1. Denken am Sirenen-Felsen
Mit ihrem neuen Buch Egon Schiele: Ich bin die Vielen gibt Elisabeth von Samsonow, bisher nur einer begrenzten Zahl von Eingeweihten als eine der originellsten Philosophinnen der westlichen Szene nach den etwas betagteren Kolleginnen Luce Irigaray, Hélène Cixous, Christina von Braun und Donna Haraway bekannt, den Lesern ein doppeltes Rätsel auf. Das offensichtlichere Rätsel stellt sich durch die Komposition des außerordentlichen Buchs selbst: Über weite Strecken, ja bis ans Ende, hält es die Frage offen, ob es als eine kunsthistorische Recherche, ein philosophischer Traktat oder gar als eine Novelle mit autobiografischen Zügen gelesen werden möchte. Kaum hat man sich Argumente für die eine Seite zurechtgelegt, findet man auf der anderen umgehend Motive, sich die Sache noch einmal zu überlegen. Im günstigsten Fall wird der Leser nach einer Weile kapitulieren und sein Bedürfnis nach eindeutiger Klassifikation fallen lassen. Von diesem Moment an hätte die Schrift eine ihrer Botschaften in seine Rezipienten infiltriert. In actu hätte sich ihnen das süße Gift des Mehrfach-Sein-Könnens übermittelt, von dem in den erörternden Passagen des Werks eindrucksvoll die Rede ist. Freilich hätte man mit dem Zugeständnis, dass ein Text gleichzeitig mehreren Gattungen angehören kann, bloß die Oberfläche gestreift. Wer sich auf die Herausforderung einlässt, die dieses Buch übermittelt, wird bald begreifen, in wie viel größere Tiefen sein Titelsatz „ich bin die vielen“ vordringt.
Das zweite Rätsel ist von etwas diskreterer Natur und steht doch, was seine invasiven oder – im Sinn der Renaissance-Philosophie – „fesselnden“ Qualitäten angeht, hinter dem ersten nicht zurück. Es betrifft den logischen, historischen und ästhetischen Standort der Verfasserin. Auf den ersten Blick wird man unmöglich begreifen, wie eine Intelligenz, an deren Verankerung in zeitgenössischen Debatten kein Zweifel erlaubt ist, eine solche Position beziehen konnte, und erst recht bleibt unklar, was ein Leser, eine Leserin unternehmen müsste, um selber dorthin zu gelangen. Was die Autorin vorträgt, klingt oft genug wie auf einem anderen Stern ersonnen, obschon sie nicht müde wird zu versichern, sie spräche ausschließlich von dieser unserer Erde aus, vielleicht sogar für die Erde, jedoch auf eine Weise, die sich von den üblichen entzauberten Geo-Logien himmelweit unterscheidet. Wer dieses Buch aufmerksam rezipiert und das Ohr für seinen fremd-schönen Klang öffnet, wird sich zuweilen wie Odysseus fühlen, wenn er, an den Mastbaum gefesselt, von den mit Wachs taub gemachten Gefährten am Sirenenfelsen vorbeigerudert wird und, dem Gesang der geflügelten Verführerinnen lauschend, auf der Stelle die Sehnsucht verspürt, die Seile abzustreifen, um den unwiderstehlichen Sängerinnen nahe zu kommen.
Elisabeth von Samsonow hat, man weiß nicht wie, das Kunststück fertiggebracht, die zeitgenössische Philosophie mit Sirenenstimmen auszustatten, mehr noch, sie hat den philosophischen Diskurs selbst ins Sirenische transponiert und ihm ein Melos, eine Vibration, eine freie Mehrstimmigkeit zurückgegeben, die den Lesenden in ein so komplexes wie nicht-alltägliches Resonanzfeld versetzt. Sirenisch ist die Botschaft, die aus Passanten ergriffene Hörer macht – Menschen mit einem klar gepolten Begehren, die mit einem Mal auf jede Gefahr hin in der Nähe dieser tönenden Sendequelle und keiner anderen bleiben möchten. Man kann den Grund für die sirenische Resonanz nur erahnen: In Hörweite solchen Gesangs überträgt sich ein Weltgefühl auf die Rezipienten, das den alltäglichen Zuständen unbekannt ist. Man fühlt sich dort dem Zustand der Gnade näher, in dem sich die Teilhabe an verloren geglaubten Reichtümern vermittelt.
