Warum bedarf die Herrschaft der Herrlichkeit?1 Es ist diese Frage, die Giorgio Agamben auf den 350 Seiten seines neuen Buches Herrschaft und Herrlichkeit zu beantworten sucht. Vielleicht überraschend sucht er die Antwort auf diese Frage insbesondere in den frühchristlichen Schriften des 1. bis 4. Jahrhunderts. Ich muss gestehen, dass ich seine Antworten teils unverständlich, teils unbefriedigend fand. Nichtsdestotrotz ist die Frage jedoch weiterhin von zentraler Bedeutung, man wird Agamben daher zumindest zuerkennen wollen, die richtige Frage gestellt zu haben: Warum also bedarf die Herrschaft der Herrlichkeit? Mein Versuch einer Antwort auf diese Frage für unsere moderne Herrschaftsform, die Demokratie, geht nicht bis auf die Schriften der Kirchenväter, aber doch auch sehr weit zurück, nämlich bis ins 17. Jahrhundert, bis auf Thomas Hobbes und den Englischen Bürgerkrieg. Auch das ist schon ungewöhnlich genug, weil wir gewohnt sind, die moderne Demokratie mit der französischen und der amerikanischen, nicht aber mit der englischen Revolution in Verbindung zu bringen, und Hobbes nicht mit der Demokratie, sondern mit dem Absolutismus. Ich möchte jedoch im Folgenden argumentieren, dass alle entscheidenden Fragen bereits 1649 gestellt werden, zu jenem Zeitpunkt, an dem mit der Hinrichtung von Charles I. zum ersten Mal eine ganz grundlegende Alternative zum mittelalterlichen Königtum aufschien – und dass Hobbes auf alle diese Fragen bereits uns auch noch heute betreffende Antworten gibt. Auch wenn Hobbes wenigen als Demokrat gilt2, so ist bei ihm doch bereits eine Theorie der Repräsentation, die so zentral wird für die moderne Demokratie, erstmals systematisch ausformuliert. Hobbes Antworten auf die Frage, warum die Herrschaft der Herrlichkeit bedarf, sind auch deswegen so relevant, weil mit dem Abschied vom mittelalterlichen Gottesgnadentum, mit dem Abschied von der divine rights doctrine, die auch Hobbes radikal vollzieht, ebenfalls die Abwendung von der Herrlichkeit des Sakralkönigtums verbunden scheint. Die neue Ordnung legitimiert sich nun – so macht es zumindest auf den ersten Blick den Anschein – zunächst als nüchterner kontraktueller Zweckverband: Überwindung des Bürgerkriegs / des Naturzustandes, des bellum omnia contra omnes, durch den Austausch von Schutz gegen Gehorsam. Das klingt nicht nach einer neuen Herrlichkeit, sondern nach vernünftiger Zweckkalkulation. Insofern stellt Hobbes für jemanden, der – wie ich – behauptet, dass auch diese sich nun neu abzeichnende Herrschaft eine ihr eigene Herrlichkeit entwickelt, eine besondere Herausforderung dar.
Das Argument wird in drei Schritten entfaltet. Zunächst (1) frage ich danach, wie überzeugend die heute ganz vorherrschende These ist, die Demokratie sei prinzipiell ‚undarstellbar‘, eine ikonoklastische Herrschaftsform. Gegen diese in der heutigen Demokratietheorie vorherrschende Meinung von der Bilderlosigkeit der Demokratie soll behauptet werden, dass die Anfänge unseres modernen Repräsentationsverständnisses gerade um die Frage der ‚richtigen‘ und der falschen Bilder kreisen. Diesen Wurzeln der modernen demokratischen Repräsentationstheorie in der Bilderkritik am mittelalterlichen Sakralkönigtum gehe ich im Abschnitt 2 nach. Schließlich (3) folgt ein kurzer und polemischer Blick auf jenen neuen politischen Kollektivkörper, der als ‚We, the people‘ mit durchaus verhängnisvollen Konsequenzen die politische Bühne der Neuzeit betritt.
