In der Frage nach der Stellung des Diskurses über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1754) im Kanon der Rousseauschen Schriften herrscht noch immer Unklarheit. Die sichtbare Dualität seines Gesamtwerks, eines Ganzen, das zum Teil aus politischer Theorie, zum Teil aus Literatur (Fiktion und Autobiographie) besteht, hat unweigerlich zu einer Arbeitsteilung unter den Interpreten geführt und dadurch latente Unvereinbarkeiten der Herangehensweisen von Politologen, Kulturhistorikern und Literaturwissenschaftlern ans Licht gebracht. Oftmals hat diese Spezialisierung das richtige Verständnis der Beziehungen zwischen den literarischen und den politischen Aspekten von Rousseaus Denken verhindert. Als die offenkundig politische Schrift, die er unzweifelhaft ist, hat der Zweite Diskurs in erster Linie Historiker und Sozialwissenschaftler interessiert.1 Er konfrontiert sie nicht mit den gleichen Schwierigkeiten wie die Julie, ein Buch, über dessen literarische Dimensionen man nicht einfach gänzlich hinwegsehen kann und wo schon ein gewisses Maß an Unaufrichtigkeit dazu gehört, den Text auf „ein intellektuelles Experiment“ zu reduzieren, das „die Techniken und Konsequenzen des Human Engineering“ vorführt.2 Denn obwohl sich im Diskurs mindestens eine Stelle findet, die sich explizit mit Sprache befasst, können die sprachlichen Vermittlungen leicht übergangen werden. Der Abschnitt über den Ursprung der Sprache3 ist eindeutig eine polemische Digression ohne organische Verbindung zum Hauptargument, und so besteht die Möglichkeit, den Diskurs als ein wörtlich zu verstehendes Modell einer Theorie der Geschichte und der Gesellschaft anzusehen, das heißt als ein Modell, das tel quel vom Text auf die jeweilige politische oder soziale Situation übertragen werden könnte, die dieser darstellt oder präfiguriert. Geht man erst einmal von dieser Annahme aus, dann ist es ein Leichtes, gegen den Zweiten Diskurs eine ganze Reihe von Einwänden zu erheben, die denn auch immer wieder mit bemerkenswerter Beharrlichkeit in allen Rousseau-Studien auftauchen, und die selbst vorzubringen sich jeder Leser genötigt fühlen wird.
Es liegt mir vollkommen fern, zu suggerieren, dass diese Einwände unbegründet oder von einer absichtlichen Böswilligkeit eingegeben seien, der es mit ebenso böser Absicht entgegenzutreten gälte. Wer Rousseau interpretiert, sollte die Gefahr vermeiden, die paranoide Geste seines Untersuchungsgegenstandes zu wiederholen. Zuallererst gilt es festzustellen, was – wenn überhaupt – von anderen Lesern systematisch übersehen wurde, bevor danach gefragt werden kann, warum dieser spezielle Bereich von Rousseaus Denken das seltsame Privileg besitzt, sich selbst unsichtbar zu machen, so als trüge er den Ring des Gyges, von dem im sechsten Spaziergang die Rede ist. Die wörtliche Lektüre, die es versäumt, die figurativen Dimensionen der Sprache in Betracht zu ziehen (obwohl gerade dieser Text die Aufmerksamkeit des Lesers ausdrücklich auf diese Dimensionen lenkt), darf nicht als schlichtweg irrig oder böswillig verworfen werden, und dies umso weniger, als die politische Terminologie und die politischen Themen des Zweiten Diskurses die Existenz eines extratextuellen Referenten postulieren und die Frage nach der Beziehung des Textes zu diesem Referenten aufwerfen. Genauso wenig können wir aber davon ausgehen, dass diese Beziehung eine Beziehung der wörtlichen Entsprechung ist.
Betrachten wir beispielsweise den Status dessen, was das unausweichliche Apriori des Textes selbst zu sein scheint. Rousseau nennt es den „Naturzustand“. Heutzutage würden nur sehr wenige sachkundige Leser weiterhin behaupten, Rousseaus Naturzustand sei eine vergangene, gegenwärtige oder zukünftige empirische Realität.4 Die meisten Kommentatoren würden darin übereinstimmen, dass der Naturzustand zumindest bis zu einem gewissen Grad ein Zustand ist, „der nicht mehr existiert, der vielleicht nie existiert hat, der wahrscheinlich niemals existieren wird …“ (S. 123). Er ist eine Fiktion; aber mit dieser Feststellung ist das Problem lediglich verschoben worden, da sich nun die Frage nach der Signifikanz dieser Fiktion in Bezug auf die empirische Welt erhebt. Wenn wir auch die Autorität des Naturzustands, den Einfluss, den er auf unser gegenwärtiges Denken ausübt, nicht mehr als Autorität von etwas erachten, das anderswo oder zu anderen Zeiten existierte, und demgegenüber sich unsere Beziehung mit Begriffen wie Nostalgie und Suche belegen ließe; wenn wir auch einräumen, dass die Seinsweise des Naturzustands und die Seinsweise des gegenwärtigen entfremdeten Zustands des Menschen vielleicht radikal unvereinbar sind und kein Weg den einen mit dem anderen verbindet – so bleibt dennoch die Frage bestehen, warum diese radikale Fiktion („Beginnen wir also damit, dass wir alle Tatsachen beiseite lassen…“, S. 132) auch weiterhin unentbehrlich für jegliches Verstehen der Gegenwart ist, so als wache ihr Schatten ein für allemal darüber, wie viel Licht uns zuteil wird. Es ist dies ein Zustand, den wir „richtig erkennen“ müssen, und „von dem zutreffende Begriffe [des notions justes] zu haben nötig ist, um über unseren gegenwärtigen Zustand richtig zu urteilen“ (S. 123). Welche Art von Erkenntnistheorie kann darauf hoffen, einen radikal fiktionalen Zustand „richtig zu erkennen“? Der Zweite Diskurs scheint schwerlich eine verlässliche Antwort bereitzuhalten. Als Erzählung einer Genese, in der der Naturzustand allermindestens als Ausgangspunkt oder Referenzpunkt5 (wenn auch nicht mehr notwendigerweise als Ankunftspunkt) fungiert, scheint der Zweite Diskurs der radikalen Absage an die Wirklichkeit zu widersprechen, auf die er seinen Anspruch gründet, sich von den Zwängen der Tatsachen frei zu halten. Rousseau scheint beides haben zu wollen. Er bedient sich der Freiheiten eines Fabeldichters und beansprucht zugleich die Autorität eines verantwortungsbewussten Historikers. Sicherlich ist seitens der Historiker ein gewisser Grad an Unduldsamkeit einem Mann gegenüber angebracht, der sich nach eigenem Eingeständnis in spekulative Fantasien flüchtet, andererseits aber behauptet, man räume, indem man so verfahre, „den Staub und den Sand, die das Bauwerk [der menschlichen Einrichtungen] umgeben, beiseite“, nehme „die unerschütterliche Grundlage wahr, auf der es errichtet ist“, und lerne, „seine Fundamente zu achten“ (S.127). Wie können eine reine Fiktion und eine Erzählung, die derart konkrete politische Wirklichkeiten wie Eigentum, Vertragsrecht und Regierungsformen beinhaltet, sich zu einer Entwicklungsgeschichte vereinigen, die vorgibt, die Grundlagen der menschlichen Gesellschaft freizulegen?
Es scheint schwierig zu sein, dem Text keine Inkonsistenz zu bescheinigen und damit eine Aussage zu vermeiden, die zur Trennung zwischen den theoretischen und literarischen Aspekten von Rousseaus Denken einerseits und seinen praktischen und politischen Aspekten andererseits führt. Das literarische Vermögen, das im Zweiten Diskurs die Fiktion eines Naturzustands des Menschen errichtet, erwächst aus der Verdrängung des politischen Vermögens und wird zu einer Ideologie. Eine klare, konzise Darstellung dieser wiederholt vorgebrachten kritischen Auslegung Rousseaus – die wenigstens bis auf Schiller zurückgeht – findet sich in einer neueren Studie des französischen Sozialphilosophen Louis Althusser über den Gesellschaftsvertrag. Darin analysiert Althusser wiederkehrende Verschiebungen [décalages] der Schlüsselbegriffe Rousseaus und kommt zu dem Schluss:
„Die Verschiebung ist in allen ihren Momenten und ihren Folgen Verschiebung der Theorie gegenüber der Realität: Verschiebung gegeneinander von zwei Praxisarten, die beide unmöglich sind [décalage entre deux pratiques également impossibles]. Weil wir uns jetzt (im Text des Gesellschaftsvertrags) auf dem Boden der Realität befinden und uns hier nur noch im Kreise drehen können (Ideologie – Ökonomie – Ideologie), ist keine Flucht in die Realität selbst [dans la réalité même] mehr möglich. Ende der Verschiebung.
Wenn keine Verschiebung mehr möglich ist …, so bleibt noch ein Ausweg offen, der jedoch von anderer Art ist. Eine Übertragung [transfert], diesmal der Unmöglichkeit einer theoretischen Lösung, in das Andere der Theorie [l’autre de la théorie], in die Literatur. Der bewundernswert „fiktionale Triumph“ einer Schreibweise ohne Vorläufer …“6
Sollte die politische Seite von Rousseaus Werk tatsächlich eine reduktive Ideologie sein, die aus einer vermittels literarischer Sprache ausgeführten Verdrängung resultiert, so wäre das theoretische Interesse eines Textes wie dem Zweiten Diskurs in erster Linie ein psychologisches. Umgekehrt könnten die politischen Schriften dann selbst einen zuverlässigen Zugang zur Problematik des Selbst bei Rousseau verschaffen. Hierbei wäre der Zweite Diskurs besonders dienlich, und zwar nicht nur deshalb, weil er im Gegensatz zum Gesellschaftsvertrag das Moment der Übertragung in eine literarische Fiktion ausdrücklich einbindet, sondern gerade deshalb, weil er im Unterschied zu den autobiographischen Schriften seine Selbstbesessenheit hinter einer Sprache der begrifflichen Allgemeinheit verbirgt. Rousseaus Ambivalenz in Bezug auf solche Schlüsselbegriffe wie Eigentum, bürgerliche Autorität und sogar Technologie7 könnte dann als Modell für das Verständnis seiner psychologischen Selbstmystifikationen herangezogen werden. Streng auf den Text bezogen, beliefe sich das Problem auf die Inkonsistenz zwischen dem ersten und dem zweiten Teil. Zwischen der reinen Fiktion, die sich im ersten Teil mit theoretischen Problemen bezüglich des Menschen, der Natur und der Methodenlehre befasst, und der Erzählung, die sich im zweiten Teil vorwiegend einer historischen und institutionellen Sprache bedient, bestünde dann eine Kluft, ein unüberbrückbarer „décalage“, den der in einem falschen Anspruch auf unverfälschte Selbsterkenntnis gefangene Rousseau wohl am wenigsten von allen wahrnehmen könnte. Die nachfolgende Lektüre stellt dieses Betrachtungsmuster in Frage.