Ich werde belästigt, also bin ich. Ich bin, solange ich besucht, bedrängt, berufen, bewohnt und verbraucht werde.
In der Tat scheint der Sirenen-Felsen der einzige Punkt in der Welt zu sein, an dem der übliche Preis profanen Daseins nicht zu entrichten ist: Hier fehlt jenes Empfinden von Beraubung, das die üblichen Reden von der conditio humana durchzieht. Die Vorzeichen scheinen mit einem Mal umgekehrt. Überall sonst reden Leute ausschließlich von dem, was fehlt: der Welt im Ganzen, den Menschen im Besonderen und ihnen selber am meisten. Wo in letzter Instanz alles Mangel ist, ist alles andere Kompensation. Wo Leben letztlich arm sein und Probleme haben bedeutet, gehört der Alltag dem Kampf um Lösungen und Beihilfen. Sirenen wird man nie von Mängeln singen hören. Sie haben die Nachricht nicht erhalten, wonach alles Leben Problemlösen sei, oder, falls erhalten, beiseite gelegt und nicht gelten lassen. Wem es gelänge, sich für längere Zeit im Klangkreis ihrer Stimmen aufzuhalten, würde von nicht-alltäglichen Evidenzen durchdrungen: dass die Lösungen schon da sind und die Probleme hinzuerfunden werden; dass die Fülle gegeben ist und der Mangel nachträglich eingeführt wird; kurzum: dass es für Wesen unseres Schlags unmöglich ist, arm und bedeutungslos zu sein.
Um sich eine Idee davon zu machen, wie Elisabeth von Samsonow ihren rätselhaften Standort auf dem tönenden Felsen erlangt haben könnte, ist es ratsam, im Buch des europäischen Denkens von heute aus geduldig Jahrzehnt für Jahrzehnt zurückzublättern, bis man in jener frühen Moderne nach 1900 ankommt, in der einzelne Künstler – wie zum letzten Mal – von einer inzwischen nahezu archaisch anmutenden Seinsweise Zeugnis gaben: von einem medialen Durchtöntsein inmitten einer noch nicht zum Inbegriff von Sachverhalten entzauberten Welt. Tatsächlich löst sich das Rätsel, das durch die Perspektive der Autorin aufgegeben ist, sobald man sich auf eine Verfremdung einlässt, die uns aus den heute dominierenden Formen der Entgeisterung in eine „andere Welt“ entrückt. Nichts anderes hat die Autorin selbst in dem Moment getan, als sie Egon Schiele – 1890–1918 – als den Wahlverwandten ihrer künstlerischen und philosophischen Passion erkannte. An seiner Seite wird es für sie überflüssig, unbeholfene Thesen wie un altro mondo è possibile auszurufen, in der Erwartung, ein hinreichend naives Publikum für dergleichen werde sich immer finden. Als eingeschworene Freundin, als Schwester aus einer Nebenlinie, als aktueller Avatar des Malers lebt sie umstandslos in der anderen Welt, die sonst nur ohnmächtig postuliert wird. Indem sie Schieles Genie ihrer eigenen Begriffskultur begegnen lässt, verleiht sie der Altermondialität dieses Künstlerlebens eine Höhe der Artikulation, nach welcher man sich in der übrigen zeitgenössischen Philosophie weitgehend vergeblich umsehen würde.
2. Ineinander und gegenüber
Es geht bei Elisabeth von Samsonows Annäherung an den Künstler der Wiener Moderne und seinen modus vivendi um nicht weniger als um eine Befreiung von den Trugbildern des Abstands, der vorgeblich die Erkenntnis fördert. Die Autorin setzt auf Berührung bis hin zur methodischen Promiskuität, bei der sich aus dem Kontakt die Ansteckung ergibt, aus der Ansteckung das Eindringen, aus dem Eindringen das Durchdrungenwerden. Sie hält es mit Stoffwechsel in jedem möglichen Sinn des Wortes, mit Invasion und Inkorporation, und siedelt diese Phänomene auf einer Skala an, die vom rohen Nahverkehr des Fressens und Gefressenwerdens bis zu den subtilsten Resonanzphänomenen in distans reicht. Bemerkenswert ist hier, wie sich die Historikerin selbst auf den Weg macht zu ihrem Objekt, das im Gang der Recherche nicht bloßes gegenüberliegendes Objekt bleibt. Solches Philosophieren nimmt die Figur der initiatischen Reise auf und übersetzt Forschung zurück in die existentielle Suche, bei welcher es darauf ankommt, vom Gesuchten gefunden zu werden.
