Das Interesse an der gesellschaftlichen Wirkung wissenschaftlicher Erkenntnisse lässt sich bis zu den Ursprüngen der neuzeitlichen Wissenschaften zurückverfolgen. Die Anerkennung der praktischen Relevanz von Wissenschaft verhalf den Forschern der ersten Stunde ebenso wie den heutigen Wissenschaftlern zur notwendigen Legitimation ihres Tuns, zu gesellschaftlichem Ansehen und nicht zuletzt auch zu den Ressourcen, die vor allem die gegenwärtige teure, hochrangig arbeitsteilige wissenschaftliche Praxis benötigt.
Doch nicht immer läuft es so problemlos: So gibt es z.B. immer wieder Stimmen, die gerade die Geistes- und Sozialwissenschaften nicht nur wegen ihrer mangelnden Nützlichkeit rügen, sondern sie als Gefahr für die Gesellschaft einstufen. Man denke in diesem Zusammenhang etwa an die weltweite Furcht vor den Ideen des Marxismus, den vielfach kritisierten Einfluss der Frankfurter Schule auf die Politik der siebziger Jahre in Deutschland oder den häufig beklagten Einfluss neo-liberaler ökonomischer Modelle auf die Wirtschaftsordnung insbesondere der Entwicklungsländer.
Auch Bedenken und Ängste über die sozialen Folgen neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und Technologien werden nicht erst heute laut. Das erste kontrollierte gentechnische Laborexperiment fand 1972 statt, der erste außerhalb des Körpers einer Frau gezeugte Mensch wurde 1978 geboren. Die gegenwärtige kontroverse Diskussion um embryonale Stammzellen, Neurogenetik, reproduktives Klonen und die Konvergenz von Nanotechnologie, Informationstechnologie, Biotechnologie und Kognitionswissenschaften macht deutlich, dass die Frage nach den sozialen Voraussetzungen und Folgen ungebremst expandierender (natur-)wissenschaftlicher Erkenntnisse politisch ernst genommen werden muss. Bislang mündete diese Diskussion nicht selten in den Ruf nach einer Überwachung und bewussten Steuerung des Wissens.
Die zentrale Frage lautet nun nicht mehr, ob wir genug wissen, sondern ob wir nicht möglicherweise zu viel wissen und alle unsere Erkenntnisse überhaupt praktisch umsetzen wollen.
Revision der beiden Wissenschaftskulturen
Vor einem halben Jahrhundert stellte der englische Wissenschaftler Charles P. Snow seine berühmte These von der Kluft zwischen den beiden „Wissenschaftskulturen“ auf und verband sie mit dem Aufruf, nicht mehr die Geisteswissenschaften, sondern naturwissenschaftliches und technisches Wissen in das Zentrum der Gesellschaft zu rücken: Diese Wissenschaften hätten die Zukunft in den Knochen (vgl. Snow 1964). Erich Fromm hielt Mitte der siebziger Jahre in seinem Werk Haben oder Sein die These dagegen, es sei gerade die systematische Unterbewertung der Geistes- und Sozialwissenschaften, die unser gegenwärtiges Zeitalter als verhängnisvolle historische Epoche kennzeichne: Solange „die Wissenschaft vom Menschen nicht die Anziehung hat, die der Naturwissenschaft und Technik bisher vorbehalten war, werden Kraft und Vision mangeln, neue und reale Alternativen zu sehen.“ (Fromm 2007, S. 25)
Welcher der beiden auch immer Recht haben mag, eines schien bislang unausweichlich: Man konnte die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz von Wissenschaft nur in zweifacher, voneinander strikt getrennter Weise problematisieren, einmal für den Fall der Geistes- und Sozialwissenschaften und einmal für Naturwissenschaft und Technik. Dabei führen die klassischen wissenschaftstheoretischen Debatten über die Dichotomie von Geistes- und Naturwissenschaften dazu, dass unsere Reflexionen wie in einer Art Dauerfrost eingeschlossen sind. Sie schränken unsere Fähigkeit ein, das Zusammenspiel von intellektuellen, moralischen und gesellschaftlichen Aspekten der Problematik gesellschaftlich relevanten Wissens neu zu denken. Ich sehe mich in dieser Frage daher als Revisionist: Ich halte die Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften für fragwürdig und werde diese Position später ausführlicher begründen. Und die Frage „Was ist gesellschaftlich relevante Wissenschaft?“ werde ich in Bezug auf wissenschaftliche Erkenntnisse insgesamt und nicht getrennt nach sozial-/geisteswissenschaftlichem und technisch-naturwissenschaftlichem Wissen beantworten.