Die meisten Kommentatoren würden darin übereinstimmen, dass der Naturzustand zumindest bis zu einem gewissen Grad ein Zustand ist, „der nicht mehr existiert, der vielleicht nie existiert hat, der wahrscheinlich niemals existieren wird …“
Im Zweiten Diskurs ist der Naturzustand zwar fiktional, aber nicht statisch. Veränderungsmöglichkeiten sind in seine Beschreibung als ein synchroner Seinszustand eingebaut. Die potentiell dynamischen Eigenschaften des natürlichen Menschen sind erstens Mitleid, ein Prinzip, das „der Vernunft voraus[liegt]“ und „uns einen natürlichen Widerwillen einflößt, irgendein empfindendes Wesen, und hauptsächlich unsere Mitmenschen, umkommen oder leiden zu sehen“ (S. 126), und zweitens Freiheit: „[Die Natur tut] bei den Operationen des Tieres allein alles, wohingegen der Mensch bei den seinen als ein frei Handelnder mitwirkt“ (S. 141). Der Begriff des Mitleids ist von Jacques Derrida eingehend untersucht worden.8 Wir können daher mit dem Begriff der Freiheit einsetzen.
Die ambivalente Natur des Freiheitsbegriffs bei Rousseau ist bereits einigen Interpreten aufgefallen. Frei zu sein bedeutet für Rousseau auf keinen Fall einen gelassenen und harmonischen Ruhezustand innerhalb der Grenzen, die dem Menschen in seiner Spezifität gesetzt sind, bedeutet nicht die Belohnung für eine rationale Einsicht in Beschränkungen, wie Kant sie verstand. Von Anfang an zeigt sich die Freiheit als ein Akt des Willens („der Wille spricht [noch], wenn die Natur schweigt“, S. 141), der seine Kräfte an dem allgegenwärtigen Hindernis einer Begrenzung misst, die er zu überschreiten sucht.9 Der Freiheitsbegriff ist eine Folge oder aber eine andere Version der zu Beginn des Zweiten Diskurses getroffenen Aussage, dass sich die Spezifität des Menschen unserem Verständnis unaufhörlich entzieht, da „wir uns durch das viele Studieren des Menschen außerstande gesetzt haben, ihn zu erkennen“ (S. 123). Deshalb wird jede Form von Einengung in den verbindlichen Rahmen einer anthropologischen Selbstdefinition als eine Restriktion empfunden, über die der Mensch als ein Wesen ohne natürliche Spezifität hinausgelangen muss. Dieser Wille zur Überschreitung macht für Rousseau die eigentliche Definition des Geistes aus, wie aus einer Nietzsche vorwegnehmenden Stelle deutlich wird: „in dem Vermögen zu wollen, oder vielmehr zu wählen, und im Gefühl dieses Vermögens stößt man nur auf rein geistige Akte“ (S. 142). Sehr wenig unterscheidet das Vermögen zu wollen beziehungsweise die Willenskraft (puissance de vouloir) vom „Willen zur Macht“, da das Vermögen zu wählen gerade das Vermögen ist, alles das zu überschreiten, was in der Natur das Ende der menschlichen Macht zur Folge hätte.
Das direkte Korrelat der so begriffenen Freiheit wird erstmals in dem auf diese Definition unmittelbar folgenden Absatz erwähnt, wenn auch der gedankliche Brückenschlag nicht klar formuliert wird: Freiheit ist der Wille des Menschen zur Veränderung, ist das, was Rousseau leicht irreführenderweise „Perfektibilität“ nennt.10 Die potentielle Überschreitung, die immer dann in Erscheinung tritt, wenn der Begriff der Natur und der Begriff des Menschen miteinander in Verbindung gebracht werden – im Versuch über den Ursprung der Sprachen sind alle Beispiele, die dazu bestimmt sind, die „natürliche“ Sprache des Menschen zu veranschaulichen, Gewaltakte11 –, wandelt alle menschlichen Attribute von bestimmten, in sich geschlossenen und sich selbst als Ganzes wahrnehmenden Handlungen in offene Strukturen um: Wahrnehmung wird zu Einbildungskraft, natürliche Bedürfnisse [besoins] zu unerfüllbaren Leidenschaften, Empfindungen zu einem unaufhörlichen Streben nach Erkenntnis. Alle diese offenen Strukturen berauben den Menschen auf immer einer zentralen Identität („Je mehr man … nachdenkt, desto mehr vergrößert sich … der Abstand von den reinen Empfindungen zu den einfachsten Erkenntnissen“, S. 144). Gemäß demselben konsistenten Muster fällt die Entdeckung der Zeitlichkeit mit den Handlungen der grenzüberschreitenden Freiheit zusammen: Die Zeit verhält sich zum Raum wie die Einbildungskraft zur Wahrnehmung, die Leidenschaft zum Bedürfnis und so fort. Gerade die Vorstellung einer Zukunft ist mit der Möglichkeit einer freien Einbildungskraft verbunden; die Seele des noch unfreien wilden Menschen ist „ohne irgendeinen Gedanken an die Zukunft, wie nah sie auch sein mag; und seine Pläne, die so beschränkt sind wie seine Ansichten, erstrecken sich kaum bis ans Ende des Tages“ (S. 144). Das Bewusstsein der Sterblichkeit ist gleichermaßen an die Freiheit gebunden, die den Menschen vom Tier unterscheidet: „[D]ie Kenntnis des Todes und seiner Schrecken ist eine der ersten Errungenschaften, die der Mensch gemacht hat, als er sich vom tierischen Zustand entfernte“ (S. 143).
Dieser existentielle Freiheitsbegriff ist an sich schon beeindruckend genug. Er reicht jedoch nicht aus, um die Verbindung zu den politischen Anteilen des Zweiten Diskurses herzustellen. Er erklärt die ambivalente Bewertung einer jeden historischen Veränderung, da jegliche Veränderung immer das sie ermöglichende Wertesystem in Frage zu stellen haben wird: Jede positive Bewertung der Veränderung als Fortschritt impliziert immer auch einen Rückschritt, und Rousseaus Text ist peinlich darauf bedacht, dieses Gleichgewicht aufrecht zu erhalten.12 Die Unmöglichkeit, auf dem Wege aufgeklärter Vernunft zu einer Anthropologie zu gelangen, erklärt auch den notwendigen Sprung in die Fiktion, da keine vergangene oder gegenwärtige menschliche Handlung mit der Natur des Menschen übereinstimmen oder sich in deren Richtung entwickeln kann. Bestehen bleibt die Frage, was den Zweiten Diskurs dazu bewegt, im zweiten Teil zu den konkreten Realitäten des politischen Lebens zurückzukehren und normative Bewertungen wieder einzuführen – mit anderen Worten: warum das zu Beginn aufgestellte methodologische Paradoxon (dass gerade der Versuch, den Menschen zu erkennen, diese Erkenntnis unmöglich macht) den Text nicht daran hindert, letztlich doch noch zu beginnen (wenn auch nach vielen Verzögerungen, denn einem ersten Teil geht ein Exordium voran, das eine methodologische Einführung darstellt und seinerseits von einem Vorwort eingeleitet wird). Welche im ersten Teil dargestellten charakteristischen Strukturen von Freiheit und Perfektibilität führen uns zum Verständnis der politischen Strukturen des zweiten Teils? Und an welcher Stelle befindet sich eine solche Strukturbeschreibung von Perfektibilität, wenn wir doch scheinbar einen in sich geschlossenen, genetischen Text vor uns haben, in dem das Thema der Perfektibilität ganz einfach den roten Faden bildet?
Der Abschnitt über die Sprache (S. 146-151) tritt als eine Digression auf, die die Unmöglichkeit veranschaulichen soll, den Übergang von der Natur zur Kultur auf natürlichem Wege zu bewältigen, und die parallel zu einem ähnlich strukturierten Argumentationsstrang verläuft, der sich mit dem Zuwachs an Technologie auseinandersetzt. Dergestalt hat der Abschnitt tatsächlich eine sekundäre Funktion, die polemisch ist und nicht zu den systematischen Aspekten des Zweiten Diskurses gehört. Zu Recht betont Starobinski, Rousseau habe in diesem Abschnitt „weniger eine kohärente Theorie des Ursprungs der Sprache formulieren als vielmehr die Schwierigkeiten aufzeigen wollen, die die Fragestellung aufwirft“ (S. 1322, Anm. 2). Tatsächlich ist die gesamte Passage im Ton eines Scheinarguments gehalten, das sich gegen all jene richtet, die den Ursprung der Sprache mithilfe kausaler Kategorien erklären, welche ihrerseits von der genetischen Kraft des Ursprungs abhängig sind, für die sie doch verantwortlich sein sollen.13 Die fortwährende Warnung vor der Täuschung, einen privilegierten Standpunkt einnehmen zu können, ohne in der Lage zu sein, die eigene Genealogie zu verstehen, ist ein methodologisches Thema, das den gesamten Zweiten Diskurs durchzieht und auch auf die Sprachtheorie Anwendung findet. Aber nicht in gezielter Form. Die Sprachwissenschaft ist eines der Gebiete, auf dem sich diese Art von Fetischismus (die Reduzierung von Geschichte auf Natur) zeigt, aber sie ist nicht das einzige. Der gleiche Irrtum herrscht in Bezug auf das moralische Urteil (Hobbes) oder auf die Technologie vor. So betrachtet, scheint der Abschnitt über die Sprache in erster Linie eine kritische Funktion zu haben und zur Erhellung des zentralen Problems des Textes nichts beitragen zu können: der Frage nach der erkenntnistheoretischen Autorität des normativen zweiten Teils.
Rousseau koppelt Sprache ausdrücklich an den Begriff der Perfektibilität, der seinerseits von den Urkategorien der Freiheit und des Willens abgeleitet ist.
Die Passage enthält indes ihre eigene Theorie über die Struktur von Sprache, wenn auch in sehr fragmentarischer und obliquer Form. Und was noch wichtiger ist: Rousseau koppelt Sprache ausdrücklich an den Begriff der Perfektibilität, der seinerseits von den Urkategorien der Freiheit und des Willens abgeleitet ist. „Im Übrigen“, schreibt er, „können die Allgemeinvorstellungen nur mit Hilfe der Wörter in den Geist gelangen; und der Verstand erfasst sie nur durch Sätze. Das ist einer der Gründe, weshalb die Tiere sich weder solche Vorstellungen zu bilden noch jemals die Perfektibilität zu erlangen vermögen, die von diesen abhängt“ („C’est une des raisons pourquoi les animaux ne sauraient se former de telles idées, ni jamais acquérir la perfectibilité qui en dépend“, S. 149). Perfektibilität und Sprache entwickeln sich in gleicher Weise, indem sie von den besonderen Namen zu den Allgemeinvorstellungen fortschreiten: hier wird eine explizite Verbindung zwischen zwei verschiedenen Begriffsbereichen hergestellt. In den ersten fallen Perfektibilität, Freiheit und eine Reihe von Allgemeinbegriffen, die narrativ und thematisch miteinander verbunden, aber nie hinsichtlich ihrer inneren Strukturen beschrieben werden; in den zweiten Bereich fallen die strukturellen und epistemologischen Eigenschaften von Sprache. Überdies fungieren Freiheit und Perfektibilität als Relaisstationen, die dem Zweiten Diskurs den Übergang von der methodologischen Sprache des ersten zur politischen Sprache des zweiten Teils ermöglichen. Folglich kann die Bedeutung des Satzes dahingehend interpretiert werden, dass das System der Begriffe, die in den politischen Anteilen des Zweiten Diskurses wirksam sind, genauso strukturiert ist wie das Sprachmodell, das in der Digression beschrieben wird. Das macht die Passage zu einer Schlüsselstelle für das Verständnis des gesamten Texts, da wir nirgendwo sonst eine so detaillierte Strukturanalyse der Begriffe finden, die an der nachfolgenden Erzählung beteiligt sind.
