Der Konflikt in Georgien hat den krisengeschüttelten Schwarzmeer-Raum erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Dass eine friedliche Lösung der zahlreichen schwelenden Nationalitätenkonflikte möglich ist, scheint angesichts der Fernsehbilder von russischen Panzerkolonnen und brennenden Dörfern kaum vorstellbar. Umso bemerkenswerter ist das Beispiel, das die von Stalin deportierten Krim-Tataren mit ihrer weitgehend gewaltfreien Rückkehr in ihre angestammten Siedlungsgebiete der Region bieten. Ihr Repräsentant, Mustafa Dschemiljow, wurde dafür 1998 mit dem UNO-Menschenrechtspreis ausgezeichnet.
Das vorliegende Gespräch zwischen Christian Reder, Erich Klein und Mustafa Dschemiljow entstand im Rahmen eines Forschungsprojektes zur Geschichte des Donau- und Schwarzmeerraumes, dessen Ergebnisse jüngst in dem Band Graue Donau – Schwarzes Meer veröffentlicht wurden.
CHRISTIAN REDER Die Karte von Guillaume Delisle (1675–1726), die wir Ihnen als Geschenk mitgebracht haben, ist Anfang des 18. Jahrhunderts in Amsterdam erschienen; es ist eine der ganz frühen, bereits halbwegs genauen Darstellungen Zentralasiens, das insgesamt als „Tartarei“ bezeichnet wird, bewusst abwertend, an tartarus anklingend, mit dem später verschwindenden „r“. Ihr zufolge ist das alles – aus westlicher Sicht – einmal „Tatarenland“ gewesen. Wie stehen Sie, als Krim-Tatare, dazu? Hat das für ein Selbstverständnis von Tataren noch Bedeutung?
MUSTAFA DSCHEMILJOW Sie stammt also aus der Zeit des Krim-Khanats. Wenn mich Journalisten fragen, was es mit den Gerüchten und der Propaganda auf sich hat, dass sich die Krim-Tataren, wenn sie einmal bevölkerungsmäßig stärker würden, von der Ukraine abspalten wollen, antworte ich: „Wozu sollen wir uns abspalten, es gab ja eine Zeit, da gehörte die Ukraine zu uns!“ Alles, was auf der Karte vom heutigen Territorium der Ukraine zu sehen ist, war einmal Teil des Krim-Khanats. Verschiedene kaukasische Stämme wie die Tschetschenen haben bei uns zu kämpfen gelernt. Wie man sieht, ziemlich gut …
REDER Auffällig ist, wie vage die Kenntnisse der europäischen Aufklärer über diesen Weltteil gewesen sind, trotz der uralten Verbindungen über die Seidenstraße.
DSCHEMILJOW Na ja, die Kartographie war noch nicht entsprechend entwickelt – es gab ja keine Satellitenaufnahmen. Ich kenne sehr viel gröbere alte Karten, diese hier stimmt bereits recht genau.
REDER Die Bezeichnung Ihres Volkes als „Krim-Tataren“ bezieht sich eindeutig auf ein konkretes Gebiet – mit der bis China reichenden „Tatarei“ bloß als großflächigem Vergangenheitsbezug?
DSCHEMILJOW Wir führen diese Diskussion über die Bezeichnung der Nation immer wieder und seit langem: Die eine Hälfte meint, wir sollten „Krimtsy“ heißen – wie die Aserbeidschaner nach Aserbeidschan, oder Franzosen nach Frankreich. Die andere Gruppe meint, wir sollten uns weiter „Krim-Tataren“ nennen, weil dieser Name eine lange Tradition hat. Um ständige Diskussionen zu vermeiden, haben wir beschlossen, uns nicht eindeutig festzulegen: Wir betrachten „Krimtsy“ und „Krim-Tataren“ einfach als synonym.
REDER Was ist an der Frage der Herkunft über so lange Zeit noch wichtig?