Ich werde meine Antwort in einer Reihe von Gedankenschritten voranbringen: Erstens gilt es, den Wissensbegriff näher zu bestimmen. Dies ist, wie man sehen wird, mehr als nur eine reine Definitionsarbeit. Es folgt der Versuch, die mir gestellte Frage unter der Überschrift „Die Anwendung einer Theorie impliziert keine Ähnlichkeit zwischen Theorie und Praxis“ (Gilles Deleuze) zu beantworten. Noch einmal auf die These von den beiden Wissenschaftskulturen eingehend versuche ich dann zu zeigen, dass deren praktische Verwendungschancen ähnlichen Konditionen unterliegen. Schließlich möchte ich auf eine Reihe von widersprüchlichen Schlussfolgerungen aus diesen Überlegungen aufmerksam machen, die ich in den Kontext der modernen Gesellschaft als Wissensgesellschaft stelle.
Wissen über Wissen
Ich möchte Wissen als Fähigkeit zum Handeln (oder Handlungsvermögen) definieren, als die Möglichkeit, etwas „in Gang zu setzen“. Wissen ist ein Modell für die Wirklichkeit. So sind beispielsweise Sozialstatistiken nicht unbedingt (nur) ein Abbild der gesellschaftlichen Realität, sondern zugleich ihre Problematisierung. Sie verweisen darauf, was sein könnte, und stellen in diesem Sinn Handlungsvermögen dar.
Erkenntnisse sind also nicht nur passives Wissen. Sie sind in der Lage, die Realität zu verändern. Und damit hebe ich, wenn auch nur analytisch und vorläufig, den Unterschied zwischen sozialem Handeln und Wissen auf. In dieser praktischen Verschränkung von Erkenntnis und Handeln trifft dann – allerdings für beide Wissenschaftskulturen – die Beobachtung von C.P. Snow zweifellos zu, dass Wissenschaftler „die Zukunft in den Knochen haben“. Ebenso zutreffend ist Francis Bacons berühmte und faszinierende These „scientia est potentia“ oder – wie diese Formulierung häufig, aber irreführend übersetzt wird – „Wissen ist Macht“. Damit behauptete Bacon nichts anderes, als dass sich der besondere Nutzen des Wissens von seiner Fähigkeit ableite, etwas in Gang zu setzen. Der Begriff potentia (die Fähigkeit, das Vermögen) umschreibt hier also nicht die Macht im üblichen Sinn des Wortes, sondern allenfalls potenzielle Macht. Wir müssen infolgedessen zwischen Handlungsmöglichkeiten und der Ausübung von Handlungsmöglichkeiten trennen. Man muss das Vermögen zum Handeln keineswegs identisch setzen mit tatsächlichem Handeln, d.h. Wissen ist nicht selbst schon Handeln.
Die Wissenschaft ist nicht nur Zugangsmöglichkeit und Schlüssel zu den Geheimnissen der Welt, sondern das Werden einer Welt. Das Konzept eines realitätsverändernden oder sogar realitätsproduzierenden Wissens überzeugt im Fall sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse wahrscheinlich fast unmittelbar. Man denke etwa an den Begriff des Gedankenexperiments oder Modells, das einer praktischen Umsetzung bedarf. Betrachtet man dagegen die wissenschaftliche Methode der Beobachtung, so bereitet die Idee des potenziell realitätsverändernden Wissens schon eher Schwierigkeiten, und möglicherweise gilt dies besonders für naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Allerdings kann man am Beispiel der modernen Biologie überzeugend zeigen, dass dies nicht unbedingt zutrifft: Die moderne Biologie umfasst tatsächlich die Fabrikation von neuen Lebensformen, denn sie untersucht nicht nur einfach die Natur, sondern transformiert und produziert neues Leben. Biologie und Biotechnologie sind eng verzahnt.
Ideen wandern nicht von Mensch zu Mensch wie ein Gepäckstück, sie sind zumeist an den Einzelnen und an Netzwerke von Personen gebunden, deren unterschiedliche Interpretationen bewertet werden müssen.