1. Undarstellbarkeit als Wesenszug der Demokratie?
In der zeitgenössischen Demokratietheorie herrscht die Meinung vor, Volkssouveränität sei undarstellbar und insbesondere die Vorstellung eines politischen Volkskörpers nun schon seit langem verabschiedet.3 Das führt, zu Ende gedacht, zur seltsamen, beunruhigenden These, in der repräsentativen Demokratie lasse sich der legitimatorische Letztreferenzpunkt jeder Herrschaft gar nicht repräsentieren. Wäre also das adäquate Symbol demokratischer Herrschaft der leere Thron gemäß jener frühchristlichen Etimasie-Darstellungen, die die ‚unsichtbare Anwesenheit‘ Christi verbildlichen wollen? Tatsächlich ließe sich eine lange Liste von Einlassungen dieses Inhalts anführen.4
Die herrschende These von der prinzipiellen Undarstellbarkeit demokratischer Souveränität scheint a fortiori zu gelten für die Vorstellung vom politischen Körper. Sie gilt in unseren Zeiten nun als vollständig anachronistisch5, die Körperlosigkeit der Demokratie wird geradezu zum Definitions- und Abgrenzungskriterium gegenüber der Monarchie mit ihrem politischen Königskörper: demokratische Herrschaft sei gleichbedeutend mit der „Entkörperung der Macht.“6 Nach Habermas markiert der „Platz des verabschiedeten Volkskörpers“ einen „vakante[n] Sitz der Souveränität.“7 Wir fragen aber: Was füllt dann diese Leerstelle? Welcher „symbolische Körper [tritt] an Stelle eines Volkes, das unauffindbar ist und nicht dargestellt werden kann“8? Oder bleibt der Souveränitätsort tatsächlich leer, gruppiert sich die demokratische Macht um ein „leeres Zentrum“, ein „imaginäres Vakuum“, einen „bilderlosen Raum“9?
Wäre also das adäquate Symbol demokratischer Herrschaft der leere Thron?
Es erscheint mir nicht recht vereinbar mit der dominanten Behauptung von der Bilderlosigkeit und insbesondere Körperlosigkeit demokratischer Herrschaft, dass eine neuere Literatur nun jene ‚Kollektivgespenster‘ zu entdecken beginnt, die seit dem 19. Jahrhundert unsere politische Imagination beherrschen (etwa in Form der politischen Masse bei Le Bon, y Gasset, Broch, Cannetti, schließlich auch Freud)10, sie die Personalisierung politischer Angstfiguren in den europäischen Massendemokratien im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert nachzeichnet11, oder das ‚Politisch Imaginäre‘ in allen seinen unsere politischen Vorstellungswelten beherrschenden Facetten zu beschreiben beginnt (etwa in Form der neuen ‚imagined community‘, der Nation)12. Diese Beiträge formen in der Überschneidung von Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Politikwissenschaft eine neue ‚Politische Phantasma-Forschung‘, die, so mein Eindruck, die überfällige Revision der zuletzt nur noch gedankenlos kolportierten These von der angeblichen Körperlosigkeit und Bilderferne der modernen repräsentativen Demokratie vollzieht. Die Arbeiten von Horst Bredekamp haben in diesem Zusammenhang einen wichtigen Impuls geleistet.13 Es wird zunehmend bezweifelt, dass sich eine Gesellschaft einfach damit abfinden würde, dass sie keine bildhafte Vorstellung ihrer selbst als politisch verfasste Ordnung entwickeln kann.14
In diesem Zusammenhang ist nun nicht nur darauf zu insistieren, dass auch moderne demokratische Gesellschaften selbstverständlich ein Bild ihrer selbst entwickeln, sich Herrschaftszeichen geben, sich – wie jede Macht – ostentativ zeigen. Vielmehr ist – so meine These – das exakte Gegenargument zu vertreten, dass die Entwicklung der modernen demokratischen Repräsentationstheorie überhaupt nur vor dem Hintergrund des Streites über falsche und wahre Bilder, über den alten, monarchischen, und den neuen, demokratischen Souveränitätskörper verstanden werden kann. Am Anfang unserer Repräsentationstheorie steht ein ‚substitutiver Bildakt‘, der den (Königs-)Körper durch das kollektive Körperbild ersetzt.15 Wie ist das zu verstehen?