DSCHEMILJOW Unsere Khane hielten sich für Nachfolger von Dschingis Khan. Selbst wenn mit den mongolischen Truppen nur einige tausend Tataren auf die Krim kamen, haben sich daraus erkennbare Vererbungslinien ergeben. Das Volk bildete sich durch Vermischung mit jenen Stämmen heraus, die schon früher hier gelebt haben. Um Ihnen ein einfaches Beispiel zu geben: Ich selbst wurde im Bezirk Sudak geboren. Dort gibt es zwei Friedhöfe – genauer gesagt, es gab zwei Friedhöfe, die von der Sowjetmacht zerstört wurden: einen christlichen und einen muslimischen. Noch unsere Großväter haben den christlichen Friedhof gepflegt, weil sie meinten, dort seien unsere Vorfahren begraben, bevor sie den Islam annahmen.
Ich habe meinen Stammbaum untersucht und herausgefunden, dass ich ungefähr in siebenter Generation ein Abkömmling der Genueser bin, jener Italiener, die auf der Krim Handelskolonien errichtet hatten. Diese Leute nahmen den Islam und die türkische Sprache an und wurden zu Krim-Tataren. Wenn Sie unsere Gesichter anschauen, sehen Sie die Unterschiede: Die Krim-Tataren aus der Steppe haben schmale Augen – diese haben sich nicht unterworfen, während sich jene an der Südküste mit den anderen Ansässigen vermischten.
REDER Sich angesichts eines Nebeneinanders von Volksgruppen und latenter Vermischungen primär einem bestimmten Gebiet zugehörig zu fühlen, ist auch im Mittleren Osten das Normale; die Menschen verstehen sich gleichzeitig als Araber, als Leute aus Damaskus, als Syrer, als Sunniten oder Alawiten. In Deutschland oder Österreich wird Nationalität viel enger gesehen, obwohl beide Staaten so viele Nachbarländer haben wie kaum ein anderer. Gibt es noch Einheitsvorstellungen angesichts der vielen ethnischen Gruppen, die als „Tataren“ bezeichnet werden? Etwa sieben Millionen, sagen die offiziellen Angaben, leben in Nachfolgestaaten der UdSSR, einige Millionen in der Diaspora. Ursprünglich sind von Europa aus unterschiedlichste Fremde damit gemeint gewesen …
DSCHEMILJOW Krim-Tataren oder Tataren: Die Sprache ist mehr oder weniger dieselbe, also bedeutet es für uns nicht mehr als für Portugiesen, die in Brasilien, oder für Spanier, die in Mexiko leben.
Noch unsere Großväter haben den christlichen Friedhof gepflegt, weil sie meinten, dort seien unsere Vorfahren begraben, bevor sie den Islam annahmen.
ERICH KLEIN Wie steht es jetzt um den Dauerkonflikt mit der russischen Bevölkerung der Krim? Die Krim-Tataren blockieren praktisch jeden Sommer eine der Haupttourismusrouten, um ihre Forderungen nach Landrückgabe durchzusetzen. Und dann gibt es da noch die vielen symbolischen, oft aber einigermaßen gewalttätigen Konflikte um diverse tatarische Heiligtümer.
DSCHEMILJOW Kürzlich kam es wieder zu einer heftigen Auseinandersetzung im Bezirk Bachtschissaraj. Es gibt dort einen sehr alten nichtchristlichen Friedhof aus der Zeit der Khane. Die russisch-orthodoxe Kirche beschloss, an dieser Stelle eine Kirche zu errichten. Dagegen haben die Krim-Tataren kategorisch protestiert. Umso mehr noch, als es sich um eine Kirche des Moskauer Patriarchats handelt. Man findet da die Namen unserer Vorfahren, es ist aber kein islamischer Friedhof, auch wenn dort eindeutig krim-tatarische Namen zu lesen sind. Wir verlangten, an dieser Stelle solle eine Art Museum errichtet werden. Sie haben schließlich nachgegeben – die exhumierten Knochen warfen sie trotzdem einfach in eine Schachtel, was bei uns ganz und gar nicht üblich ist. Wir haben die Gebeine wieder begraben, ein Denkmal wurde errichtet und die Geschichte des Friedhofs aufgeschrieben.
KLEIN Über die Friedhöfe der unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen auf „fremdem“ Territorium wird in zahlreichen Ländern der ehemaligen Sowjetunion gestritten. Es gibt die Tradition, dass sich das Recht auf Eigentum an Grund und Boden von der Grabstelle ableitet, nicht vom Ort, wo gelebt und gearbeitet wird. Angeblich haben das die Tataren in Europa eingeführt.