Dennoch wird die Passage in den meisten Diskurs-Lektüren eher gemieden als hervorgehoben. In seinen Anmerkungen zur Pléiade-Ausgabe scheint sich Jean Starobinski einiger ihrer Implikationen sehr bewusst zu sein, setzt ihrem Einfluss aber durch ein Argument, das direkt zum Kern des die Interpretation erschwerenden Problems führt, umgehend Grenzen. Er kommentiert Rousseaus Satz „C’est une des raisons pourquoi les animaux ne sauraient se former des idées générales, ni jamais acquérir la perfectibilité qui en dépend“ mit den Worten: „Der Relativsatz [qui en dépend] hat hier eine bestimmende und keine erklärende Funktion. Es handelt sich hier um eine besondere Art von Perfektibilität, die von der Sprache abhängt. Was die Perfektibilität im Allgemeinen anbelangt, von der Rousseau uns sagte, dass sie eine wesentliche und ursprüngliche Eigenschaft des Menschen sei, so ist sie nicht das Ergebnis der Sprache, sondern vielmehr ihre Ursache“ (S. 1327, Anm. 8). Da die französische Sprache nicht wie die englische zwischen „which“ und „that“ unterscheidet, ist es unmöglich, allein anhand seiner Grammatik zu entscheiden, ob der Satz als „Tiere könnten niemals Perfektibilität erlangen, da Perfektibilität von Sprache abhängt“ zu lesen ist, oder so, wie Starobinski ihn auffasst: „Tiere könnten niemals die Art von Perfektibilität erreichen, die von Sprache abhängt.“ Das richtige Verständnis der Passage hängt davon ab, ob man die umstrittene Behauptung anerkennt, dass das von Starobinski eingeführte Prinzip der genetischen Kausalität, bei dem die chronologische, die logische und die ontologische Priorität zusammenfallen,14 tatsächlich das in Rousseaus Text wirksame System ist. Kann man von Perfektibilität wirklich sagen, sie sei eine wesentliche und ursprüngliche Eigenschaft des Menschen, „une propriété essentielle et primitive de l’homme“? Hier handelt es wohl eher um eine Formulierung Starobinskis als um die Worte Rousseaus, der nur sagt, dass sie eine sehr spezifische Eigenschaft ist, die Mensch und Tier unterscheidet, „une qualité très spécifique qui distingue [l’homme]“ (S. 142). Die Begriffe sind für sich genommen schon problematisch, und sie zu kombinieren, als könnten sie frei miteinander vertauscht werden, schafft die meisten Probleme. Starobinskis Formulierung geht nicht nur von der Annahme aus, dass das (zeitlich) Ursprüngliche auch die (ontologische) Essenz sein müsse, sondern dass eine Eigenschaft dessen, was vermutlich eine Substanz (der Mensch) ist, eine Wesenseigenschaft sein kann. Da sich überdies die Substanz „Mensch“ in diesem Text als ein äußerst flüchtiger Begriff erweist, der sich logisch viel eher wie eine Eigenschaft und nicht wie eine Substanz verhält, wäre die Wesenseigenschaft Perfektibilität dann die Eigenschaft einer Eigenschaft. Rousseaus methodologisches Hauptargument, seine kontinuierliche Warnung vor der Gefahr, die Ursache durch die Wirkung zu ersetzen,15 lässt zumindest ein gewisses Misstrauen gegenüber genetischen Kontinuitäten erkennen, da die Ersetzung nur dann zu einem Irrweg wird, wenn Zweifel an der Kontinuität aufkommen. Dies sollte uns vorsichtig machen, den praktischen Verstand und die bewundernswerte Besonnenheit, die in Starobinskis Lektüre entfaltet werden, unkritisch zu akzeptieren.
Selbst wenn die Stelle so verstanden wird, dass Perfektibilität – in dem allgemeinen Sinn, in dem der Begriff verwendet wird, wenn wir ihm im Zweiten Diskurs zum ersten Mal begegnen (S. 142) – an Sprache gebunden ist, scheint die Aussage auf den ersten Blick doch nicht so umfassend zu sein, dass damit ihre Unterdrückung gerechtfertigt wäre.* Warum also wird die Stelle übersehen oder gemieden? Es wäre doch seltsam, dass, wenn ein Text uns die Möglichkeit anbietet, einen nichtsprachlichen, historischen Begriff wie Perfektibilität mit Sprache in Verbindung zu bringen, wir uns weigerten, dem Hinweis zu folgen. Besonders seltsam wäre es im Falle eines Textes, dessen Verständlichkeit [intelligibility] abhängig ist vom Bestehen oder Nichtbestehen einer solchen Verbindung zwischen einer „literarischen“, sprachorientierten Untersuchungsmethode und den praktischen Ergebnissen, zu denen zu führen sich die Methode verpflichtet. Und doch versucht ein Kritiker von Starobinskis Intelligenz und Subtilität nach Kräften, den Zeichen auszuweichen, die Rousseau gesetzt hat, und zieht die schonungsvoll nichtssagende Lektüre der suggestiven Lektüre vor, obwohl ein solches Vorgehen einen interpretatorischen Aufwand erfordert. Dabei findet sich in Rousseaus Werk nicht die Spur einer besonderen, sprachlichen Perfektibilität, die sich von historischer Perfektibilität im Allgemeinen unterscheiden würde. Im Versuch über den Ursprung der Sprachen entwickelt sich die Perfektibilität der Sprache, die genaugenommen eine Herabsetzung ist, in exakt der gleichen Weise wie die Perfektibilität der Gesellschaft im Zweiten Diskurs. Eine unerwartete Gefahr muss in einem Satz wie diesem versteckt sein, dass man so ängstlich darauf bedacht ist, ihn zu entschärfen.
Tiere haben keine Geschichte, weil sie nicht in der Lage sind, den spezifisch sprachlichen Akt der Begriffsbildung auszuführen. Wie aber funktioniert die Begriffsbildung nach Rousseaus Auffassung? Der Text gibt uns darüber Auskunft, wenn auch nicht auf eine einfache und geradlinige Weise. Er beschreibt die Begriffsbildung als das Ersetzen einer sprachlichen Äußerung (auf der einfachsten Ebene ist das ein Eigenname) durch eine andere, und dies auf der Grundlage einer Ähnlichkeit, die Unterschiede verdeckt, welche die Existenz von Entitäten überhaupt erst möglich machten. Die natürliche Welt ist eine Welt der reinen Kontiguität: „alle individuellen Dinge stellten sich ihrem16 Geist isoliert dar, so wie sie es im Bilde der Natur sind. Wenn eine Eiche A genannt wurde, so wurde eine andere B genannt…“ (S. 149). Innerhalb dieser Kontiguität kommen gewisse Ähnlichkeiten zum Vorschein. Indem wir A und B auf der Grundlage gewisser Eigenschaften, die diese beiden gemeinsam haben, durch das Wort „Baum“ ersetzen, erfinden wir eine Abstraktion, unter der die irreduziblen Unterschiede, die A von B trennen, subsumiert werden. Die Wahrnehmung dieser Unterschiede ist an sich keine Begriffsbildung: Bei den Tieren führt sie zu Handlungen, die Bedürfnisse befriedigen, doch bleiben diese auf den Rahmen der jeweiligen besonderen Tat begrenzt. „Wenn ein Affe ohne zu zögern von einer Nuss zur anderen geht, glaubt man dann, dass er die Allgemeinvorstellung dieser Fruchtart hat oder dass er ihren Archetyp mit diesen beiden Individuen vergleicht? Zweifellos nicht…“ (S. 149f.). Die Begriffsbildung findet nicht auf der Grundlage der bloßen Wahrnehmung statt: Wahrnehmung und Einbildungskraft (als Gedächtnis)17 treten zwar hinzu, wenn es um das Wiedererkennen gewisser Ähnlichkeiten geht – eine Handlung, von der es heißt, zu ihr seien Tiere und Menschen gleichermaßen imstande –, aber der tatsächliche Prozess der Begriffsbildung ist ein sprachlicher: „Man muss daher Sätze aussagen, man muss daher sprechen, um Allgemeinvorstellungen zu haben, denn sobald die Einbildungskraft aussetzt, kommt der Geist nur mehr mit Hilfe der Rede weiter [à l’aide du discours]“ (S. 150).
Die Beschreibung scheint innerhalb eines binären Systems zu verbleiben, in dem Tier und Mensch, Natur und Kultur, Handlungen (oder Dinge) und Worte, Besonderheit (oder Differenz) und Allgemeinheit, Konkretheit und Abstraktion zueinander in polarer Opposition stehen. Antithesen dieser Art gestatten dialektische Bewertungen, und obwohl diese Diskurs-Passage (S. 149-150) verhältnismäßig frei von Werturteilen ist (es wird nichts über eine grundsätzliche Überlegenheit der Natur gegenüber dem Kunstmittel oder des praktischen Verhaltens gegenüber der spekulativen Abstraktion gesagt), fordert sie dennoch Werturteile seitens des Interpreten heraus. Die scharfsinnigsten Beurteilungen dieser und ähnlicher Passagen sind jene, welche die Spannung in der Sprache selbst verorten, indem sie den Blick darauf lenken, dass die Polarität in der Struktur des sprachlichen Zeichens enthalten ist, in der von Rousseau getroffenen Unterscheidung zwischen der benennenden und der begriffsbildenden Funktion der Sprache. Der Text unterscheidet tatsächlich den Akt der Namensgebung (Baum A und Baum B), der zur wörtlichen Benennung durch den Eigennamen führt, vom Akt der Begriffsbildung. Und die Begriffsbildung, die als Austausch oder Substitution von Eigenschaften auf der Grundlage von Ähnlichkeit aufgefasst wird, entspricht ganz genau der klassischen Metapherndefinition, wie sie uns in den Theorien der Rhetorik von Aristoteles bis Roman Jakobson begegnet.18 Der Text würde somit in einem gewissen Sinne zwischen figurativer, konnotativer und metaphorischer Sprache einerseits und benennender, referentieller und wörtlicher Sprache andererseits unterscheiden, und er würde beide Modi einander antithetisch gegenüberstellen. Dies gestattet eine Bewertung, die den einen Modus gegenüber dem anderen privilegiert. Da Rousseau die zeitliche Priorität des Eigennamens vor dem Begriff geltend macht („Jeder Gegenstand erhielt zunächst einen besonderen Namen…“, S. 149; „die ersten Substantive haben niemals etwas anderes als Eigennamen sein können“, S. 150, Hervorhebung P.d.M.), so würde daraus in der Tat folgen, dass er gemäß der genetischen Logik der Erzählung die wörtlichen von den metaphorischen Formen der Sprache trennt und erstere letzteren vorzieht. Diese in den Rousseau-Studien nahezu einstimmig anerkannte Interpretation wird von Alain Grosrichard19 unter sinnvoller Bezugnahme auf Michel Foucault treffend zusammengefasst: „Die ganze Geschichte von Rousseaus Werk, der Übergang von der „Theorie“ zur „Literatur“, ist die Übertragung des Bedürfnisses, die Welt zu benennen, auf das vorrangige Bedürfnis, sich selbst zu benennen. Die Welt zu benennen heißt, die Darstellung der Welt mit der Welt selbst in Einklang zu bringen; mich selbst zu benennen heißt, die Welt, wie sie sich mir darstellt, mit der Darstellung, die ich anderen vermittle, übereinstimmen zu lassen.“20 Rousseaus zunehmend subjektiver und autobiographischer Diskurs wäre somit lediglich die auf den Bereich des Selbst begrenzte Erweiterung des referentiellen Sprachmodells, das sein Denken beherrscht. Die Erfolglosigkeit dieses Versuchs, das Subjekt zu „benennen“, die Entdeckung, dass das Subjekt, wie Grosrichard sagt, „unbenennbar“ ist,21 untergräbt die Autorität von Rousseaus eigener Sprache. Auch drängt sie Rousseau und seinen Diskurs, zusammen mit Condillac und generell mit allen Nachfolgern von Locke, in die Position dessen, was Foucault in einer subversiven Formulierung „le discours classique“ nennt. Solange sie nur den Zweiten Diskurs betrifft, müsste eine solche Interpretation zu dem Schluss kommen, dass der Text tatsächlich inkohärent ist, da er die von ihm selbst geltend gemachte Opposition zwischen der begrifflichen Metapher „Naturzustand“ und der buchstäblichen Wirklichkeit bürgerlicher Gesellschaft nicht im Griff hat. Indem er seinen Anfang in der Metapher nimmt, kehrt der Text zudem die von ihm verfochtene Priorität der Benennung über die Konnotation um. In Texten, die sich ausdrücklich auf das Selbst konzentrieren – den Bekenntnissen etwa, oder den Dialogen – würde diese Inkohärenz zumindest offen zutage treten, während sie in der pseudo-begrifflichen Sprache des Zweiten Diskurses verdrängt wird.