2. Demokratische Repräsentation als ‚substitutiver Bildakt‘
Zunächst ist in diesem Zusammenhang darauf zu verweisen, dass das moderne Repräsentationskonzept in der Vorstellung vom politischen Körper des Königs, in der ‚Metaphysiologie‘ (Kantorowicz) der politischen Theologie des Mittelalters wurzelt. In ihrem Zentrum steht die Lehre vom natürlichen und politischen Körper des Königs16, und in der Effigiespraxis des Mittelalters findet diese Lehre ihren nachhaltigsten rituellen Ausdruck.17 Dieser Zusammenhang ist lange übersehen oder nur unsystematisch erwähnt worden. Friedrich Balke spricht vollkommen zu Recht vom „bislang kaum thematisierten Zusammenhang des Begriffs der Repräsentation mit den ‚Repräsentationen‘, also den Puppen oder effigies oder einfach den leeren Särgen im Rahmen der königlichen Bestattungsrituale“.18 Ist dieser Zusammenhang aber erst einmal hergestellt, dann lässt sich genauer ersehen, wie sich die Theorie demokratischer Repräsentation aus der (protestantischen) Bilderkritik am ‚Porträt des Königs‘, an der Praxis der königlichen Herrschaftsrepräsentation entwickelt. Wir sollten es theoretisch ernst nehmen, dass die zentrale ideologische Auseinandersetzung zwischen den Royalisten und den Parlamentariern im Englischen Bürgerkrieg, zu dem Moment, als eine Alternative zum mittelalterlichen Königtum erstmals gewaltsam aufscheint, zwischen der königlichen Rechtfertigungsschrift Eikon Basilike – dem Porträt des Königs – und John Miltons Eikonoklastes ausgetragen wurde.19 Wenn die Revolutionäre nach der Hinrichtung des Königs am 30. Januar 1649 eine neue, abstraktere politische Souveränitätsfigur installieren, das Volk, so ist dieser neue Kollektivakteur ein Resultat der protestantischen Kritik an der königlichen Bilderpraxis. Sie wurde als „Idol worship“ denunziert (so schon in der ersten parlamentarischen Gegenschrift, dem 1649 erschienenen Eikon Alethine20). John Miltons Polemik im Eikonoklastes nimmt diesen gegen die Royalisten gerichteten Vorwurf des politischen Götzendienstes auf: “The people, exorbitant and excessive in all their motions, are prone ofttimes not to a religious only, but to a civil kind of idolatry in idolizing their kings“.
Will man den Zusammenhang zwischen Königsbild, revolutionärer Bilderkritik und demokratischer Repräsentationstheorie angemessen verstehen, dann können wir zunächst von den Begriffen unseren Ausgangspunkt nehmen: die hölzerne oder wächserne Puppe, die in den königlichen Bestattungszeremonien für den wirklichen Königskörper substituiert, wird ‚Repräsentation‘ genannt.21 Nach zunächst uneinheitlichem Sprachgebrauch hat sich dieser Begriff für die Königseffigies Ende des 16. Jahrhunderts in England etabliert.22 Wenn Hobbes in Kapitel XVI. des Leviathan den Begriff der politischen Repräsentation erstmals zu einem zentralen Element seines Arguments macht und damit eine wichtige zeitgenössische Debatte aufnimmt23, so ist diese Bedeutungsdimension der Königseffigies mit angesprochen, wie nicht zuletzt das Leviathan-Titelbild mit seinem künstlichen Menschen, dem artificial man, selbst belegt. In der Hobbes-Literatur wird hingegen überwiegend auf die entweder juristische Verwendung des Repräsentationsbegriffs im Sinne des zu Geschäftsabschlüssen autorisierten Stellvertreters oder auf die für Hobbes ebenfalls wichtige Verbindung zum Theater, die Impersonation, d.h. die Repräsentation einer Person durch einen Schauspieler, verwiesen.24 Für das Verständnis von Hobbes‘ Leviathan und insbesondere seines Konzepts der politischen Repräsentation ist jedoch die Bedeutung symbolische/ mimetische Repräsentation des Königskörpers zentraler. Der Leviathan als Reflexion „über den Moment, in dem der Staat eine künstliche Herrscherfigur nötig hat“25, findet für den Moment des Übertragungsvorgangs der politischen Funktionen auf einen künstlichen Körper den Begriff der Repräsentation: „In dem Intervall zwischen dem Tod des alten Königs und der Inthronisierung seines Nachfolgers herrschte die königliche Repräsentation“.26 Die Ursprünge der Demokratie sind also in den Praktiken der Monarchie zu suchen.27