DSCHEMILJOW Das wissen die Russen sehr genau – auf den besetzten japanischen Inseln bei Sachalin haben sie alles weggeräumt, was an deren frühere Bewohner erinnerte. Auch die Friedhöfe. Bei uns wurden nach der Deportation die Bücher verbrannt, aus Grabsteinen wurden Gehsteige gemacht. Sie haben das gesamte kulturelle Erbe zerstört. Wir sollten keine Spuren hinterlassen.
KLEIN Und der mehrjährige Streit über den Markt in Bachtschissaraj, wo sich auf ehemaligen Gräbern russische Marktstände befanden, ist der entschieden?
DSCHEMILJOW Ja, mittlerweile ist es entschieden. Aber es kam fast zu einem Krieg. Als wir eine Demonstration organisierten, versammelten sich die Russen als „Russischer Block“ und stürzten sich mit chauvinistischen Losungen auf uns. Polizei war kaum anwesend, höchstens sechzig, siebzig Mann. Es kam zu einer riesigen Schlägerei, schließlich wurden gepanzerte Fahrzeuge eingesetzt, die alle Zufahrtsstraßen nach Bachtschissaraj absperrten. Wir waren umzingelt. Also wurden per Telefon die Tataren der ganzen Krim zusammengerufen – und die Russen ihrerseits von allen Seiten eingeschlossen. Sie wussten, dass es Zeit für sie war, zu verschwinden. Jetzt wollten die Tataren sie nicht einfach davonlassen. Der Sprecher des Parlaments sagte mir damals: „Die Russen wollen abziehen – die Tataren lassen sie nicht weg und wollen sie verprügeln.“ Ich setzte mich mit den Tataren in Verbindung und fragte, was da eigentlich los ist: Diese meinten, die Russen müssten bestraft werden. Ich sagte ihnen, lasst sie gehen, aber fotografiert sie alle. Es wurde noch ein wenig herumgeprügelt, aber das waren dann nur noch Kleinigkeiten.
REDER Wie steht es um das Verhältnis der Krim-Tataren zur Türkei, zur arabischen Welt, zum Iran?
DSCHEMILJOW Wir haben enge Verbindungen mit der Türkei, weil dort eine große krim-tatarische Diaspora lebt. Nach der Annexion der Krim durch Russland mussten sehr viele emigrieren. Was die Religion betrifft, so orientiert sich unsere religiöse Führung an jener der Türkei. Das war schon zu Zeiten des Krim-Khanats so. Mit anderen moslemischen Ländern haben wir mehr oder weniger intensive Beziehungen, die höchst unterschiedlicher Natur sind. Wahhabitismus, der in Saudi-Arabien einflussreich ist, ist bei uns nicht zulässig. Unsere Grundeinstellung lautete: „Muslime gibt es auf der Krim und es gibt Muslime an anderen Orten.“ Nicht mehr. Wenn Vertreter aus dem Iran kommen, führen wir allgemeine Gespräche, versuchen aber klarzumachen, dass sie sich in unsere Angelegenheiten nicht einmischen sollen.
REDER Würde Sie ein Beitritt der Türkei zur EU freuen?
DSCHEMILJOW Ich war kürzlich in der Türkei. Es gab dort viele Diskussionen über den EU-Beitritt. Eines ist sicher: Die Abwehr der EU wächst jedenfalls. Die Türken sagen: Wir waren in den schwierigen Zeiten des Kalten Krieges auf Seiten des Westens, jetzt kommen die Bulgaren und Rumänen vor uns dran; das ist ein christlicher Klub, der uns nicht aufnehmen will. Jedenfalls werden durch das Verhalten der Europäer die EU-Gegner bestätigt, die jetzt sagen: Versteht ihr endlich, mit wem wir es zu tun haben? Die Aufnahmebedingungen mit der Frage des Genozids an den Armeniern zu verknüpfen, halte ich für ganz und gar unmöglich.