Bevor wir uns diesem sehr überzeugenden Schema überlassen, ist es nötig, dass wir die spezielle Stelle im Diskurs und den entsprechenden Abschnitt im Versuch über den Ursprung der Sprachen noch einmal lesen.22 Trennt Rousseau wirklich die figurative von der wörtlichen Sprache, und privilegiert er tatsächlich die eine Diskursform gegenüber der anderen? Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort, denn während der Diskurs besagt, dass „die ersten Substantive niemals etwas anderes als Eigennamen haben sein können“, so versichert der Versuch genauso glaubhaft, dass „die erste Sprache des Menschen figurativ gewesen sein muss“, und dass die figurative Sprache vor der wörtlichen, „eigentlichen Bedeutung“ entstanden sei (S. 381).** Und wenn wir versuchen, die Benennung bei Rousseau im Sinne Foucaults als einen „Akt“ zu verstehen, „durch die Sprache bis zu jenem Ort zu gehen, an dem die Sachen und die Wörter sich in ihrem gemeinsamen Wesen verknüpfen“23, dann entdecken wir, dass die Benennung im Zweiten Diskurs eher mit Differenz als mit Identität assoziiert wird. Eine Einfügung der Edition von 1782 beschreibt die Benennung („Wenn eine Eiche A genannt wurde, so wurde eine andere B genannt“) und ergänzt: „… denn die erste Vorstellung, die man von zwei Dingen gewinnt, ist, dass sie nicht dasselbe sind, und es ist oft viel Zeit nötig, um zu beobachten, was sie gemeinsam haben“ (S. 149). Wir müssten dann annehmen, dass ein Beobachter, der sich der Differenz so sehr bewusst ist, dass es ihm nicht gelingt, die Ähnlichkeit zwischen einem Eichbaum und einem anderen zu entdecken, nicht in der Lage wäre, den Unterschied zwischen dem Wort a und dem Baum A zu erkennen, was so weit ginge, dass er beide in einem „gemeinsamen Wesen“ identisch werden lässt. Wenn wir der traditionellen Rousseau-Lektüre folgen, wie sie hier durch Alain Grosrichard vertreten wird, ergibt sich die nächste Schwierigkeit. Wir würden den Akt der Benennung in der ganzen Transparenz seiner nichtbegrifflichen Wörtlichkeit begreifen wollen. Stattdessen lesen wir, dass „die ersten Erfinder [von Worten] nur den Vorstellungen [idées], die sie schon hatten, Namen geben konnten…“ (S. 150) – ein Satz, in dem das Wort „idée“, trotz aller vorkantianischen empirischen Konkretheit als „Vorstellung“, ein gewisses Maß an Begrifflichkeit (oder Metaphorizität) bezeichnet, das an eben dem Akt der Benennung von Anfang an beteiligt ist. Überdies ersehen wir aus dem zuvor zitierten Satz, um was es sich bei dieser „idée première“ handeln muss: um die Vorstellung der Differenz („die erste Vorstellung, die man von zwei Dingen gewinnt …“). Wenn aber alle Entitäten das Gleiche sind, nämlich Entitäten, und zwar in dem Maße, wie sie sich voneinander unterscheiden, dann ist die Ersetzung der Differenz durch die Gleichheit, die für Rousseau jede begriffliche Sprache ausmacht, ein integraler Bestandteil eben jenes Aktes der Benennung, der „Erfindung“ des Eigennamens. Es ist unmöglich zu sagen, ob die Benennung wörtlich oder figurativ ist, denn von dem Moment an, da es die Benennung gibt, ist die Begriffsmetapher der Entität als Differenz schon in ihr enthalten, und immer dann, wenn eine Metapher vorliegt, ist die wörtliche Benennung einer besonderen Entität unumgänglich: „Versucht, euch das Bild eines Baumes im Allgemeinen zu entwerfen: ihr werdet es niemals fertigbringen, ob ihr wollt oder nicht, werdet ihr ihn klein oder groß, schütter oder dichtbelaubt, hell oder dunkel sehen müssen“ oder „Sobald ihr euch eines [ein Dreieck] in eurem Geist vergegenwärtigt, ist es ein bestimmtes Dreieck und kein anderes; und ihr könnt nicht umhin, seine Linien sichtbar oder seine Fläche farbig zu machen“ (Diskurs, S. 150). Müssen wir daraus schließen, dass Rousseaus Paradoxa echte Widersprüche sind, dass er im Diskurs nicht wusste, was er im Versuch behauptete und umgekehrt? Vielleicht sollten wir seine Ermahnung ernst nehmen: „Um nicht in Widerspruch zu mir selbst zu geraten, muss man mir die Zeit lassen, mich zu erklären“ (Versuch, S. 401).
Im dritten Kapitel des Versuchs über den Ursprung der Sprachen gibt Rousseau uns ein „Beispiel“ in Form einer Erzählparabel, einer kurzen Allegorie. Das Beispiel erzählt von der Entstehung des Eigennamens Mensch, der zu Beginn des Zweiten Diskurses24 eine so bedeutende Rolle spielt:
„Ein wilder Mensch*** wäre, wenn er anderen begegnete, zunächst erschrocken. Seine Furcht hätte ihn diese Menschen größer und stärker als sich selbst sehen lassen; er hätte ihnen den Namen Riesen gegeben. Nach etlichen Erfahrungen würde er erkannt haben, dass, da diese vermeintlichen Riesen weder größer noch stärker waren als er, ihre Leibesgröße keineswegs mit der Vorstellung übereinstimmte, die er zuvor mit dem Wort Riese verknüpft hatte. Er würde also einen anderen Namen ersonnen haben, der ihnen und ihm gemein wäre, wie zum Beispiel den Namen Mensch, und er würde den des Riesen bei dem falschen Gegenstand belassen, der sich ihm während seiner Täuschung eingeprägt hatte.“ (Versuch, S. 381)
„Ein wilder Mensch wäre, wenn er anderen begegnete, zunächst erschrocken. Seine Furcht hätte ihn diese Menschen größer und stärker als sich selbst sehen lassen; er hätte ihnen den Namen Riesen gegeben.“
Hier handelt es sich um eine allgemeine und rein sprachliche Version dessen, was Grosrichard „se nommer“ nennt. Darin wird der Ursprung der Ungleichheit im wörtlichsten Sinn des Begriffs beschrieben. Es gibt Hinweise darauf, dass die Passage von Condillac inspiriert war,25 mit dem Unterschied, dass Rousseau sich auf erwachsene Menschen bezieht und nicht auf Kinder. Der Unterschied ist wichtig, da die gesamte Passage ein komplexes Spiel mit qualitativen und quantitativen Begriffen der Ähnlichkeit, Gleichheit und Differenz entfaltet.
Bei dieser Begegnung mit anderen Menschen ist die erste Reaktion des Wilden nach Aussage des Textes Furcht. Die Reaktion ist nicht naheliegend, und sie basiert sicherlich nicht auf objektiven Daten, denn Rousseau besteht darauf, dass es Menschen von gleicher Größe und Stärke gewesen sein müssen. Auch handelt es sich hier nicht um die Furcht eines Einzelnen, der einer Vielzahl gegenübersteht, da den wilden Menschen jeglicher Sinn für Zahlen oder Mengen fehlte. Die Ähnlichkeit hinsichtlich der Größe und aller sichtbaren Attribute der Stärke sollte auf den ersten Blick eher beruhigend wirken und die Reaktion weniger ängstlich ausfallen lassen als bei einer Begegnung mit einem Bären oder einem Löwen. Rousseau jedoch betont, dass es Furcht war, und Derrida hat sicherlich Recht mit seiner Feststellung, dass der darauffolgende Akt der Benennung – den anderen Menschen einen Riesen zu nennen, ein Prozess, den Rousseau als einen figurativen Sprachgebrauch beschreibt – die referentielle Bedeutung von einer äußeren, sichtbaren Eigenschaft zu einem „inneren“ Gefühl verschiebt.26 Die Wortschöpfung „Riese“ bedeutet einfach „Ich fürchte mich.“ Was aber begründet die Furcht, wenn es keine erkennbaren Anzeichen gibt, die für sie sprechen? Sie kann nur aus einem grundlegenden Gefühl des Misstrauens resultieren, aus dem Verdacht, dass das Geschöpf, dem man da begegnet, zwar nicht wie ein Löwe oder ein Bär aussieht, sich aber, entgegen seinem äußeren Erscheinungsbild, sehr wohl wie ein solcher verhalten könnte. Das in beruhigender Weise vertraute und ähnliche Äußere könnte eine Falle sein. Furcht ist das Ergebnis einer möglichen Diskrepanz zwischen den äußeren und den inneren Eigenschaften einer Entität. Es lässt sich zeigen, dass für Rousseau alle Leidenschaften – seien es Liebe, Mitleid oder Zorn, ja sogar ein solcher Grenzfall zwischen Leidenschaft und Bedürfnis wie Furcht – durch eine derartige Diskrepanz charakterisiert sind; sie gründen nicht auf der Erkenntnis, dass eine solche Differenz besteht, sondern auf der Annahme, dass sie existieren könnte, und damit auf einer Möglichkeit, die niemals auf empirischem oder analytischem Wege belegt oder widerlegt werden kann.27 Eine Aussage, die Misstrauen bekundet, ist weder wahr noch falsch: dem Wesen nach ist sie eher von der Art einer permanenten Hypothese.