Solches Philosophieren nimmt die Figur der initiatischen Reise auf und übersetzt Forschung zurück in die existentielle Suche.
Dergleichen ereignet sich nur, wenn das erkennende Subjekt sich aus dem hermeneutischen Ohrensessel erhebt und die Illusion des distanzgeschützten Verstehens fallen lässt. Nie wäre Aktäon von seinen Hunden zerrissen worden, hätte er nicht die Göttin beim Bade belauscht. Unmöglich hätte er sie belauschen können, wäre er nicht mit seiner Meute zur Jagd aufgebrochen. Giordano Bruno hat die Szene mit Jäger, Göttin, Hirsch und Hunden auf einigen glänzenden Seiten seines Traktats über die Heroischen Leidenschaften als Teil eines Curriculums erläutert und das Zerrissenwerden zum Schlüssel der philosophischen Lehranalyse erklärt. Weltfähiges Bewusstsein muss die Stufe des Fraß-für-Anderes-Werdens durchlaufen, bevor es selbst zum Medium für das Viele und Eine werden kann.
In Egon Schiele findet Elisabeth von Samsonow, die Bruno-Kennerin, eine Spur der aktäonischen Existenz auf dem Boden der Moderne. Der archetypische junge Mann, der Hermaphrodit, der Erotiker, der Mädchen-Jüngling, der beseelte Künstler, der, von frühem Können überwältigt, sich seinem Talent ergibt wie die Pythia dem Götterspruch in der Kammer voll Dämpfen – er verkörpert noch einmal jenen Modus von Medialität – man könnte vielleicht auch Klangkörpersubjektivität sagen –, die den frühen Zeitgenossen der Telephonie und der Kommunikation durch Radiowellen die Teilhabe an gleichsam vordemokritischen, vorsokratischen, vorcartesischen Seinsweisen gewährte. Dieser Fund ist für die Autorin so voller Aufschwung, so verweisungsmächtig, von so bedeutsamen philosophischen wie ästhetischen Versprechen erfüllt, dass sie es darauf ankommen lässt, ihr Schicksal als Denkerin an ihn zu binden. Durch ihre Begegnung mit dem Phänomen Schiele – ausgelöst durch den Fund eines fürs erste nicht exakt zuzuordnenden Blattes – verwandelt sich für sie das Nacheinander der Generationen, das die übliche Geistesgeschichte zu einer Archiv-Sache oder bestenfalls zu einer Einfluss-Sache alias Tradition abflacht, erneut in eine veritable Begeisterungsgeschichte, um nicht ein Spiel mit Infektionen, Verzückungen und Besessenheiten zu sagen. Tatsächlich hat sie „bei ihrer Beschäftigung mit Schiele“ – sie würde wohl eher von ihrem Abenteuer des Schiele-Werdens sprechen – eine Subjektivitätsform wiederaufgedeckt, die in den dominierenden modernen Sprachspielen mit Ich nicht zu angemessenem Ausdruck finden kann: die Form des Medium-Seins für alle Arten von Mächten, die Botschaften sind, und von Botschaften, die Mächte sind. In dem erloschenen Wort „Wirkungsgeschichte“ beginnt mit einem Mal ein Glutkern neu zu leuchten.
Durch Elisabeth von Samsonows Studie werden die Leser auf einen bizarren, für die gesamte Moderne signifikanten Sachverhalt aufmerksam, ohne den sich das dominierende Geschehen dieses Zeitraums, die zunehmende Welt-Vernetzung durch Fernverkehr und alle anderen Tele-Funktionen, kaum begreifen lässt: Das Basis-Paradoxon sämtlicher Modernisierungen zeigt sich darin, dass diese zwar die Externalisierung der medialen Ereignisse, der Kommunionen und Kommunikationen in die Ferne mit extremen technischen „Mitteln“ vorantreiben, indessen jedoch die Kommunikatoren selbst dazu verleitet werden, sich immer mehr als entleerte Medienbenutzer ohne Eigenfrequenzen und botschaftliche Spannkraft zu verhalten.