Wissen erfüllt allerdings nur dort eine „aktive“ Funktion im gesellschaftlichen Handlungsablauf, wo Handeln nicht nach stereotypisierten Mustern abläuft oder ansonsten weitgehend reguliert ist. Es spielt nur dort eine aktive Rolle, wo es Entscheidungsspielräume oder -notwendigkeiten gibt. Für den Soziologen Karl Mannheim (1893–1947) beginnt soziales Handeln deshalb auch erst dort, wo der noch nicht rationalisierte Spielraum anfängt, wo nicht regulierte Situationen zu Entscheidungen zwingen: „Es ist kein Handeln […], wenn ein Bureaukrat ein Aktenbündel nach vorgegebenen Vorschriften erledigt. Es liegt auch kein Handeln vor, wenn ein Richter einen Fall unter einen Paragraphen subsumiert, wenn ein Fabrikarbeiter eine Schraube nach vorgeschriebenen Handgriffen herstellt, aber eigentlich auch dann nicht, wenn ein Techniker generelle Gesetze des Naturablaufs zu irgendeinem Zweck kombiniert. Alle diese Verhaltensweisen sollen als reproduktive bezeichnet werden, weil diese Handlungen in einem rationalisierten Gefüge nach Vorschriften ohne persönliche Entscheidung vollzogen werden.“ [Mannheim 1965, S. 74]
Allerdings sind selbst weitgehend regulierte und durchrationalisierte Situationen, die sich beständig wiederholen, nicht frei von „irrationalen“, d.h. offenen Momenten. Darauf werde ich im nächsten Abschnitt noch näher eingehen.
Die gesellschaftliche Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnisse liegt also primär in der Fähigkeit, über Wissen als Handlungsvermögen verfügen zu können. Oder anders formuliert: Erkenntnis gewinnt an Distinktion aufgrund ihrer Fähigkeit, die Wirklichkeit zu verändern. Nach diesen vorbereitenden Bemerkungen über den Begriff und die Rolle des Wissens in Handlungszusammenhängen kann ich nun die offene Frage nach den Eigenschaften einer gesellschaftlich relevanten Wissenschaft beantworten. Ich stelle diese Beobachtungen unter die Überschrift: „Die Anwendung einer Theorie impliziert keine Ähnlichkeit zwischen Theorie und Praxis.“ (Deleuze 1977, S. 205f.)
The relationship which holds in the application of a theory is never one of resemblance
Eine sinnvolle Theorie der pragmatischen Transformation wissenschaftlichen Wissens muss berücksichtigen, dass gesellschaftliches Handeln situationsgebunden ist und diese Handlungssituationen in ihren Randbedingungen entweder relativ offen oder unveränderlich sind.
Menschliches Handeln ist zwar, wie von Mannheim betont, häufig Resultat eines relativ festen Repertoires fixierter Handlungskomplexe oder Verhaltensweisen, die bei gegebener Auslösesituation abrollen. Allerdings sind damit die Situationen, mit denen wir uns im Alltag konfrontiert sehen, keineswegs erschöpft. Wie der Soziologe Friedrich Tenbruck unter-streicht, befindet sich der Mensch immer wieder in neuen Situationen, auf die hochgradig automatisierte Verhaltensweisen und Gewohnheiten nicht passen (vgl. Tenbruck 1986, S. 95). Selbst die Gegebenheit gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich als externer „Zwang“ auf das soziale Handeln auswirken, kann man als Satz möglicher Handlungsoptionen begreifen, die für bestimmte Individuen oder Gruppen offen sind.
Ob wissenschaftliche Erkenntnisse als praktikabel eingeschätzt werden, hängt demnach in entscheidendem Maß von der angenommenen Offenheit der Handlungssituation ab. Die Wahrscheinlichkeit, dass Wissen – im Sinne von Handlungsvermögen – tatsächlich in soziales Handeln umgesetzt wird, steigt dabei mit der Korrespondenz von Art und Inhalt des Wissens und denjenigen Elementen der Situation, die als offen – also als von Akteuren kontrollierbar und manipulierbar – begriffen werden.* Das bedeutet aber auch, dass die pragmatische Relevanz von Wissen keineswegs a priori sichergestellt ist. Der Soziologe Karl Mannheim stellte in seiner Studie Ideologie und Utopie ([1929] 1965:143) fest, dass der erfolgreiche „Einsatz“ von wissenschaftlichen Erkenntnissen in konkreten Handlungssituationen, zum Beispiel in der Politik, vielmehr ein Verständnis der Handlungsspielräume und der Gestaltungsmöglichkeiten der Akteure voraussetzt. Die daraus resultierende Fähigkeit, die Einsatzmöglichkeiten von Wissen zu kennen, nenne ich Gestaltungsfähigkeit im Unterschied zu Wissen als Handlungsfähigkeit.