Die Tatsache, dass Rousseau die Priorität der Metapher gegenüber der Benennung gerade am Beispiel der Furcht zeigt, kompliziert und bereichert das Muster beträchtlich, da die Metapher genau die Figur ist, die von einem gewissen Grad an Übereinstimmung zwischen „inneren“ und „äußeren“ Eigenschaften abhängt. Das Wort „Riese“, das der Wilde in seiner Furcht erfindet, um seinen Mitmenschen zu bezeichnen, ist tatsächlich eine Metapher, insofern es auf einer Übereinstimmung zwischen den inneren Gefühlen der Furcht und den äußeren Eigenschaften der Größe gründet. Es mag objektiv falsch sein (tatsächlich ist der andere Mensch gar nicht größer), aber aus subjektiver Sicht ist es ehrlich (dem Subjekt, das sich fürchtet, erscheint er größer). Die Aussage mag im Irrtum sein, aber sie ist keine Lüge. Sie verleiht der inneren Erfahrung in korrekter Weise „Ausdruck“. Die Metapher ist blind, und zwar nicht, weil sie objektive Daten verfälscht, sondern weil sie das als Gewissheit ausgibt, was in Wahrheit nur eine Möglichkeit ist. Die Furcht zu fallen ist „begründet“ [„true“], da die potentiell destruktive Kraft der Erdanziehung eine verifizierbare Tatsache ist, aber die Furcht vor einem anderen Menschen ist hypothetisch; einem Abgrund kann niemand trauen, aber ob man einem Mitmenschen trauen kann, ist und bleibt für jeden, der nicht gerade ein Paranoiker oder ein Narr ist, eine offene Frage. Indem man ihn einen „Riesen“ nennt, lässt man die Hypothese oder die Fiktion zu einer Tatsache erstarren und verwandelt „Furcht“, die ihrerseits ein figurativer Zustand der schwebenden Bedeutung ist, in eine feste, eigentliche Bedeutung ohne Alternative. Die Metapher „Riese“, die gebraucht wird, um Mensch zu konnotieren, hat tatsächlich eine eigentliche Bedeutung (Furcht), aber diese Bedeutung ist nicht wirklich eigentlich: Sie verweist auf einen permanenten Schwebezustand zwischen einer wörtlichen Welt, in der Erscheinungsbild und Wesen zusammenfallen, und einer figurativen Welt, in der diese Übereinstimmung nicht a priori gesetzt ist. Die Metapher ist ein Irrtum, weil sie an ihre eigene referentielle Bedeutung glaubt oder zu glauben vorgibt. Dieser Glaube ist nur innerhalb der Grenzen eines gegebenen Textes legitim: Die Metapher, die den Mut Achills konnotiert, indem sie ihn einen Löwen nennt, ist innerhalb der Texttradition der Ilias richtig, da sie sich auf einen Charakter in einer Fiktion bezieht, dessen Funktion es ist, gemäß den referentiellen Implikationen der Metapher zu leben. Sobald man den Text verlässt, wird sie zu einer Abweichung, zu einem Irrtum – dann etwa, wenn jemand seinen Sohn Achill nennt, weil er hofft, das würde aus ihm einen Helden machen. Rousseaus Beispiel eines Menschen, der einem anderen Menschen begegnet, ist textuell mehrdeutig, wie grundsätzlich alle Situationen, an denen kategoriale Beziehungen zwischen Mensch und Sprache beteiligt sind. Was bei einer solchen Begegnung geschieht, ist komplex: Der empirischen Situation, die offen und hypothetisch ist, wird eine Konsistenz verliehen, die nur in einem Text existieren kann. Dies wird durch eine Metapher bewerkstelligt (man nennt den anderen Menschen einen Riesen), durch eine substitutive Redefigur („Er ist ein Riese“ ersetzt „Ich fürchte mich“), die eine zwischen Fiktion und Tatsache in der Schwebe befindliche referentielle Situation (die Hypothese der Furcht) in eine wörtliche Tatsache verwandelt. Paradoxerweise nimmt die Figur ihren Referenten wörtlich und entzieht ihm seinen parafigurativen Status. Die Figur defiguriert, das heißt, sie macht die Furcht, die ihrerseits eine parafigurative Fiktion ist, zu einer Realität, die so unausweichlich ist wie die Realität der ursprünglichen Begegnung zwischen den zwei Menschen. Die Metapher übersieht das fiktionale, textuelle Element in der Natur der von ihr konnotierten Entität. Sie nimmt eine Welt an, in der intratextuelle und extratextuelle Ereignisse, wörtliche und figurative Sprachformen unterschieden werden können, eine Welt, in der das Wörtliche und das Figurative Eigenschaften sind, die isoliert und folglich untereinander ausgetauscht und füreinander eingesetzt werden können. Dies ist ein Irrtum, obwohl man sagen kann, dass ohne diesen Irrtum keine Sprache möglich wäre.
Die Kompliziertheit der Situation hängt offenbar mit der Wahl des Beispiels zusammen. Die Begegnung zwischen zwei Menschen impliziert ein komplexeres Wechselspiel von Differenz und Ähnlichkeit, als es in der Begegnung zwischen zwei potentiell antithetischen Entitäten der Fall wäre, etwa in der Begegnung zwischen Mann und Frau, wie in der Julie oder in Teilen des Émile, oder zwischen Mensch und Ding, wie im Beispiel des Zweiten Diskurses, wo ein Mensch einen Baum benennt und nicht einen anderen Menschen. Es scheint abwegig, dass Rousseau ein Beispiel wählt, das auf einer komplexeren Situation beruht als das Paradigma, mit dem er sich befasst. Sollten wir gemeinsam mit seinen traditionellen Interpreten zu dem Schluss kommen, dass die intersubjektive, reflexive Situation der Selbstbegegnung, wie im Falle der auf sich selbst im Spiegel gerichteten Faszination des Narziss, für Rousseau tatsächlich die paradigmatische Erfahrung darstellt, von der alle anderen Erfahrungen abgeleitet sind? Wir müssen uns in Erinnerung rufen, dass es sich bei dem Element der reflexiven Ähnlichkeit, wie es sich in dem Beispiel der Begegnung des Menschen mit dem Menschen spiegelt, nicht um die Darstellung einer paradigmatischen empirischen Situation handelt (wie im Falle von Descartes’ cogito oder im Falle jeglicher phänomenologischen Reduktion), sondern um die metaphorische Illustration einer sprachlichen Tatsache. Das Beispiel hat nichts mit dem genetischen Prozess der „Geburt“ der Sprache zu tun (der später im Text erzählt wird), sondern mit dem sprachlichen Prozess der Begriffsbildung. Der Erzählmodus der Passage ist selbst eine Metapher, die uns nicht den Fehler begehen lassen sollte, aus einer synchronen Sprachstruktur ein diachrones Geschichtsereignis zu machen. Und die Begriffsbildung ist, wie die Stelle aus dem Zweiten Diskurs über die Benennung der Bäume klarmacht, ein innersprachlicher Prozess, die Erfindung einer figurativen Metasprache, welche der unendlich fragmentierten und amorphen Sprache der reinen Benennung Form und Artikulation gibt. In dem Maße, wie jede Sprache begrifflich ist, spricht sie immer schon über Sprache und nicht über Dinge. Die schiere metonymische Aufzählung von Dingen, die Rousseau im Diskurs beschreibt („Wenn eine Eiche A genannt wurde, so wurde eine andere B genannt …“), ist ein gänzlich negatives Element, das weder die Sprache beschreibt, wie sie jetzt ist, noch, wie sie in ihren Anfängen war, sondern das auf dialektische Weise die wörtliche Benennung als Negation der Sprache ausweist. Die Benennung könnte niemals für sich allein existieren, obwohl sie ein konstitutiver Bestandteil aller Sprachereignisse ist. Jede Sprache spricht über die Benennung und ist damit eine begriffliche, figurative, metaphorische Metasprache. Als solche partizipiert sie an der Blindheit der Metapher, wenn diese ihre referentielle Unbestimmtheit ins Wörtliche überführt und damit auf eine spezifische Bedeutungseinheit festlegt. Diese Aussage über die metasprachliche (oder begriffliche) Natur der Sprache ist das Äquivalent zu der früher getroffenen, unmittelbar aus Rousseaus Text abgeleiteten Aussage, der zufolge die Benennung den Begriff (oder die Vorstellung) der Differenz voraussetzen muss, um überhaupt entstehen zu können.
Wenn jede Sprache über Sprache spricht, dann ist das paradigmatische Sprachmodell dasjenige, in dem eine Entität sich selbst gegenübertritt.28 Daraus folgt, dass es sich bei der im Versuch dargestellten exemplarischen Situation, in der der Mensch dem Menschen gegenübertritt, um das richtige Sprachparadigma handelt, bei der im Zweiten Diskurs beschriebenen Situation hingegen, in der der Mensch einem Baum gegenübertritt, um eine dialektische Ableitung von diesem Paradigma, die sich von dem Sprachmodell entfernt und auf Fragen der Wahrnehmung, des Bewusstseins, der Reflexion und dergleichen zusteuert. In einem Text, der die Spezifität des Menschen mit der Sprache, und innerhalb der Sprache mit dem Vermögen zur Begriffsbildung assoziiert, gehört die Priorität dem Beispiel des Versuchs. Von daher ist die Aussage des Diskurses, dass „die ersten Substantive nie etwas anderes als Eigennamen haben sein können“, aus der logisch vorgängigen Aussage abgeleitet, dass „die erste Sprache des Menschen figurativ gewesen sein muss.“ Ein Widerspruch liegt nicht vor, wenn man erkannt hat, dass Rousseau die Benennung als eine verborgene, blinde Figur begreift.
Dies ist noch nicht das Ende der Parabel. Die heutige Sprache verwendet nicht das imaginäre Wort „Riese“;29 stattdessen hat sie den Begriff „Mensch“ erfunden. Die Begriffsbildung ist ein doppelter Prozess: genau diese Doppelschichtigkeit macht das sukzessive Erzählmuster der Allegorie möglich. Sie besteht zunächst aus einer wilden, spontanen Metapher, die bis zu einem gewissen Grad abweichend ist. Auf der ersten Ebene ist diese Abweichung jedoch nicht intentional, weil sie die Interessen des Subjekts in keiner Weise einbezieht. Rousseaus Mensch gewinnt wahrscheinlich nichts daran, das Wort „Riese“ zu erfinden. Die durch das Wort eingeleitete Verzerrung resultiert ausschließlich aus einem formalen, rhetorischen Potential der Sprache. Anders verhält es sich auf der zweiten Ebene. Das Wort „Mensch“, sagt Rousseau, wird erst „[n]ach etlichen Erfahrungen“ erfunden, wenn der wilde Mensch erkannt hat, dass „diese vermeintlichen Riesen weder größer noch stärker waren als er…“ (Versuch, S. 381). Das Wort „Mensch“ ist das Ergebnis eines quantitativen, auf Messung basierenden Vergleichsprozesses, der die Kategorie der Zahl in der Absicht gebraucht, zu einer beruhigenden Schlussfolgerung zu gelangen: Wenn die Größe des anderen Menschen zahlenmäßig der meinen entspricht, dann ist er nicht mehr gefährlich. Die Schlussfolgerung ist ein Wunschgedanke und befindet sich somit potentiell im Irrtum, wie Goliath, Polyphem und manch anderer früh genug entdecken sollten. Die zweite Ebene der Abweichung hat ihre Ursache im Gebrauch der Zahl, denn diese wird so verwendet, als sei sie eine wörtliche Eigenschaft der Dinge, die wirklich zu ihnen gehört, während sie doch tatsächlich nur eine weitere Begriffsmetapher ist, die keine objektive Gültigkeit besitzt und den Verzerrungen ausgesetzt ist, die alle Metaphern konstituieren. Die Zahl ist für Rousseau, wie für Nietzsche, schlechthin der Begriff, der die ontische Differenz hinter einer Illusion von Identität verbirgt. Die Vorstellung der Zahl ist ebenso abgeleitet und suspekt wie die Vorstellung des Menschen:
„Ein Wilder konnte sein rechtes Bein und sein linkes Bein getrennt betrachten oder sie zusammen unter der unteilbaren Vorstellung eines Paares ansehen, ohne jemals zu denken, dass er zwei hatte; denn die repräsentierende Vorstellung, die uns einen Gegenstand abbildet, ist eine Sache und die numerische Vorstellung, die ihn bestimmt, eine andere. Noch weniger konnte er bis fünf zählen; und obwohl er beim Aufeinanderlegen seiner Hände hätte bemerken können, dass die Finger sich exakt entsprachen, war er sehr weit davon entfernt, an ihre numerische Gleichheit zu denken …“ (Diskurs, S. 219, Anm. XIV).