Der Grund des Menschenübels liegt in der ontologischen Orthopädie dieses Geschöpfs.
Es zeugt von einem tiefen Verständnis für die Dynamik der medialen Evolution im 20. Jahrhundert, wenn die Autorin anlässlich ihrer Schiele-Studien in die kritische Phase dieses Geschehens an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zurücktaucht, während welcher die künstlerische Avantgarde das Medial-Werden der Welt noch unmittelbar auch als ein Medial-Werden der Menschen reflektierte. So notiert Hugo Ball während des Ersten Weltkriegs: „Die Nervensysteme sind äußerst sensibel geworden. Absoluter Tanz, absolute Poesie, absolute Kunst –: gemeint ist, daß ein Minimum von Eindrücken genügt, um außergewöhnliche Bildformen hervorzurufen. Alle Welt ist medial geworden.“ Noch heute versteht man, wieso es den neuen Sensiblen von damals plausibel schien, zu verkünden, sie erlebten den Anbruch eines Zeitalters der Antennen-Menschen, die auf neuartig technisch vermittelte Weise allen möglichen Anrufen aus der Ferne offen stünden und sich zugleich in expressive Sender verwandelten. Zur selben Zeit registrieren die Sensibelsten der Sensiblen auch schon den Beginn einer Umkehrung der Tendenz. Sie zeichnen die Anfänge einer Subjektaustrocknung auf, bei der unter dem Anschein der Durchlässigkeit für Fremdes ein grenzenloser Verlust an Resonanzeigenschaften in den Individuen Platz greift, so sehr sie auch von Stimuli überschwemmt werden. Was Nietzsche als den Letzten Menschen portraitierte, erweist sich als das more moderno informierte Lebewesen, in dem alle Informationen verschwinden – wie jene von Rilke beschworenen Bilder, die von Zeit zu Zeit ins Auge des Panthers eindringen, durch die Stille seiner Glieder wandern und im Inneren aufhören zu sein. Was ist Begegnung, was ist Botschaft, was ist Inkarnation?, fragen die letzten Menschen und blinzeln.
Am 7. und 8. Februar 1922 vollendete Rainer Rilke auf Schloss Muzot im Schweizer Wallis am Oberlauf der Rhône die Achte Elegie seines 1912 in Duino begonnenen Elegien-Zyklus. Man hat dieses Gedicht zuweilen und mit Recht als das höchste Zeugnis der philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert gelesen, deren akademische Varianten gleichzeitig oder wenig später durch Autoren wie Scheler, Heidegger und Plessner vorgetragen wurden. In ihr wird statuiert, die wahre Rede vom Menschen könne nur die Form einer ontologischen Verlustanzeige aufweisen: Der Mensch ist endlich festgestellt als das Wesen, das der Teilhabe am Sein entbehre. In Rilkes elegischer Anthropologie erscheint der Mensch als das in seiner Animalität gescheiterte, aus der Zugehörigkeit zum Offenen entwurzelte, aus der Teilhabe am Mitseienden herausgedrehte Tier, das nie mehr den „reinen Raum“ vor sich hat, „in den die Blumen unendlich aufgehn“. Der Grund des Menschenübels liegt in der ontologischen Orthopädie dieses Geschöpfs. Diese bewirkt, dass es in alles, was ihm begegnet, seine eigene Fehlhaltung hineinträgt, erworben durch den Sturz in die Reflexion, die Vorsorge, die Todesangst. Was in der theologischen Tradition als Erbsünde beschrieben worden war, wird anthropologisch explizit gemacht als Übermaß an Abstand, Verschlossensein, Verweigerung und Abgeschnittenheit. „Wer hat uns also umgedreht, daß wir / Was wir auch tun, in jener Haltung sind / von einem, welcher fortgeht?“ „Dieses heißt Schicksal: gegenüber sein / und nichts als das und immer gegenüber.“
Im günstigsten Fall wird der Leser nach einer Weile kapitulieren und sein Bedürfnis nach eindeutiger Klassifikation fallen lassen.