In der modernen Gesellschaft etablierte sich an der Schnittstelle von Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten die schnell wachsende Berufsgruppe der Experten, Ratgeber und Berater. Diese Berufe sind nötig, um zwischen der Komplexität wechselnder und schnell wachsender wissenschaftlicher Wissensinhalte und denen, die diese Erkenntnisse als Handlungshilfe in Anspruch nehmen wollen, zu vermitteln. Denn Ideen wandern nicht von Mensch zu Mensch wie ein Gepäckstück, sie sind zumeist an den Einzelnen und an Netzwerke von Personen gebunden, deren unterschiedliche Interpretationen bewertet werden müssen. Erst dann werden ihre Erkenntnisse als Handlungsfähigkeit und damit als praktisches Wissen wirksam. Die Experten in der modernen Wissensgesellschaft schließen die Reflexion ab und machen wissenschaftliche Erkenntnisse praktikabel. Das Sozialprestige und der Einfluss von Beratern, Fachleuten und Ratgebern ist schließlich immer dann besonders hoch, wenn sich ihre Expertise auf den Zugang und die Kontrolle von Erkenntnissen erstreckt, die zusätzliche Handlungsmöglichkeiten eröffnen.
Nochmals die beiden Wissenschaftskulturen
Aus dem bisher Gesagten lässt sich trotz meiner vorangestellten Erklärungen womöglich der Eindruck gewinnen, dass meine Antwort auf die Frage nach gesellschaftlich relevanten wissenschaftlichen Erkenntnissen auf geistes- und sozialwissenschaftliches Wissen begrenzt sein muss. Da dies jedoch nicht der Fall ist, will ich an dieser Stelle nochmals auf die angebliche Dichotomie der beiden Wissenschaftskulturen eingehen.
Meine These lautet, dass die praktische Verwendbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse voraussetzt, dass Gestaltungsspielräume der Akteure in den Vorgang der Wissensproduktion einbezogen werden. Ein Gedankenexperiment – als exemplarische Wissensform der Geistes- und Sozialwissenschaften –, das sich auf die konkreten Gestaltungsbedingungen von bestimmten Akteuren einlässt und sie reflexiv in das Experiment einbaut, hat deshalb eine große Chance, realisiert zu werden. Nun ist die Frage, ob es auch für naturwissenschaftliches Wissen vergleichbare Bedingungen gibt, die seine Anwendung außerhalb des wissenschaftlichen Produktionskontextes begünstigen?
Dies ist in der Tat der Fall, so sind es z.B. die besonderen materiellen Rahmenbedingungen von Laborwissen, die in die Struktur naturwissenschaftlichen Wissens Eingang finden. Gemeint sind damit Effekte, die sich nur unter den spezifischen Bedingungen beobachten und reproduzieren lassen, die im Labor herrschen. Ein Transfer dieses Wissens in andere Kontexte verlangt demnach zumindest partiell auch einen Transfer der Produktionsbedingungen, es sei denn man nimmt in Kauf, „nur“ lokales, „unpraktisches“ Wissen produziert zu haben. Die praktische Reproduktion naturwissenschaftlich-technischen Wissens erfordert also ebenso wie die Realisierung eines Gedankenexperiments eine Gestaltungsfähigkeit, die den Transfer von Laborwissen in die Praxis erst möglich macht. Da unter Laborbedingungen der komplexe Einfluss der Natur grundlegend simplifiziert oder reduziert werden muss, steht die praktische Umsetzung der Ergebnisse allerdings häufig vor großen Schwierigkeiten und Risiken, die mit der Transformation der Gesellschaft in ein Labor verbunden sein können.
Schlussfolgerung
Als Schlussfolgerung aus diesen Beobachtungen über gesellschaftlich relevante wissenschaftliche Erkenntnisse kann man eine widersprüchliche Einsicht festhalten: Die wachsende Bedeutung der Wissenschaft und ihre vielfältige gesellschaftliche Anwendung haben einerseits dazu geführt, dass sie in entwickelten Gesellschaften ein weitgehendes Monopol auf die Produktion gesellschaftsrelevanten Wissens besitzt. Dieses Monopol wird ihr weder durch die Religion noch durch die Politik und schon gar nicht durch die Alltagserfahrung streitig gemacht. Die Wissenschaft ist in ihrer Funktion, Neues zu erforschen und dadurch den Entscheidungs- und Handlungsspielraum in der Gesellschaft zu erweitern, durch nichts ersetzbar. Andererseits muss sie dieses Wissen als hypothetisch präsentieren, da jede neu gewonnene Erkenntnis auch neue Bereiche mangelnden Wissens markiert. So erzeugt die Wissenschaft eine eigene Art der Unsicherheit, ohne die ein Fortschreiten der Wissensproduktion nicht möglich wäre.