Der Begriff des Menschen ist somit doppelt metaphorisch: Er besteht erstens aus dem blinden Moment des leidenschaftlichen Irrtums, das zum Wort „Riese“ führt, und zweitens aus dem Moment des bewussten Irrtums, der die Zahl in der Absicht verwendet, die ursprüngliche wilde Metapher zu zähmen und harmlos zu machen (es versteht sich, dass die hier verwendeten numerischen Termini „erstens“, „doppelt“, „ursprünglich“ usw. ihrerseits metaphorisch sind und nur der Klarheit der Darstellung dienen sollen). Der Mensch erfindet den Begriff des Menschen vermittels eines anderen Begriffs, der seinerseits illusionär ist. Die „zweite“ Metapher, die Rousseau mit der wörtlichen, absichtlichen und rhetorischen Verwendung der spontanen Figur gleichsetzt,30 ist nicht mehr unschuldig: Die Erfindung des Wortes Mensch ermöglicht es den „Menschen“, zu existieren, denn mit dem Wort etabliert sich die Gleichheit innerhalb der Ungleichheit, die Identität innerhalb der Differenz der bürgerlichen Gesellschaft, in der die in der Schwebe befindliche potentielle Wahrheit der ursprünglichen Furcht durch die Illusion der Gleichheit gebändigt wird. Der Begriff interpretiert die Metapher der numerischen Gleichheit als eine wörtlich zu nehmende Tatsachenaussage. Ohne dieses Wörtlichnehmen könnte es keine Gesellschaft geben. Rousseaus Leser muss sich vergegenwärtigen, dass diese Wörtlichkeit die trügerische Falschdarstellung einer ursprünglichen Blindheit ist. Die begriffliche Sprache, die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft, ist zudem, so scheint es, eine Lüge, die einen Irrtum überlagert. Daher steht wohl kaum zu erwarten, dass die Epistemologie der Wissenschaften vom Menschen geradlinig und aufrichtig ist.
Der Diskurs über die Ungleichheit sagt uns, dass das politische Geschick des Menschen wie ein Sprachmodell strukturiert ist bzw. sich von einem solchen ableitet, das unabhängig von der Natur und unabhängig vom Subjekt existiert.
Der Übergang von der Struktur der begrifflichen Sprache zur Gesellschaft ist in dem im Versuch gegebenen Beispiel impliziert, das die Genealogie des Wortes „Mensch“ beschreibt. Er wird expliziert, wenn zu Beginn des zweiten Diskurs-Teils der Ursprung der Gesellschaft in exakt parallelen Begriffen beschrieben wird, diesmal jedoch nicht mehr als ein Beispiel am Rande, sondern als die Kernaussage des Zweiten Diskurses, die in der kohärenten Bewegung von der Freiheit zur Perfektibilität, von der Perfektibilität zur Sprache, von der Sprache zum Menschen und vom Menschen zur politischen Gesellschaft die Achse des Textes bildet. Weder die Entdeckung des Feuers und der Technologie noch das Zusammentreffen der Menschen, die in nächster Nähe zueinander leben, erklären den Ursprung der Gesellschaft. Die Gesellschaft entsteht im Moment des quantitativen Vergleichs begrifflicher Beziehungen:
„Die wiederholten Kontakte zwischen dem Menschen und verschiedenen Entitäten, und zwischen den Entitäten untereinander, muss im Geiste des Menschen notwendigerweise die Wahrnehmungen bestimmter Beziehungen hervorrufen. Diese Verhältnisse, die wir mit den Wörtern groß, klein, stark, schwach, schnell, langsam, furchtsam, kühn ausdrücken, und andere ähnliche Vorstellungen, die bei Bedarf, und fast ohne darüber nachzudenken, verglichen wurden, brachten in ihm schließlich eine Art von Reflexion, oder vielmehr eine mechanische Klugheit hervor, die ihm die notwendigsten Vorsichtsmaßnahmen für seine Sicherheit anzeigt… Die Übereinstimmungen, welche die Zeit ihn zwischen ihnen [seinen Mitmenschen], seinem Weibchen und ihm selbst wahrnehmen lassen konnte, ließen ihn auf jene schließen [juger de], die er nicht wahrnahm; und da er sah, dass sie sich alle so verhielten, wie er sich unter ähnlichen Umständen verhalten hätte, schloß er, dass ihre Art zu denken und zu fühlen mit der seinen gänzlich übereinstimmte.“ (Diskurs, S. 166, Veränderungen P.d.M.).31
Die Passage beschreibt genau das gleiche Wechselspiel zwischen Leidenschaft (Furcht), Messung und Metapher (analogisch von sichtbaren auf unsichtbare Eigenschaften schließen) wie die Parabel aus dem Versuch über den Ursprung der Sprachen. Eine Zeile weiter wird das Prinzip der Übereinstimmung, auf dem der Begriff des Menschen und die Möglichkeit der Regierung beruhen, „cette importante Vérité“ (S. 166) genannt. Spätestens jetzt sollte klar sein, dass, was Rousseau „Wahrheit“ nennt, weder die Angemessenheit [adequation] der Sprache in Bezug auf die Realität bezeichnet, noch die Essenz der Dinge, die durch die Opakheit der Wörter hindurchscheint, sondern vielmehr den Verdacht, das die Spezifität des Menschen ihre Wurzeln womöglich in einer Sprachtäuschung hat.
Für Rousseaus politische Theorie hat diese negative Einsicht weitreichende Folgen. Der Diskurs über die Ungleichheit sagt uns etwas, das zu hören die klassische Rousseauinterpretation sich weigert; er sagt, dass das politische Geschick des Menschen wie ein Sprachmodell strukturiert ist bzw. sich von einem solchen ableitet, das unabhängig von der Natur und unabhängig vom Subjekt existiert: Es fällt mit der blinden Metaphorisierung zusammen, die „Leidenschaft“ genannt wird, und diese Metaphorisierung ist kein intentionaler Akt. Im Gegensatz zu dem, was man vielleicht erwarten könnte, setzt sich dadurch die unvermeidlich „politische“ Natur, oder besser gesagt (da man in diesem Fall nur schwerlich von „Natur“ sprechen kann) die „Politizität“ aller Formen der menschlichen Sprache durch, und besonders der rhetorisch selbstbewussten oder literarischen Sprache – wenn auch sicherlich nicht in dem repräsentationalen, psychologischen oder ethischen Sinn, in dem die Beziehung zwischen Literatur und Politik im Allgemeinen verstanden wird. Wenn sich die Gesellschaft und die Regierung von einer Spannung zwischen dem Menschen und seiner Sprache ableiten, dann sind sie weder natürlich (abhängig von der Beziehung zwischen Mensch und Ding) noch ethisch (abhängig von der Beziehung der Menschen untereinander) noch theologisch, da Sprache nicht als ein transzendentales Prinzip begriffen wird, sondern als die Möglichkeit kontingenten Irrtums. Dergestalt wird das Politische dem Menschen eher zur Last und stellt sich ihm nicht als Chance dar, und es ist durchaus denkbar, dass diese Erkenntnis, deren Ausdrucksmöglichkeiten im Bereich des Sardonischen und Pathetischen unendlich sind, die Erklärung für den beständigen Widerwillen ist, die Verknüpfung von Sprache und Gesellschaft in Rousseaus Schriften anzuerkennen, ja überhaupt erst zu bemerken. Weit davon entfernt, das Politische zu unterdrücken, wie Althusser es sieht, ist die Literatur dazu verdammt, der politische Diskursmodus schlechthin zu sein. Die Beziehung dieses Diskurses zur politischen Praxis kann nicht in psychologischen oder in psycholinguistischen Begriffen beschrieben werden, sondern nur in den Begriffen der Beziehung, die innerhalb des rhetorischen Modells zwischen dem referentiellen und dem figurativen semantischen Feld besteht.
Die Implikationen dieser Schlussfolgerung zu entwickeln, hieße, den zweiten Teil des Diskurses über die Ungleichheit einer detaillierten Lektüre zu unterziehen, und zwar in Verbindung mit dem Gesellschaftsvertrag, der Julie und Rousseaus weiteren politischen Schriften. Ich habe versucht, die Tragweite und die Komplexität des Übergangs hervorzuheben, der zu einer solchen Lektüre hinführt. Nur wenn wir uns der ausgeprägten Ambivalenz bewusst sind, die auf einem theoretischen Diskurs lastet, der sich mit der Beziehung des Menschen zum Menschen befasst – „[un homme qui parle] de l’homme. .. à des hommes“, wie der Zweite Diskurs es ausdrückt (S. 131) –, können wir anfangen zu sehen, wie sich Rousseaus Literaturtheorie und seine Regierungstheorie in praktische Begriffe übersetzen lassen. Die einführende Analyse legt den Grundstein für die schematische Formulierung einiger Direktiven.
Erstens impliziert der Übergang von einer Sprache der Fiktion zu einer auf die politische Praxis ausgerichteten Sprache einen Übergang von qualitativen Begriffen wie Bedürfnis, Leidenschaft, Mensch, Vermögen usw. zu quantitativen, den Zahlenbegriff mit einschließenden Begriffen wie reich, arm usw.32 Die Ungleichheit, die der Titel des Diskurses anspricht und die zunächst auf so allgemeine Weise wie nur möglich als Unterschied zu verstehen ist, wird im zweiten Teil zur Ungleichheit hinsichtlich der quantitativen Verteilung des Eigentums. Die Grundlage des politischen Denkens ist bei Rousseau eher ökonomischer als ethischer Natur, wie aus der lapidaren Aussage klar ersichtlich wird, die den zweiten Teil des Diskurses eröffnet: „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben [assez simples pour le croire], war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft“ (S. 164). Der Übergang von der buchstäblichen Habgier zum institutionellen, in Begriffe gefassten Gesetz, das das Recht auf Eigentum schützt, verläuft parallel zum Übergang von der spontanen Metapher zur Begriffsmetapher.33 Aber die ökonomische Grundlage der politischen Theorie ist bei Rousseau nicht in einer Theorie der Bedürfnisse, Begierden und Interessen verwurzelt, die zu den ethischen Prinzipien von Recht und Unrecht führen könnten; sie ist das Korrelat der sprachlichen Begriffsbildung und damit weder materialistisch noch idealistisch noch einfach dialektisch, da der Sprache sowohl die repräsentationale als auch die transzendentale Autorität fehlen.34 Der komplexen Beziehung zwischen Rousseaus und Marx’ ökonomischem Determinismus könnte und sollte man sich nur aus dieser Perspektive nähern.35
Zweitens wird ersichtlich, warum die bürgerliche Ordnung und Regierung bei Rousseau so fragile und bedrohte Konstruktionen sind: sie sind auf dem Flugsand des Irrtums erbaut.36 „Denn die Laster, welche die gesellschaftlichen Institutionen notwendig machen, sind ebendieselben, welche ihren Missbrauch unvermeidlich machen“ (Diskurs, S. 187). Dieses zirkuläre, selbstzerstörerische Muster aller bürgerlichen Institutionen spiegelt die selbstzerstörerische Epistemologie der begrifflichen Sprache wider, wenn es seine Unfähigkeit demonstriert, die wörtliche Referenz und die figurative Konnotation auseinanderzuhalten. Das Wörtlichnehmen, das Sprache ermöglicht, macht auch den Missbrauch der Sprache unvermeidlich. Daher stammt die grundlegende Ambivalenz in der Bewertung der wörtlichen Referenz, die den gesamten Zweiten Diskurs durchzieht. Die „reine“ Fiktion des Naturzustands geht im Prinzip jeder Bewertung voran, und doch könnte nichts destruktiver sein als die unvermeidliche Übertragung dieses fiktionalen Modells auf die gegenwärtige empirische Welt, in der „man… die Untertanen getrennt halten [muss]“ (Versuch, S. 542), denn „[hier] ist das letzte Stadium der Ungleichheit und der äußerste Punkt erreicht, der den Kreis schließt und den Punkt berührt, von dem wir ausgegangen sind“, nämlich den Naturzustand: „Hier werden alle Einzelnen wieder gleich, weil sie nichts sind…“ (Diskurs, S. 191).