In Wahrheit kennt Rilke seit geraumer Weile auch das Gegengift. Es scheint, er klagte, um besser zu jubeln. Kaum ist die Klage-Arbeit geleistet, wechselt der Dichter die Position. Nun ist er frei, sich an das Konzept des immersiven In-der-Welt-Seins zu erinnern, das er wenige Jahre zuvor meditativ umkreist und lyrisch erprobt hatte. Nach einer Saison in der Melancholie kehrt er in den all-kommunikativen „Weltinnenraum“ zurück, von dem er selbst entdeckt hatte, dss er durch alle Dinge hindurchreicht, ohne eine Grenze zwischen Innerem und Äußerem, geschweige denn zwischen Diesseits und Jenseits zu achten. Dieser Raumbegriff impliziert einen Modus des Daseins, das keine Fixierung im Gegenüberstehen kennt. In einer aus Strömungen und Resonanzen geformten Welt gibt es keinen Vorrang des Getrenntseins. „Ich sehe hinaus, und in mir wächst der Baum. Ich sorge mich, und in mir steht das Haus.“
Wenige Tage nach dem Abschluss der Elegien gelangen Rilke die Sonette an Orpheus, die den Dichter auf dem Höhepunkt reiner Affirmation zeigen. Mit ihnen erklimmt er, wie unter Diktat, die Spitze der sirenisch-orphischen Sprachkunst im frühen 20. Jahrhundert. Man darf gewiss sein, hätte Egon Schiele, der dreieinhalb Jahr vor diesem Sprachereignis als Opfer der Spanischen Grippe verstorben war, Rilkes Verse noch kennengelernt, er hätte nahezu jede Zeile auf sein Werk bezogen, mehr noch, er hätte das Geheimnis seines modus vivendi in ihnen ausgesprochen gefunden, er hätte sie mit seinem Werk wie Bildunterschriften verbunden, die offenlegen, was gewöhnliche Titel nicht wiedergeben. Nirgendwo sonst können Bildlegenden selber als Kunstgebilde gleichen Ranges neben großen Werken stehen. „Und fast ein Mädchen war’s, und ging hervor / aus diesem einigen Glück von Sang und Leier.“ „Die Antennen fühlen die Antennen / und die leere Ferne trug … / Reine Spannung. O Musik der Kräfte.“
3. Die Weltenwolke – eine andere Vieleinigkeit
„Die Welt der Seele ist in Sympathiesysteme gegliedert“, schrieb vor mehr als einem halben Jahrhundert der damals größte Kenner europäischer Literatur, Ernst Robert Curtius. Elisabeth von Samsonow macht aus ihrem Sympathiesystem kein Geheimnis. Sie wirft ihre Netze in bewegten Gewässern aus. Sie fängt Verwandte und lässt sich fangen. Indem sie, von einem Zufall angeworben, Schiele als ihren Pathos-Bruder adoptiert, holt sie eine Kohorte von Mitverschworenen in ihr Boot – Balzac, Pélardan, Peschka, von Hofmannsthal, Rilke, Simondon, Deleuze, um nur die sichtbarsten aus dieser bella scuola zu nennen.
Die logische Familie Elisabeth von Samsonows sind die Geister, die sich dem Nihilismus der Moderne verweigern. Für sie ist die Welt nicht das Rauschen eines Chaos, in das allein durch menschliches Sinnbedürfnis Form und Tendenz hineingetragen würde. Was man Sinn nennt, ist aus ihrer Sicht keine „subjektive“ Projektion ins „an sich“ Sinnlose, er entspringt vielmehr aus dem Füreinander-Offenstehen der gleichzeitigen Lebensformen, von denen jede auf ihrer eigenen Frequenz sendet. Die Welt schreibt selbst die vielfältigste Prosa. Weil in ihr Offenheiten mit Offenheiten kollidieren, ist jedes einzelne Offene, jeder Organismus, jedes Nervensystem in einen Ozean von Botschaften und Krisen ausgesetzt. Sinn entsteht nicht durch die willkürlichen und widerruflichen Projektionen, die interessierte Subjekte auf leere Objekte richten, er ist das Medium, in dem die Organismen sich reziprok ertasten, bedrängen, durchdringen und verzehren. Als das universale Milieu von Ko-Rezeptivität und Ko-Expressivität bildet er die Matrix für alle Einladungen und Belästigungen. Die Prosa der Welt wird auf Monitoren aus Nerven geschrieben. Wer in der Welt ist, kann nicht das Schild mo molestar außen an die Tür hängen. Während der triviale Feminismus das harassment als ewiges Unrecht der begehrenden Seite an der begehrten beschreibt, erhebt der subtile Feminismus der Autorin es zum Schlüsselphänomen ihrer medialen Ontologie. Ich werde belästigt, also bin ich. Ich bin, solange ich besucht, bedrängt, berufen, bewohnt und verbraucht werde.