Gerade die Risikodiskurse in der Gesellschaft machen diese systematische Beziehung zwischen Wissen und mangelnder Erkenntnis sehr deutlich: Alles was wir heute über mögliche ökologische, klimatische oder technische Gefährdungen wissen, wissen wir nur aufgrund wissenschaftlicher Untersuchungen. Da wir aber auch wissen, wie dieses Wissen produziert wurde, sehen wir auch die damit verbundene Begrenztheit, die Ausblendungen und die Vorläufigkeit dieses Wissens. Die Wissenschaft hat aufgrund dieses Mechanismus ihre traditionelle Legitimation insofern verloren, als sie nicht mehr als Vertreterin des gesellschaftlichen Fortschritts oder als Sprecherin der Vernunft auftreten kann. Sie ist nicht die Instanz, bei der sich das Richtige oder Wahre einfordern lässt – die Kontingenz wissenschaftlich gewonnenen Wissens wird in der Gesellschaft als mangelndes Wissen kommuniziert.
Mit der Auflösung der Fiktion, dass die Wissenschaft sicheres Wissen produziert, droht ein Verlust an Glaubwürdigkeit und Autorität in der Öffentlichkeit. Das durchaus Neue der gegenwärtigen Situation kann man darin sehen, dass die Kritik an der Wissenschaft nicht mehr vorrangig aus den Bereichen der Moral, Religion oder Ideologiekritik stammt, sondern aus der Wissenschaft selbst: Die Wissenschaft spricht über sich selbst wie über etwas Drittes. Und dieses Wissen wird wieder in Entscheidungen eingespeist als Wissen über Bedingungen, Kontexte und Folgen des Handelns, das auch hätte anders ausfallen können. Genau aus diesem Grunde wird man durch mehr Forschung nicht mehr Sicherheit erwarten können, sondern mehr Unsicherheit, da der Alternativenreichtum des Entscheiders reflexiv gesteigert wird.
Hinzu kommt, dass das nachgefragte Wissen nicht mehr allein technisch zu realisierende Anwendungsmöglichkeiten betrifft, sondern zunehmend auch das Gebiet der unerwünschten Nebenfolgen sozialen Handelns. Dabei wird die Zukunft zu einem entscheidenden Parameter des Wissens (Vorsorgeprinzip). Je weiter sich aber der Zeithorizont des Entscheiders in die Zukunft hinausschiebt, desto wahrscheinlicher ist das Auftreten unvorhergesehener Folgen – etwa bei der Anpassung an die Folgen des Klimawandels. Sachlich und sozial nimmt damit die Bedeutung des Nichtwissens für die Handelnden zu. Handeln kann zunehmend nur noch als wahrscheinlich oder unwahrscheinlich eingeschätzt werden und die Entscheidung selbst enthält als Basis eine nur fiktiv gesicherte Realität.
Eine Reflexion dieser Sachverhalte muss nicht auf Relativismus oder eine Beliebigkeit des Wissens hinauslaufen. Sie macht aber bewusst, in welchem Maß die Wissenschaft selbst riskant geworden ist, warum sie zunehmend zum Lieferanten politischer Probleme wird, wie Wissensgesellschaften mit dem neuen Politikfeld „Wissenspolitik“ darauf reagieren werden und die Wissenschaft dadurch zu immer komplexeren Konstruktionen treiben (vgl. auch Stehr 2003). Und dies in einer Gesellschaft, die gar nicht anders kann, als sich Risiken zu leisten.
Das Entscheidende dieser Erkenntnis besteht darin, dass trotz aller Unsicherheit der Wissensproduktion die Wissenschaft der einzig legitime Weg ist, Wissen in der modernen Gesellschaft zu erzeugen. Nicht die Verkündung gesicherten Wissens ist ihre Aufgabe, sondern Management von Unsicherheiten. Voraussetzung dafür ist der Austausch mit Politik und Öffentlichkeit über die Unsicherheit und Revidierbarkeit der eigenen Erkenntnisse.
Literatur:
Deleuze, Gilles (1977): „Intellectuals & Power: A conversation between Michel Foucault and Gilles Deleuze“, in: Michel Foucault: Language, Countermemory, Practice: Selected Essays and Interviews. Oxford: Blackwell.
Fromm, Erich (2007): Haben oder Sein. Hamburg: Spiegel Verlag.
Mannheim, Karl (1965): Ideologie und Utopie. Frankfurt am Main: G. Schulte-Bulmke.
Snow, Charles Percy (1964): The Two Cultures: A Second Look. An Expanded Version of the Two Cultures and the Scientific Revolution. Cambridge: Cambridge University Press.
Tenbruck, Friedrich H. (1986): Geschichte und Gesellschaft. Berlin: Duncker & Humblot.