Der Begriff der Repräsentation taucht zeitgleich in einem mit den Effigies-Praktiken sehr eng verwandten Bedeutungskontext, nämlich im Zusammenhang mit den offiziellen Thronfolgeregeln auf. Hugo Grotius verwendet den Repräsentationsbegriff bei seiner Darstellung des französischen Thronfolgereglements.28 Sie war eine ‚agnatische Liniennachfolge‘– das heißt, die Herrschaft wurde nie innerhalb derselben Generation, sondern an den männlichen Nachkommen der nächsten Generation vererbt, und das war es, was sie nach Grotius Urteil als ‚repräsentativ‘ kennzeichnete. Das Eintreten des Sohnes für den verstorbenen Vater, die stellvertretende Nachfolge, das ist das, was „neuere Rechtslehrer … pflegen Repräsentation zu nennen“.29 Der herrschende König hatte dabei keinerlei Recht zum Mitentscheid. Hatte der König keinen männlichen Nachfolger, ging man in der dynastischen Linie zunächst wieder zurück, um dann in der nächsten Nebenlinie nach dem Kronprinzen zu suchen. So sollte garantiert werden, dass es immer einen und nur einen Dauphin gab, der durch die Nachfolgeregeln eindeutig identifiziert wurde30: “in facts of succession, it is not he who is nearest to the throne who succeeds, but he who represents it“.31 Eine ‚repräsentative‘ Nachfolgeregel ist von zentraler Bedeutung, um die Gesellschaft vor dem Rückfall in den Bürgerkrieg zwischen den um die Herrschaft konkurrierenden Parteien zu schützen, um die Auflösung des Staates anlässlich des Herrschertodes zu verhindern. In den monarchischen Begräbniszeremonien dient die Effigies als die Repräsentation des Königs (seines politischen Körpers). Sie symbolisiert den Machtübergang auf den repräsentativen Nachfolger. Hier greifen die symbolische Darstellung des politischen Königskörpers und die Regelung der monarchischen Nachfolge ineinander.
Wie so häufig folgte auf die Bilderzerstörung dann auch schnell die wirkliche Tötung des Königs.
Über die Rekonstruktion dieses historischen Zusammenhangs zwischen Königsabbild und Sukzessionsprinzip kommen wir auch zur Ablösung der monarchischen Repräsentation durch die neue, demokratische Ordnung und zu dem Bilderstreit, der diesem Ablösungsprozess zugrunde liegt. Zunächst können wir danach fragen, wann und warum die Praxis der königlichen Scheinleiber erstmals auftritt und wann und warum sie wieder verschwindet? Denn wenn man die erstmalige Erwähnung der Effigies-Praxis im frühen 14. Jahrhundert und ihr plötzliches Verschwinden im 17. Jahrhundert betrachtet, zeigt sich, dass die Anfänge der demokratischen Repräsentationstheorie in den politischen Körperlehren der frühen Neuzeit begründet liegen. Carlo Ginzburg hat ein entsprechendes Argument für den Entstehungskontext der politischen Theologie des Mittelalters skizziert. Er sieht einen Zusammenhang zwischen einer abnehmenden ‚Angst vor der Idolatrie‘ durch das Dogma der Transsubstantiation (1215), das er als „außergewöhnlichen Sieg der Abstraktion“32 wertet, und dem Entstehen einer politischen Praxis, die zu einem „konkreten Symbol der Abstraktion des Staates“ führt: dem „Repräsentation genannten Bildnis des Königs“.33 Seine These lautet, dass man in der Folge des Transsubstantiationsdogmas „lernte, die Bilder zu zähmen“, dass „die Angst vor der Idolatrie allmählich nach[ließ]“, was zur „Rückkehr zur Illusion in der Bildhauerkunst und Malerei“ führte, und dass dies schließlich auch in der politischen Theologie und Liturgie des Mittelalters die bildhafte Repräsentation der Königsidee in den Effigiesfiguren ermöglichte.34 Diese These könnte sich von der entgegengesetzten Entwicklung am Ende dieser Epoche (die Ginzburg nicht mehr betrachtet) bestätigt sehen. Im Kontext des konfessionellen Bürgerkriegs im 16. und 17. Jahrhundert nahm die Angst vor der Idolatrie