Und schließlich kann das vertragliche Muster der bürgerlichen Regierung nur vor dem Hintergrund dieser permanenten Bedrohung verstanden werden. Der Gesellschaftsvertrag ist keinesfalls der Ausdruck eines transzendentalen Gesetzes: er ist eine komplexe und rein defensive Strategie in Worten, durch die der wörtlich genommenen Welt ein wenig von der Konsistenz der Fiktion verliehen wird; er ist ein kompliziertes Gebilde aus Finten und Listen,37 durch die der Moment aufgeschoben wird, in dem der Versuchung, die Fiktion in wörtlich zu nehmende Akte zu verwandeln, nicht länger widerstanden werden kann. Die begriffliche Sprache des Gesellschaftsvertrags gleicht dem subtilen Wechselspiel zwischen figurativem und referentiellem Diskurs in einem Roman. Es wurde oft gesagt, dass Rousseaus Roman Julie auch seine beste politikwissenschaftliche Abhandlung sei; dem wäre hinzuzufügen, dass der Gesellschaftsvertrag auch sein bester Roman ist. Beide aber sind abhängig von der ihnen gemeinsamen methodologischen Einführung in die Theorie der Rhetorik, die die Grundlage des Diskurses über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen bildet.
Anmerkungen
1 Die Bibliographie der Studien, die sich im Ganzen oder zum Teil mit dem Zweiten Diskurs befassen, ist so umfangreich, dass ein aktualisierter Forschungsstand wünschenswert wäre. Jean Starobinskis Anmerkungen zum Zweiten Diskurs in der Pléiade-Ausgabe von 1964 liefern einige nützliche Hinweise (ibid., S. 1297, 1299, 1305, 1315, 1317, 1319, 1339, 1359, 1370, 1372, 1377). Seither gab es zahlreiche Ergänzungen.
2 Lester G. Crocker, /Jean-Jacques Rousseau/. Bd. 1: The Quest (1712-1758). New York: Macmillan, 1968 u.ö., S. 20.
3 Diskurs, S. 146-151. Alle Seitenangaben beziehen sich auf die Pléiade-Ausgabe: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité. Eingerichtet und mit Anmerkungen versehen von Jean Starobinski. In: Jean-Jacques Rousseau, Œuvres complètes Bd. 3. Hrsg. von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond. Paris: Gallimard, 1964. Die deutsche Übersetzung folgt der Ausgabe von Heinrich Meier, die die Pléiade-Seitenzahlen ebenfalls zur besseren Orientierung angibt: Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit. Kritische Ausgabe des integralen Textes, neu ediert, übersetzt und kommentiert von Heinrich Meier. Paderborn: Schöningh, 2008.
4 Eine neuere Aussage in diesem Sinne macht u.a. Henri Gouhier in Les méditations métaphysiques de J. J. Rousseau, Paris: Vrin, 1970, S. 23. Eine klare Formulierung des fiktionalen Charakters des Naturzustandes findet sich in Herbert Dieckmans Ausgabe von Diderots Supplément au voyage de Bougainville, Genf: Droz [u.a.], 1965, S. lxxiii-xciv.
5 Siehe zu diesem Punkt Starobinskis Einleitung zum Discours, S. LVII. Starobinski bezieht sich vor allem auf einen Aufsatz von Eric Weil: „J.-J. Rousseau et sa politique“, in: Critique 56 (Januar 1952), S. 3-28.
6 Louis Althusser, „Sur le Contrat Social (Les décalages)“, in: Cahiers pour l’Analyse 8, L’impensée de J. J. Rousseau, Paris 1970, S. 42. Hier zitiert nach: Althusser, Machiavelli, Montesquieu, Rousseau. Zur politischen Philosophie der Neuzeit. Aus dem Frz. von Henning Ritter und Frieder Otto Wolf. Berlin: Argument, 1987, S. 171f.
7 Ein Beispiel ist Rousseaus ambivalente Einstellung gegenüber dem Eigentum: Einerseits erweckt er den Eindruck, als handle es sich beim Eigentum um Diebstahl, andererseits wird das Gesetz zuweilen in fast schon übertriebener Weise als Verteidigungssinstrument für das Eigentum gepriesen (siehe z.B. den Discours sur l’économie politique, in: Œuvres complètes Bd. 3, S. 248f.). Man ist versucht, diese Inkonsistenz psychologisch zu interpretieren, indem man auf Rousseaus einfache Abkunft verweist und in ihm einen sozialen Außenseiter sieht, der das Eigentum als etwas verherrlicht, das er begehrt, aber nicht besitzen kann, und der zugleich die Armut als eine moralische Tugend glorifiziert, die ihn mit sich selbst versöhnt. Was die bürgerliche Autorität anbetrifft, so ist die Diskrepanz zwischen der Glorifizierung der Genfer Magistratspersonen und seines eigenen Vaters im Widmungsteil des Zweiten Diskurses (S. 117f.) auf der einen Seite und der Karikatur des geplagten Magistrats im eigentlichen Diskurs-Text (S. 192f.) auf der anderen Seite zu beachten.
8 Derrida, De la grammatologie, Paris: Les Editions de Minuit, 1967, S. 259-272. In der deutschen Ausgabe (Grammatologie. Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983) S. 293-328.
9 Starobinski hat dies in dem bewundernswerten Buchtitel Jean-Jacques Rousseau: La transparence et l’obstacle (Paris: Plon, 1957 u.ö.) auf den Punkt gebracht. Rousseaus Aussage über die polnische Nation ist wohlbekannt: „Le repos et la liberté sont incompatibles: il faut opter“ (Considérations sur le Gouvernement de Pologne, in: Œuvres complètes Bd. 3, S. 955). In zeitgenössischen Studien wird dieser Aspekt von Rousseaus Denken nun allgemein anerkannt.
10 Irreführend deshalb, weil „Perfektibilität“ gleichermaßen regressiv und progressiv ist. Starobinski macht in einer längeren Anmerkung (S. 1317) geltend, dass Perfektibilität ein „gelehrter Neologismus“ sei; das Konzept, wenn schon nicht das Wort, erscheint in Fontenelles Digression sur les anciens et les modernes von 1688. Fontenelle spricht vom „Fortschritt der Dinge“ („le progrès des choses“).
11 Siehe Essai sur l’origine des Langues, in: Œuvres complètes Bd. 5, S. 376 f. Darin erwähnt Rousseau die Drohgeschenke, die der König der Skythen König Darius zusendet, besonders aber die alttestamentarische Geschichte des Leviten aus dem Ephraimgebirge, der den Leichnam seiner ermordeten Frau in zwölf Stücke zerschnitt und diese den Stämmen Israels überbringen ließ, um sie zur Rache zu treiben (Buch der Richter). Dasselbe Thema wird in dem späteren Prosagedicht Le lévite d’Ephraim (1762) entfaltet.
12 Siehe Diskurs, S. 142, 162, 187, 193, und besonders Rousseaus Anmerkungen auf S. 207-208 u.ö.
13 „… denn wenn man sagt, die Mutter sage dem Kind die Wörter vor,… so zeigt dies wohl, wie man bereits ausgebildete Sprachen lehrt, aber es unterrichtet uns nicht darüber, wie sie sich bilden“ (S. 147); „… denn wenn die Menschen die Sprache nötig hatten, um denken zu lernen, so hatten sie noch viel nötiger, denken zu können, um die Kunst der Sprache herauszufinden“ (S. 147). Rousseaus Argument geht dahin, dass diese Schlussfolgerungen durch die Vertauschung von Ursache und Wirkung (Metalepsis) erzielt werden.
14 Siehe Œuvres complètes Bd. 3, S. 1285, Anm. 2. Starobinski schreibt: „Rousseau hält sich streng an [Aristoteles’] Methode, indem er dem Wort ,Ursprung‘ [arché] eine Bedeutung beimisst, wonach das logische Antezedens ein historisches Antezedens zwingend mit sich bringt.
15 Siehe die vorangehenden Fußnoten 13 und 14.
* A.d.Ü.: Paul de Man erweist sich hier als ein sehr geschickter Rhetoriker, indem er eine Parallele zwischen der im Zweiten Diskurs beschriebenen ersten Begegnung zweier Menschen (die Furcht auslöst und zur blinden Metaphernbildung führt) und der ersten Begegnung des Lesers mit dem Begriff der Perfektibilität (aus der die Blindheit angesichts der Textstelle resultiert) zieht.
16 Rousseau verwendet den Ausdruck „des premiers Instituteurs“, was in der Übersetzung kryptisch klingen mag. Die Bedeutung verweist auf die „primitiven“ Menschen, die die „ersten“ Sprachstifter waren.
17 „… la vue d’une de ces noix rappelle à [l]a mémoire [du singe] les sensations qu’il a reçues de l’autre…“ („der Anblick der einen dieser Nüsse ruft die Sinneseindrücke in sein Gedächtnis zurück, die er von der anderen erhalten hat“, S. 150).
18 Die Definition aus der Poetik ist wohlbekannt: „Eine Metapher ist die Übertragung [epiphora] eines Wortes (das somit in uneigentlicher Bedeutung verwendet wird), und zwar entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf die Gattung, oder von der Art auf eine andere, oder nach den Regeln der Analogie“ [1457 b; hier zitiert nach: Aristoteles, Poetik. Übersetzt und hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam, 1994]. Jakobson definiert die Metapher als Substitution auf der Grundlage von Ähnlichkeit.
19 Alain Grosrichard, „Gravité de Rousseau“, in: Cahiers pour l’analyse 8: L’impensé de J. J. Rousseau, Paris 1970.
20 Ibid., S. 64. Paul de Man übersetzt den Kommentar Grosrichards sehr frei. Nach eigenen Angaben unternimmt er damit den Versuch, das sprachlich elegantere, aber auch eliptischere Original zu erklären. Dort steht: „Toute l’histoire de l’œuvre de Rousseau, le passage de la „théorie“ à la „littérature“, c’est le passage d’une exigence qui est de faire se recouvrir la représentation du monde et le monde même, bref de le nommer, à l’exigence préalable de faire coincider la représentation que j’en donne à la représentation que j’en ai, bref de me nommer.“ Siehe dazu auch den Aufsatz „Selbst (Pygmalion)“, Anm. 3.
