeit an der Sorbonne in den 1950er-Jahren eingehend mit seinen Schriften beschäftigte, um dann den Versuch zu unternehmen, ein ganzes Land in den Zustand der natürlichen Unschuld zurückzumorden.
Rousseaus Erbe lebt auch in subtileren Formen weiter. Zwar sind offensichtlich religiöse Argumente nicht mehr mit unserem Verständnis einer demokratischen und säkular begründeten gesellschaftlichen Debatte vereinbar, aber in seiner maßgeblich durch Rousseau gereinigten Form besteht dieses christliche Denken in der öffentlichen Diskussion unter der kommerziellen Sphäre weiter, ohne als solches erkannt zu werden.
Unsere Zukunftsvisionen schwanken zwischen Paradies und Apokalypse (Klimawandel, wirtschaftlicher Zusammenbruch, kollabierende Sozialsysteme), eine durch und durch religiöse Konstruktion von Himmel und Hölle. Lust ist noch immer schmutzig und beschämend und muss sich verbergen: In der Geografie vieler Städte sind Rotlichtviertel an die Peripherie verbannt; sexuell aktive Frauen sind in der Sprache der unsere Computer überflutenden Spam-Mails „Schlampen“ oder „Huren“, während es in Hollywood-Filmen als obszön und anstößig gilt, einen nackten Körper zu zeigen, nicht aber eine pornografisch-detailverliebte Folterszene oder einen grausamen Mord.
Während es früher die Statuen von Märtyrern und Heiligen waren, die den Gläubigen als Beispiel dienten, weil sie ihre Gesundheit gering geschätzt und ihre Körper als Gefängnisse ihrer unsterblichen Seelen gehasst hatten, sind es heute die Models auf Werbeplakaten, die uns dazu bringen, uns selbst zu verachten und unsere Körper abzulehnen, weil sie zu dick, zu schlaff, zu wenig durchtrainiert und zu alt sind, um den unerreichbaren und völlig fiktiven Idealen der Modeindustrie zu genügen. Früher fasteten Gläubige, um ihre Seelen zu befreien und ihren Körper zu kasteien, heute machen wir Diäten, um den neuen Heiligen der Vermarktung nachzueifern. Auch die unsterbliche Seele geistert noch immer durch nicht nur in religiösen Kontexten geführte Diskussionen über Stammzellenforschung, Gentechnologie und Klonen.
Als säkulare Apostel haben Voltaire und Rousseau die Diskussionen der rue Royale und ihre Exponenten völlig marginalisiert, weil ihr Werk sich ideal dafür eignete, durch das kapitalistische neunzehnte und das ideologisch angetriebene zwanzigste Jahrhundert instrumentalisiert zu werden. Erst durch späte Bewunderer wie Karl Marx, Friedrich Nietzsche und Siegmund Freud sind Kernideen der radikalen Aufklärung wieder in den philosophischen Diskurs aufgenommen worden. Auch ihr unbestrittener Einfluss aber hat es nicht vermocht die kritische Verschränkung von religiösem und säkularem Denken zu entwirren, die in unseren Debatten noch immer vorherrscht.
Das ist um so bedauerlicher, als das hedonistisch-materialistische Denken von Diderot, Holbach und anderen aus ihrem Kreis nicht nur in vieler Hinsicht schlüsselhafte Verständnismodelle wie die Psychoanalyse und die Evolutionstheorie vorausgenommen hat, es hat auch in der gegenwärtigen Diskussion denjenigen Leserinnen und Lesern noch vieles anzubieten, die den intellektuellen Mut haben, gegen ihre eigenen kulturellen Instinkte zu denken, um nicht nur die eigene Weltsicht, sondern auch die gesellschaftliche Debatte zu klären und zu stärken.