sprunghaft zu, dieser Vorwurf wird zur stärksten Waffe des Protestantismus, zugleich endet die politische Effigies-Praxis abrupt und die ikonoklastische Grundtendenz der Zeit35 führt zu einem neuen Sieg der politischen Abstraktion, wie er uns im Leviathan-Titelbild entgegentritt: Die Vorstellung vom politischen Körper löst sich vom König und wird nun übertragen auf ein neues fiktives Kollektivwesen. Repräsentation ist nun nicht mehr eine rituelle Praxis im Vollzug der königlichen Herrschaftsnachfolge, sondern wird schrittweise zu einem politischen Autorisierungsvorgang durch ein hoch abstraktes Gebilde, das Volk oder die Nation, und bekommt damit die Bedeutung, die uns heute vertraut ist. Den Zeitgenossen ist dieser Zusammenhang zwischen religiöser und politischer Bilderfeindlichkeit offenkundig. James I. beklagte die protestantischen Entzauberungskonsequenzen: „Heutzutage ist nichts unerforscht, weder die allerhöchsten Mysterien der Gottheit, noch die tiefsten Mysterien, die zu den Personen von Königen und Prinzen gehören, den Göttern auf Erden.“36
Die bis James I. reichende Praxis der königlichen Scheinleiber bei den Begräbniszeremonien, die aufwendige Restauration der alten hölzernen und wächsernen Scheinleiber der Westminster Abbey im Jahre 1607, schließlich die Kontroverse um die Idolisierung Charles I. nach seiner Hinrichtung, dies alles vor dem Hintergrund des blutigen konfessionellen Konflikts um die Realpräsenz Christi in Brot und Wein – es ist schwer vorstellbar, dass Hobbes bei der erstmaligen Verwendung des Repräsentationsbegriffs als einem Schlüsselkonzept seiner politischen Theorie nicht auch jene Debatten mit erinnert, die um den Herrscher als Effigies und als Idolfigur kreisen und die jene andere fundamentale Debatte reflektieren: die um die Repräsentation oder Präsenz Christi im Abendmahl.37
Das Argument würde hier also lauten, dass die protestantische Kritik an der katholischen Idolreligion notwendigerweise auch ein Sakralkönigtum treffen musste, dessen Herrschaftspraxis ganz zentral auf die repräsentative Herrscherdarstellung setzte. Schon im Zuge dieser vehementen, religiös fundierten Bilderkritik an der Darstellung des Königskörpers verschwindet die Praxis der Königseffigies, und nun tritt erstmals eine neue, imaginäre politische Gestalt – ein artificial man – auf die Bühne des politischen Geschehens, der Leviathan als Verkörperung des commonwealth, des Staates. Er ist jedoch von dem konfessionellen Konflikt, dem er seinen Aufstieg verdankt, gezeichnet: Dieser „Staat […], indem er an die Stelle der religiösen Autorität tritt, [wird] zum Ersatz für Gottvater, der durch die Religionskriege ‚aufgespalten‘ worden war.“38 Der Staat, so wie er im Leviathan-Titelbild visualisiert wird, ist Ausdruck des Wunsches nach Überwindung dieser Aufspaltung. Die verhängnisvolle Aufladung des modernen Nationalstaates mit religiöser Energie ist Folge dieser Entwicklung. Knapp 300 Jahre später, in den 1930er-Jahren, schrieb der zum Katholizismus konvertierte Erik Peterson: „eine Linie [führt] von der Theologie des konfessionellen Territorialismus im 16. Jahrhundert zu der völkischen Religion im totalen Staat.“39
3. We, the people
In unserem Urteil vom politischen Ikonoklasmus der Demokratie schwingt noch die protestantische Polemik gegen das katholische Sakralkönigtum mit, aber es markiert doch überwiegend ideologisches Wunschdenken: denn wir haben nur eine Person durch eine andere ersetzt – den König durch die neue politische Kollektivperson. Hobbes formuliert schon 1651 einen „Grundgedanken der Demokratie“, in dem er alle Bürger zum Teil eines lebendigen Bildes macht, dessen „visuelle Präsenz … gegen den potentiell drohenden Bürgerkrieg“ gestellt wird.40 Dieses Bild eines neuen Kollektivkörpers substituiert für das Bild des hingerichteten Königskörpers. Unsere Theorie demokratischer Repräsentation hat in einer Folge substitutiver Bildakte ihren Ursprung.
