Selbst ist die Hilfe

Paul Colliers Buch Die unterste Milliarde fragt, woran die ärmsten Länder der Welt scheitern und was dagegen getan werden kann. Von Rosa Lyon

Online seit: 15. September 2019

Die Zahl der Armen sei in den letzten vierzig Jahren deutlich geschrumpft, erklärt der Ökonom Paul Collier, Leiter des Institute of African Economies an der Oxford University, in seinem neuen Buch Die unterste Milliarde. Viele so genannte Entwicklungsländer seien nicht mehr wirklich arm, sondern entwickeln sich erstaunlich schnell. Die eigentliche Herausforderung bestehe darin, einer Gruppe von Ländern am untersten Rand zu helfen, die immer mehr zurückfällt, und das sind südostasiatische und vor allem die afrikanischen Staaten: „Die Länder, die heute das Schlusslicht bilden, sind nicht nur die allerärmsten, sie haben auch kein Wirtschaftswachstum und weichen damit vom Entwicklungsmuster der meisten anderen Länder ab.“

Wirtschaftswachstum, so Collier, würde zwar nicht automatisch Armut beseitigen, fehlendes Wachstum jedoch führe unweigerlich zu Konflikten, etwa Bürgerkriegen.

Mit ebendiesen hat sich Paul Collier im Rahmen eines Forschungsschwerpunkts in den vergangenen Jahren auseinander gesetzt. „73 Prozent der Menschen in den armen Ländern haben in jüngster Zeit einen Bürgerkrieg erlebt oder sind aktuell in einen verstrickt. Für Länder mit niedrigem Einkommen ist die Gefahr, dass ein Krieg zur Falle wird, ungleich größer“, schreibt Paul Collier. Das ist nicht nur eine Vermutung: Collier kann diese Behauptung auch mit Zahlen belegen. Wenn das Pro-Kopf-Einkommen sinkt, steigt das Bürgerkriegsrisiko.

Und selbst das Ende eines Konflikts bedeutet noch kein Ende der Kosten. Oft endet ein Konflikt, flammt aber später wieder auf: „Regierungen von Staaten, die gerade einen Bürgerkrieg überstanden haben, sind sich dieser Gefahr bewusst. Und deshalb halten sie ihre Rüstungsausgaben auf einem abnorm hohen Niveau.“ Desaströs seien Bürgerkriege nicht nur aufgrund des Verlustes an Arbeitskräften und der hohen staatlichen Ausgaben. Wirklich teuer wird es erst nach dem Krieg. Die Folgekosten machen etwa die Hälfte der Gesamtkosten aus.

Abgesehen von der Konfliktfalle entdeckt Collier auch eine so genannte Ressourcenfalle. Ihm zufolge sind natürliche Ressourcen wie Erdöl oder Diamanten ein Fluch für die Gesellschaft. Die Abhängigkeit von Rohstoffexporten erhöht das Bürgerkriegsrisiko ähnlich beträchtlich wie fehlendes Wachstum. Die Geschichte zeige, dass viele Länder, die Erlöse durch natürliche Ressourcen erzielen – wie etwa Ölfunde in Nigeria in den 1970er- und 80er-Jahren –, kurze Boomzeiten erleben, aber daraus keine nachhaltige Entwicklung schaffen. Nigeria ist heute ärmer, als es vor dem Fund des Öls war. „Das muss überhaupt nicht so sein. In Botswana wurden Diamanten gefunden und Botswana wurde nicht nur das am schnellsten wachsende Land Afrikas, sondern das am schnellsten wachsende Land der Welt.“ Die Diamantenerlöse wurden dazu genutzt, nachhaltige Entwicklung zu betreiben. Natürliche Ressourcen müssten nicht unweigerlich ein Fluch sein, ergänzt der Afrikaforscher, aber leider ergehe es den meisten Ländern eher wie Nigeria und nicht wie Botswana.

Daher plädiert der Autor für internationale Standards. Vier einfache Mechanismen würden für einen sinnvollen und ökonomischen Umgang mit natürlichen Ressourcen sorgen: Erstens sollten die Rechte des Abbaus in Form einer Auktion vergeben werden, denn nur eine solche würde den wahren Wert offen legen, da der Höchstbietende die Rechte erwirbt und so keine Misswirtschaft betrieben werden kann. Zweitens müssten die Erträge besteuert werden und drittens ein Teil der Steuereinnahmen gespart werden. Außerdem müsste viertens in Infrastruktur, Bildung und Sozialwesen investiert werden.

Hinsichtlich der katastrophalen Ernährungssituation in den ärmsten Ländern
plädiert Collier strikt für eine Aufhebung des Verbots von genmanipuliertem Saatgut: „Weil Europa genmanipuliertes Essen verboten hat, hat es Afrika auch verboten, denn die afrikanischen Regierungen haben Angst davor, nie wieder Essen nach Europa exportieren zu können, wenn sie genmanipulierte Samen verwenden“, erklärt Collier. „Afrika braucht Genmanipulation mehr als alle anderen, weil der Klimawandel Afrika viel härter trifft. Man nimmt nur die Gene einer Narzisse und gibt die in den Mais und dann ist der Mais pestresistent. Der einzige Grund, weshalb Europa Genmanipulation verbannt, liegt in der Panikmache der Agrarlobby um gesundheitliche Folgen.“

Colliers Argumentation für den Einsatz von Gentechnologie in Afrikas Landwirtschaft ist unter Entwicklungsökonomen äußerst umstritten, denn meist werden gentechnisch veränderte Samen nur im Gesamtpaket mit Düngemittel verkauft und die Rechte zur Wiederverwendung der Pflanzen liegen bei den Verkäufern aus der Ersten Welt. Außerdem bliebe mit dem Einsatz von Gentechnik in Afrikas Landwirtschaft das Wissen in den Industrieländern.

Die meiste Arbeit im Aufholen von Entwicklungsstufen müsse Afrika selbst erledigen, aber ohne Hilfe aus den entwickelten Regionen werde es nicht gehen, so Paul Collier, der eine erhellende historische Analogie anführt: „Wir müssen uns fragen, was beim letzten Mal passierte, als die reiche Welt wirklich einer Region helfen wollte. Da muss man 60 Jahre zurückgehen – damals war die reiche Welt viel kleiner als heute: Es war Amerika. Und die Region, die Entwicklung brauchte, war Europa.“ Heute entsprächen wir Amerika und es läge nun an uns, Afrika beizustehen. Die Bandbreite an politischen Maßnahmen seien die gleichen: Hilfe, Handel, Sicherheit und Staatsführung.

Rosa Lyon studierte Volkswirtschaft und arbeitet als Wissenschaftsjournalistin für den Radiosender Ö1.

Quelle: Recherche 3/2008

Online seit: 15. September 2019

Paul Collier: Die unterste Milliarde. Warum die ärmsten Länder scheitern und was man dagegen tun kann. Aus dem Englischen von Rita Seuß und Martin Richter. München, C.H. Beck 2008. 255 Seiten, € 19,90.