Die Wahrheit ist: Für die moderne Mediengesellschaft wurde im spätantiken Himmel geprobt.
Der intellektuelle Reiz des vorliegenden Werks enthüllt sich vor allem den Lesern, die bemerken, wie in ihm das alt- und neu-europäische Abenteuer der Philosophie fortgeschrieben wird. Fortschritt und Fortschrift des Denkens sind dort am deutlichsten zu beobachten, wo die Autorin den Stier bei den Hörnern packt und sich mit dem Problem der Vielheit, oder besser: des Viele-Seins konfrontiert. Dabei kann es nicht ausbleiben, dass das Zeitgenössische an alte, ja älteste Problemlagen rührt, die in ihren früheren Zuständen aufgrund ihrer Unüberschaubarkeit, aber auch wegen der Unfertigkeit der älteren Denkmittel unerledigt liegengeblieben waren. Seit über zweieinhalbtausend Jahren herrscht in Europa Ratlosigkeit in Bezug auf die philosophischste der Fragen: wie der eine Mensch sich in die Vielheit, die sich die Welt nennt, einfügt, und wie umgekehrt die eine Welt die Vielheit der Menschen, die als Familien, Zirkel, Völker, Imperien und Kulturen erscheinen, in sich enthält. Fragen dieser Art wären allein mittels einer ausgereiften Theorie des Teil-sein-Könnens bei gleichzeitig durchgehaltenem Ganz-Sein-Können der Teile zu beantworten. Es erübrigt sich, hier zu zeigen, warum es eine solche Theorie des teilhabenden Enthaltenseins nicht geben konnte, solange die majoritäre europäische Rationalitätskultur ihre Macht behauptete. Diese kennt von alters her nur die Schwankung zwischen zwei unbefriedigenden Lösungen: zum einen, dass man das Ganze als Produkt der Zusammensetzung aus Partikeln denkt, zum anderen, dass man die Einung der Partikel durch eine von außen kommende Synthesemacht herbeigeführt sehen will.
Elisabeth von Samsonows Neuansatz in Ich bin die Vielen zeigt angesichts der klassischen Verlegenheiten, warum der mediologische oder mediumistische Weg allein noch offen ist. Hierbei werden das Teil-Sein-Können eines Ganzen und das Ganz-Sein-Können eines Teils nicht länger durch Zusammensetzung oder Zusammengezwungenwerden durch umfassende Gewalt erklärt, sondern durch Ineinander-Sein und mediale Durchdringung. Die Autorin vollzieht in ihrer neuen medialen Logik die Erschütterungen der Denk- und Lebensformen nach, die von der modernen Kommunikationstechnologie ausgelöst wurden. Sie entdeckt hierbei, dass der Satz „alle Welt ist medial“ geworden nicht nur den Augenblick seiner Formulierung charakterisiert. Aus ihrer Sicht war er seit jeher gültig, so lange die Mitwelt auch auf seine Formulierung warten musste. In sachgerechter Neufassung müsste er darum heißen: Schon immer ist alle Welt medial. Die wirkliche Welt bietet seit jeher das Schauspiel des Enthaltenseins des Vielen im Einen, sei es als Durchgang des Fremden durch das Eigene, sei es als Zugehören eines Organismus zu Lebensprozessen höherer Ordnung.
Man könnte sagen, die Verfasserin lässt die Eucharistie explodieren, indem sie die subtile Erdhülle als Schauplatz von zahllosen Einverleibungsdramen deutet.