Die Unterscheidung zwischen Freund und Feind ist die grundlegende Unterscheidung demokratischer Politik.
Kommen wir damit zurück auf die Frage nach der politischen Theologie der Demokratie: Wie wir gesehen haben, kann die These von der Bilderferne der Demokratie noch als Fernwirkung der protestantischen Bilderkritik am mittelalterlichen Sakralkönigtum verstanden werden. Wie so häufig, folgte auf die Bilderzerstörung dann auch schnell die wirkliche Tötung des Königs und eine neue, abstraktere Kollektivgestalt betrat die politische Bühne der Neuzeit. Wir sehen sie auf dem Leviathan-Frontispiz verbildlicht und verherrlicht. Die neue demokratische Gesellschaft kann daher als Resultat „der Entkörperlichung des doppelten – menschlichen und göttlichen – Körpers des Königs“41 verstanden werden. Die Demokratie „begänne demnach mit der Ermordung des Königs“, und diese Ermordung zieht eine „originäre Versuchung nach sich, die Versuchung zur imaginären Wiederherstellung eines glorreichen Körper des Volkes als Erbe der Transzendenz des unsterblichen Körpers des Königs und Prinzip eines jeden Totalitarismus.“42
Giorgio Agamben formuliert in seiner Studie zur Herrschaft und Herrlichkeit seine zentrale These: „In der akklamatorischen Gestalt des Konsenses Herrlichkeit und oikonomia [hier im Sinne von Regierung] vollständig gleichgesetzt zu haben ist […] die spezifische Leistung heutiger Demokratien und ihres government by consent.“43 Aber wem akklamiert das Volk in der Demokratie? Es akklamiert in erster Linie sich selbst. Das aber setzt voraus, dass das Volk ein Verständnis seiner selbst entwickeln muss. Man kann sagen: Zunächst erscheint das neue demokratische Prinzip ‚Lasst das Volk entscheiden‘ vernünftig. „In Wirklichkeit [ist es] lächerlich, weil das Volk nicht entscheiden kann, bevor jemand entscheidet, wer das Volk ist.“44 Das heißt, es muss entschieden werden, wer dazu gehört und wer nicht, und dies in einem emphatischen Sinne, nicht in einem rein formal verwaltungsrechtlichen der Staatsbürgerschaft. Jetzt wird die Entscheidung darüber unausweichlich: wer ist fremd, wer ist Feind? Die Unterscheidung zwischen Freund und Feind ist daher nicht, wie Carl Schmitt meinte, die grundlegende Unterscheidung jeder Politik, sondern ist die grundlegende Unterscheidung demokratischer Politik. Das sind im Zweifel äußerst gewaltsame Konstituierungsakte – Ausdruck jener originären, totalitären Versuchung zur Wiederherstellung des politischen Königskörpers. Pierre Rosanvallon spricht von dem ‚totalitären Fantasma‘ der Demokratie, der gewaltsamen Rückkehr zu einer ‚Welt der Einstimmigkeit‘.45 Schon die französischen Revolutionäre gaben sich überzeugt, der neue ‚volonté generale‘ werde sich ‚d’une maniere terrible, spontanée et unanime‘ manifestieren.46 Diese totalitäre Versuchung hat in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt. Und insofern wie die Erfahrungen dieser Katastrophen schon zur Entwicklung eines vor allem internationalen Rechtsrahmens geführt hat, der die Volkssouveränität einschränkt, leben wir bereits seit langem in post-demokratischen Zeiten.