21 Ibid., S. 64: „le sujet est innomable“
22 Zur komplexen Debatte über die chronologische Nähe und thematische Verwandtschaft zwischen dem Diskurs und dem Versuch siehe Jacques Derrida, De la grammatologie, S. 272-278 (dt. S. 328-334). Man kann im Versuch eine lange Anmerkung zum Zweiten Diskurs sehen, die erst später zu einer eigenständigen Schrift erweitert wurde. Soweit es diesen speziellen Punkt betrifft (Tiere haben keine Perfektibilität, weil sie keine begriffliche Sprache haben), laufen die Formulierungen des Versuchs vollkommen parallel zu denjenigen des Diskurses. Die Parallele ist so eng, dass sie zumindest in diesem einen Punkt die Sichtweise gestattet, der Diskurs sei eine Erweiterung, der den Versuch einbeziehe. „… die Tiere, die sie [eine natürliche Sprache] sprechen, haben sie von Geburt an, sie verfügen alle über sie, und sie ist überall die gleiche, so wie sie auch nichts an ihr ändern und keinerlei Fortschritt darin machen. Die aus Übereinkunft entstandene Sprache gebührt allein dem Menschen. Aus diesem Grund macht der Mensch, im guten wie im schlechten, Fortschritte, die Tiere hingegen überhaupt keine“ (Essai, in: Œuvres complètes Bd. 5, S. 379; hier unter Vorbehalt terminologischer Änderungen zitiert nach: Versuch über den Ursprung der Sprachen, in: Rousseau, Sozialphilosophische und Politische Schriften. München: Winkler, 1981). Dass diese „langue de convention“ die gleiche Bedeutung hat wie die begriffliche Sprache, ist Teil unseres Arguments. Starobinski hat sicherlich Recht, wenn er sagt dass „zwischen [diesem Text] und der Passage aus dem Versuch kein Widerspruch besteht …“ (Œuvres complètes Bd. 3, S. 1327, Anm.). Michèle Duchet und Michel Launay etwa kommen nach einer vergleichenden Lektüre der beiden Texte zu einem anderen Ergebnis: siehe „Synchronie et diachronie; l’Essai sur l’origine des langues et le second Discours“, in: Revue internationale de Philosophie 82 (1967), S. 421-442.
** A.d.Ü.: Die Winkler-Ausgabe des Versuchs über den Ursprung der Sprachen übersetzt Rousseaus „langage figuré“, dem de Mans „figurative / figural language“ entspricht, mit „bildhafte Sprache“, während die Suhrkamp-Ausgabe der Grammatologie, die den Versuch ebenfalls zitiert, von „figurierter Sprache“ spricht. Alles deutet darauf hin, dass sich der Terminus bislang einer einheitlichen Übersetzung entzieht.
23 Michel Foucault, Les mots et les choses: une archéologie des sciences humaines. Paris: Gallimard, 1966. Die Stelle wird in Grosrichards Aufsatz „Gravité de Rousseau“, S. 64, zitiert. Hier zitiert nach: Foucault, Die Ordnung der Dinge. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1971, S. 161.
24 „Die nützlichste und die am wenigsten fortgeschrittene von allen Kenntnissen scheint mir die Kenntnis des Menschen zu sein …“ (Vorwort, S. 122). Zur Frage des „Menschen“ bei Rousseau siehe besonders Martin Rang, Rousseaus Lehre vom Menschen, Göttingen: Vandenhoeck, 1959 u.ö.
*** A.d.Ü.: Paul de Man spricht, wie im Englischen durchaus üblich, vom „primitive man“, und nicht vom „savage“, was ihm zusätzlich die Möglichkeit gibt, eine semantische Verbindung zu „privilege“ und „priority“ herzustellen. Rousseau verwendet das Adjektiv „primitif“ in Bezug auf Zustand, Sprache und Einrichtungen des wilden bzw. ersten Menschen, jedoch nicht in Bezug auf diesen selbst.
25 Auf diese Möglichkeit weist u.a. Jean Starobinski hin (Œuvres complètes Bd. 3, Anm. 3).
26 Diese Behauptung könnte nur durch eine allgemeine Interpretation der „Leidenschaften“ im Werk Rousseaus belegt werden. Um wenigstens die Richtung des Arguments anzudeuten, ist das folgende Zitat aus der Julie geeignet. Die Geschichte ihrer Leidenschaft zu St. Preux rekapitulierend, schreibt Julie: „Ich glaubte auf Ihrem Gesichte die Züge der Seele zu sehen, deren die meine bedurfte. Mich dünkte, meine Sinne dienten als Organe nur edlern Empfindungen; und ich liebte an Ihnen weniger, was ich sah, als das, was ich in mir selbst zu empfinden glaubte…“ (Œuvres complètes Bd. 2, S. 340; hier zitiert nach: Julie oder Die neue Heloïse, Düsseldorf, Zürich: Artemis & Winkler, 2003).
27 Diese Behauptung könnte nur durch eine allgemeine Interpretation der „Leidenschaften“ im Werk Rousseaus belegt werden. Um wenigstens die Richtung des Arguments anzudeuten, ist das folgende Zitat aus der Julie geeignet. Die Geschichte ihrer Leidenschaft zu St. Preux rekapitulierend, schreibt Julie: „Ich glaubte auf Ihrem Gesichte die Züge der Seele zu sehen, deren die meine bedurfte. Mich dünkte, meine Sinne dienten als Organe nur edlern Empfindungen; und ich liebte an Ihnen weniger, was ich sah, als das, was ich in mir selbst zu empfinden glaubte …“ (Œuvres complètes Bd. 2, S. 340; hier zitiert nach: Julie oder Die neue Heloïse, Düsseldorf, Zürich: Artemis & Winkler, 2003).
28 Dies impliziert, dass es sich bei dem selbstreflexiven Moment des cogito, bei der Selbstreflexion des „Narcisse exhaucé“, wie es Rilke nennt, nicht um ein ursprüngliches Ereignis handelt, sondern um eine allegorische (oder metaphorische) Version einer innersprachlichen Struktur – mit all den negativen erkenntnistheoretischen Konsequenzen, die das mit sich bringt. Ebenso ist die Tatsache, dass Rousseau die „Furcht“ als die paradigmatische Leidenschaft (oder das Bedürfnis) anführt, die zur figurativen Sprache führt, nicht in psychologischen, sondern in sprachtheoretischen Begriffen zu erklären. Die „Furcht“ ist exemplarisch, weil sie dem rhetorischen Modell der Metapher strukturell entspricht.
29 Heute setzt das Wort „Riese“, wie wir es aus dem alltäglichen Sprachgebrauch kennen, das Wort „Mensch“ voraus und ist nicht die metaphorische Figur, die Rousseau in Ermangelung eines bereits bestehenden Wortes „Riese“ nennen muss. Rousseaus „Riese“ gleicht wohl eher einem mythologisches Monster; man könnte dabei an Goliath denken, oder an Polyphem (von der Versuchung einmal abgesehen, die Implikationen von Odysseus’ Strategie herauszuarbeiten, der Polyphem gegenüber seinen Name mit Niemand [no-man] angibt).
30 „Da das von der Leidenschaft erzeugte Trugbild [l’image illusoire offerte par la passion] sich zuerst zeigte, war die Sprache, die ihm antwortete, ebenfalls die, die zuerst erfunden wurde. Diese wurde in der Folge metaphorisch, als der aufgeklärte Geist, in Erkenntnis seines anfänglichen Irrtums, diese Ausdrücke nur noch im Fall jener Leidenschaften anwandte, die diese Sprache hervorgebracht hatten“ (Versuch, S. 506).
31 Die Übersetzung vereinfacht die Eingangszeilen beträchtlich, die im französischen Original ziemlich dunkel klingen: „Cette application réitérée des êtres divers à lui-même, et les uns aux autres, dut naturellement engendrer…“ Der im Text unmittelbar vorhergehende Absatz macht klar, dass sich Rousseau hier auf die Wechselwirkung von physikalischen Kräften, auf die Interaktion von Mensch und Natur bezieht, die bei technischen Erfindungen eine Rolle spielen (etwa bei der Erfindung von Pfeil und Bogen oder bei der Entdeckung und Bewahrung des Feuers).
32 „Die Wörter stark und schwach sind im zweiten Fall [wenn der Ursprung der politischen Gesellschaften der Vereinigung der Schwachen zugeschrieben wird] doppeldeutig; denn… der Sinn dieser Wörter [wird] besser durch die Wörter arm und reich ausgedrückt, weil ein Mensch – ehe es Gesetze gab – tatsächlich kein anderes Mittel hatte, seinesgleichen zu unterwerfen, als das, ihr Hab und Gut anzugreifen oder ihnen einen Teil von dem seinen abzugeben“ (Diskurs, S. 179).
33 Solchermaßen bestätigt sich die semantische Gültigkeit des Wortspiels mit „sens propre“ und „propriété“, mit „eigentlicher Bedeutung“ und „Eigentum“.
34 Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass Fragen nach der Tugend, dem Selbst und nach Gott von Rousseau nicht berücksichtigt würden; das werden sie ganz offensichtlich. Hier steht nicht die Existenz eines ethischen, psychologischen oder theologischen Diskurses auf dem Spiel, sondern die Autorität dieser Diskurse in Bezug auf Wahrheit oder Falschheit.
35 Hinweise in diese Richtung finden sich in Lucien Sebags Schrift Marxisme et structuralisme, Paris: Payot, 1964, während Althusser noch hinter Engels und seiner Behandlung Rousseaus im Anti-Dühring (hier besonders Erster Abschnitt, Kapitel XIII: „Dialektik. Negation der Negation“) zurückbleibt. Über den Stand der Rousseau-Forschung außerhalb Westeuropas und der Vereinigten Staaten bin ich nicht informiert.
36 „Nichts ist bleibend als das Elend, das aus all diesen Wechselfällen hervorgeht. Selbst wenn seine [des Menschen] Gefühle und Ideen sich bis zur Liebe zur Weltordnung und zu den erhabenen Begriffen der Tugend aufschwingen könnten, so bliebe es ihm unmöglich, jemals eine sichere Anwendung seiner Prinzipien bei einem Stand der Dinge zu machen, der ihn weder gut noch böse, weder den anständigen noch den schlechten Menschen unterscheiden ließe“ (Gesellschaftsvertrag, Erste Fassung, 2. Kapitel, in: Œuvres complètes Bd. 3, S. 282. Hier zitiert nach: Rousseau, Vom Geselligkeitszustand des Menschengeschlechts überhaupt, in: ders., Schriften zur Kulturkritik. Übersetzt und hrsg. von Kurt Weigand. Hamburg: Meiner, 1995, S. 287). Zum „Flugsand“ vgl. auch Diskurs, S. 127.
37 Die weitreichendste dieser Listen ist vielleicht die, dass der Gesetzgeber vorgeben muss, mit der Stimme Gottes zu sprechen, um gehört zu werden: „Das ist es, was die Väter der Nationen zu jeder Zeit zwang, ihre Zuflucht zum Himmel als Mittler zu nehmen und mit ihrer Weisheit die Götter zu schmücken, damit die Völker, die den Staatsgesetzen ebenso unterworfen sind wie den Naturgesetzen und die in der Ausstattung des Menschen die gleiche Macht erkennen wie in der Ausstattung der Polis, frei gehorchen und das Joch des öffentlichen Glückes tragen, ohne zu murren“ (Gesellschaftsvertrag, in: Œuvres complètes Bd. 3, S. 383. Hier zitiert nach: Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. In Zusammenarbeit mit Eva Pietzcker neu übersetzt und hrsg. von Hans Brockard. Stuttgart: Reclam, 2003, S. 46). Als Beispiel des wahren Gesetzgebers nennt Rousseau indirekt Moses; darüber hinaus zitiert er in einer Fußnote aus Machiavellis Discorsi (ibid., S. 384).
© Matthes & Seitz, Berlin 2012