Damit öffnet sich ein zweites Sympathiesystem, an dem die Autorin expressis verbis und implicite teilnimmt – ein System von epochalen Dimensionen, obschon minoritär und von der Zunft bis heute weithin unbegriffen. Zu ihm sind die Denker und Denkformen der alteuropäischen Überlieferung zu rechnen, die sich den Phänomenen der real existierenden Medialität mit den Mitteln ihrer Zeit zugewandt hatten – namentlich die Neoplatoniker von Plotin und Proklos bis Johannes Scotus Eriugena sowie die Christologen, Pneumatologen, Dämonologen der frühen kirchlichen Überlieferung. Sie alle haben sich ins Buch des Denkens als Logiker der Teilhabe, der Inhabitation, der Besessenheit, der Inspiration eingetragen. Sie deklinierten erstmals die Denkaufgabe, ohne deren Lösung sich die aktuelle Welt selbst niemals verstehen wird – sei es auch unter Problemtiteln, die für die Heutigen fürs Erste befremdlich klingen: Zwei-Einigkeit, Drei-Einigkeit, Viel-Einigkeit. Wie können Gott und Seele koexistieren? Wie können Vater, Sohn und Geist ihre Kohabitation gestalten? Wie können die Engelsscharen, die Prototypen der multitudes, an dem teilhaben, was neben ihnen, über ihnen und unter ihnen ist? Wir haben noch nicht begriffen, inwiefern in den Antworten auf diese scheinbar veralteten Fragen Vorentscheidungen über die Mittel der Selbstverständigung der zeitgenössischen Erdenbürger fallen. Die Wahrheit ist: Für die moderne Mediengesellschaft wurde im spätantiken Himmel geprobt.
Elisabeth von Samsonow hat mit ihrer philosophischen Reise zu Egon Schiele ein Experiment vorgelegt, das aus Sicht der eben erwähnten Tradition als eine Zwei-Einigkeitsübung bestimmt werden könnte. Der Titel ihrer Arbeit verrät, wie gut sie weiß, worum es geht, wenn es um alles geht: Mit Zwei-Einigkeit fängt die Viel-Einigkeit an. Man hat es in diesem kühnen Entwurf, der seine skizzenhafte Qualität nicht verleugnet, gewissermaßen mit einem Exerzitium in invertiertem Neo-Platonismus zu tun. Während dieser die Viel-Einigkeit ausschließlich von oben, als Einwohnung des Einen in den nachgeordneten geistigen Wesenheiten, zu denken vermochte, operiert die Autorin, dem Geist der Moderne und Nietzsche Ruf „bleibt der Erde treu!“ verpflichtet, mit einer Vieleinigkeit von unten. Sie hat den Gott der metaphysischen Logiker, das Eine, aus dem in ewiger Explosion das Viele hervorgeht, ohne dass es aufhörte, in ihm zu verbleiben, durch die Erd-Monade ersetzt, auf der sich die Protuberanzen des Lebens vollziehen. Sie denkt die Erde nicht als den Planeten, auf dem sich „Evolutionen“ abspielen. Die Erde ist für sie der Stern, der Nervensysteme emaniert und mit diesen zahllose Weltfenster öffnet. In den Augen der Autorin führt der emanierende, sendende, produzierende Stern ein metabolisches Theater auf, auf dem interzerebrale, interepidermische, intersemiotische Beziehungen die Handlung bestimmen. Die „Erdatmosphäre“, die wir Kulturen nennen, ist das Reich der Botenstoffe, die sich in vielfältigen Emissionen verbreiten und in zahllosen Einverleibungen materialisieren. Sie bilden die Atmosphäre der Atmosphären, die Weltenwolke, die aus der Erde steigt wie die Wasserwolken aus den Ozeanen.
„Da zu sein bedeutet, daß man einen Seinstitel besitzt“, schreibt die Autorin in einem Aufsatz über die Mission der Philosophie in der gegenwärtigen Welt. Einen solchen Titel führen heißt, einen Platz in der globalen Verkörperungskette behaupten. Man könnte sagen, die Verfasserin lässt die Eucharistie explodieren, indem sie die subtile Erdhülle als Schauplatz von zahllosen Einverleibungsdramen deutet: von den karnivorischen Ereignissen in der Wildnis über das Zusammensein mit Gott im theophagischen Sakrament bis hin zur Kohabitation der Lesenden und Schauenden mit den Lehrenden und Gebenden. Noch einmal hat Elisabeth von Samsonow gewagt zu sagen, worum es der Philosophie geht, wenn sie nicht wie der alteuropäische Adel in überflüssiger Selbstbezüglichkeit versteinern soll. Wenn Valéry einst schrieb: le moderne se contente de peu, braucht die Autorin sich nicht angesprochen zu fühlen. Sie weiß: In manchen Angelegenheiten ist Bescheidenheit Verrat. Sie will noch einmal wissen, wie es klingt, wenn der Geist nicht nur mit halber Besetzung spielt. Le style est la femme même.