Anmerkungen
1 Per ché il potere ha bisogno della gloria? Oder: Warum braucht die Macht die Herrlichkeit?. Agamben, G. (2010): Herrschaft und Herrlichkeit. Frankfurt am Main, Suhrkamp, S. 10 in der italienischen, S. 12 in der deutschen Ausgabe)?
2 siehe aber Martel, J. R. (2007): Subverting the Leviathan – Reading Hobbes as a Radical Democrat. New York, Columbia University Press.
3 Habermas, J. (1992 [1988]): Volkssouveränität als Verfahren. Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt am Main, Suhrkamp: S. 600-631.
4 siehe für Nachweise Manow, P. (2008): Im Schatten des Königs. Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation. Frankfurt am Main, Suhrkamp.
5 Lefort, C. (1981): L’invention democratique. Les limites de la domination totalitaire. Paris, Fayard, S. 172.
6 Lefort, C. (1990): Die Frage der Demokratie. Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. U. Rödel. Frankfurt am Main, Suhrkamp: S. 281–297, hier S. 293.
7 Habermas 1992 [1988], (Anm. 3), S. 626.
8 Rosanvallon, P. (1998): Le Peuple introuvable. Histoire de le représentation démocratique en France. Paris, Gallimard, S. 20.
9 Koschorke, A., S. Lüdemann, et al. (2007): Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt am Main, Fischer, S. 251.
10 Gamper, M. and P. Schnyder, Eds. (2006): Kollektive Gespenster. Die Masse, der Zeitgeist, und andere unfaßbare Körper. Freiburg im Breisgau, Rombach.
11 Kittsteiner, H. D. (2006): Die Angst in der Geschichte und die Re-Personalisierung des Feindes. Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne. H. D. Kittsteiner. Hamburg, Philo: S. 103-128.
12 Frank, T.; Koschorke, A. et al. (2002): Des Kaisers neue Kleider. über das Imaginäre politischer Herrschaft; Texte, Bilder, Lektüren. Frankfurt, Fischer Verlag; Koschorke, A., S. Lüdemann, et al. (2007): Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt am Main, Fischer; Manow, P. (2008): Im Schatten des Königs. Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation. Frankfurt am Main, Suhrkamp; Manow, P. (2011): Politische Ursprungsphantasien. Der Leviathan und sein Erbe. München, Konstanz University Press.
13 Bredekamp, H. (1998): Politische Zeit. Die zwei Körper von Thomas Hobbes´ Leviathan. Geschichtskörper: Zur Aktualität von Ernst H. Kantorowicz. W. Ernst and C. Vismann. München, Fink; Bredekamp, H. (1999): Thomas Hobbes visuelle Strategien. Der Leviathan: Urbild des modernen Staates; Werkillustrationen und Porträts. Berlin, Akademie Verlag; Bredekamp, H. (2001): „Ikonographie des Staates: Der Leviathan und seine neuesten Folgen.“ In: Leviathan 29 (4): S. 19-35; Bredekamp, H. (2003): Thomas Hobbes: Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder 1651–2001. Berlin, Akademie Verlag.
14 Vgl. Warnke, M., U. Fleckner, et al., Eds. (2011): Handbuch der Politischen Ikonographie. München, Beck.
15 Vgl. Bredekamp, H. (2010): Theorie des Bildaktes. Frankfurt am Main, Suhrkamp, Kapitel IV.
16 Kantorowicz, E. H. (1957 [1998]): The king´s two bodies. Princeton, Princeton University Press.
17 Woodward, J. (1997): The Theatre of Death: The Ritual Management of Royal Funerals in Renaissance England, 1570–1625. Suffolk, Woodbrigde.
18 Balke, F. (2009): Figuren der Souveränität. München, Fink, S. 64, Fn. 118; siehe aber Bredekamp, H. (2007): Thomas Hobbes’s Visual Strategies. The Cambridge Compendium to Hobbes’s Leviathan. P. Springborg. Cambridge, Cambridge University Press: p. 29-60.
19 Sharpe, K. (2010): Image Wars: Promoting Kings and Commonwealths in England, 1603–1660. New Haven & London, Yale University Press.
20 Knachel, P. A. (1966): Introduction to Eikon Basilike. The Portraiture of His Sacred Majesty in His Solitudes and Sufferings. Ithaca, N.Y., Cornell University Press, xxi.
21 siehe Brückner, W. (1966): Bildnis und Brauch. Studien zur Bildfunktion der Effigies. Berlin, Erich Schmidt, S. 90-102; Ginzburg, C. (1991). „Représentation: Le Mot, L’Idée, La Chose.“ Annales 46 (6): 1219–1234, hier S. 1220, 1230.
22 Brückner 1966 (Anm. 21), S. 96.
23 Skinner, Q. (2005): ”Hobbes on Representation.” In: European Journal of Philosophy 13 (2): p. 155–184.
24 vgl. Skinner, Q. (1999): „Hobbes and the Purely Artificial Person of the State.“ In: The Journal of Political Philosophy 7: p. 1–29, hier S. 6; Pitkin, H. F. (1967): The Concept of Representation. Berkeley and Los Angeles, University of California Press.
25 Bredekamp, H. (Anm. 13), S. 106.
26 Balke, F. (2009): Figuren der Souveränität. München, Fink, S. 65.
27 Vgl. Manow, P. (2008): Im Schatten des Königs. Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation. Frankfurt am Main, Suhrkamp; Manow, P. (2011): Politische Ursprungsphantasien. Der Leviathan und sein Erbe. München, Konstanz University Press.
28 Grotius, De Jure Belli et Pacis, 1625, Book II, Chapter 7, insbesondere § VI und § XXII.
29 ebenda, § VI.
30 Sonenscher, M. (2003): Introduction. Emmanuel Joseph Sieyès Political Writings. M. Sonenscher. Indianapolis, Hackett Publishing: vii–lxiv, xlviii–xlix.
31 ebenda
32 Ginzburg, C. (1999): Repräsentation. Das Wort, die Vorstellung, der Gegenstand. Holzaugen. Über Nähe und Distanz. C. Ginzburg. Berlin, Wagenbach: 97-119, hier S. 113.
33 ebenda; kursiv im Original
34 Ginzburg 1999 (Anm. 32), hier S. 112–113.
35 Spraggon, J. (2003): Puritan Iconoclasm during the English Civil War. London, Boydell.
36 zitiert nach Bredekamp, H. and P. Schneider (2006): Visuelle Argumentationen – Die Mysterien der Repräsentation und die Berechenbarkeit der Welt. München, Fink: S. 7–10, hier S. 7.
37 Bredekamp 1999 (Anm. 13); Bredekamp 2003 (Anm. 13); Bredekamp 2007 (Anm. 18); Brückner 1966 (Anm. 21).
38 Certeau, Michel de (1975): L’écriture de l’histoire. Paris: Gallimard, S. 224f.; Hervorhebungen im Original.
39 Peterson, Erik (1994) [o.J.], Politik und Theologie. Der liberale Nationalstaat des 19. Jahrhunderts und die Theologie. In: Ausgewählte Schriften, Bd. 4, Offenbarung des Johannes und politisch-theologische Texte. Würzburg, Echter, S. 236–237.
40 Bredekamp, H. (2010). Theorie des Bildaktes. Frankfurt am Main, Suhrkamp, S. 195.
41 Rancière, J. (2008): Zehn Thesen zur Politik. Zürich – Berlin, diaphanes, S. 25.
42 ebenda
43 Agamben 2010 (Anm. 1), S. 13.
44 Ivor Jennings, zit. nach Fisch, J. (2010): Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion. München. München, C.H.Beck, S. 46.
45 Rosanvallon, P. (2008): La Légitimité démocratique. Paris, Éditions du Seuil, S. 57.
46 ebenda, S. 49.