Ich war kürzlich in Erzurum, wo damals viele der Gemetzel stattfanden. Mir wurden dort die von den Armeniern zerstörten Friedhöfe der Türken gezeigt. Dort fand auch ein Genozid durch die andere Seite statt – armenische Zeitungen schrieben damals, wir haben so und so viele Türken niedergemetzelt, in der Stadt gab es so und so viele Türken, jetzt sind keine mehr da. Warum besteht der Westen auf diesem Punkt? Ich will damit keineswegs sagen, dass die Türken damals zurückhaltend gewesen wären – aber es ist ein Faktum, dass von den Zivilisten der gesamten Region in jener Zeit ebenso viele Türken wie Armenier umgebracht worden sind. Wenn man über einen Genozid reden will: Der gegen die Krim-Tataren ist genau dokumentiert. Wir haben 46 Prozent der Bevölkerung verloren – warum hält man das in Europa nicht fest? Jemand, der den Genozid an den Krim-Tataren bestreitet, wird auch nicht gerichtlich verfolgt!
KLEIN Weil man davon in Europa nichts weiß.
DSCHEMILJOW Wäre Russland ein demokratisches Land, müsste es als erstes anerkennen, dass ein Genozid erfolgt ist und die Verantwortung dafür übernehmen. Tatsächlich agiert Russland aber nur in jenen Fällen als Rechtsnachfolger, wo es um materielle Ansprüche geht. Sie sagen ständig, das und das gehört uns; sobald es um die Verantwortung geht, heißt es immer, das waren die Bolschewiki!
REDER Was halten Sie von der angestrebten Mitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union?
DSCHEMILJOW Das wäre wunderbar! Allerdings ist dabei Folgendes zu bedenken, auch wenn es keine notwendige Voraussetzung ist: Ein Land, das der EU beitritt, müsste ein Nato-Mitglied werden. Unser Verteidigungs- und unser Außenminister haben Recht, wenn sie sagen: Um dort hinzukommen, muss zuerst systematische Arbeit geleistet werden. Man muss die Nato der Bevölkerung erklären. Das geschieht in der Ukraine aber nicht! Die Anti-Nato-Demonstrationen, die es hier gibt, folgen einem Denken aus den 1970er Jahren. Man denkt noch immer in den Kategorien von „Aggressor“ und „Besetzung“, kurz – man tut so, als würde den Russen das Brot weggenommen. Nach unterschiedlichen Umfragen unterstützen nur 30–35 Prozent der Ukrainer einen Nato-Beitritt. Mit einem Referendum käme man also nicht sehr weit. Vielleicht ist das in etlichen Jahren aber anders.
KLEIN Die gemeinsamen US-amerikanisch-ukrainischen Manöver im Sommer 2006 in der Nähe von Feodosija haben heftige Reaktionen auf Seiten Moskaus hervorgerufen. Es wurde eine regelrechte Propagandaschlacht entfacht, als hätte schon der Dritte Weltkrieg begonnen.
DSCHEMILJOW Auf dem Gebiet der Krim unterstützt außer uns sonst niemand die Nato. Die Ukraine hat hier einen gravierenden Fehler gemacht. Worum es bei den Manövern eigentlich ging – darüber wurde gar nicht gesprochen. Hätte man uns gefragt, wir hätten den Demonstranten gegen die Nato schon etwas entgegengesetzt. Kiew zeigt uns aber ohnedies immer die kalte Schulter, wenn es um unsere Probleme geht, und so meinten viele bei uns: „Die in Kiew sollen schauen, wie sie selbst damit zurechtkommen.“ Wir hätten so viele Leute wie nötig mobilisiert, dass den Russen Hören und Sehen vergangen wäre.
Als er schon im Sterben lag und lichterloh brannte, fragte er die Leute, die neben ihm standen: „Was glaubt ihr, habe ich unserer Sache etwas gebracht?“
KLEIN Sie haben im Lauf Ihres Lebens ziemlich viel Erfahrung im politischen Kampf gesammelt – ist eigentlich ein Ende des Kampfes der Krim-Tataren um ihre Heimat absehbar? Und wie sehen Sie Ihre eigene Rolle in diesem Kampf?
DSCHEMILJOW Wenn man es objektiv betrachtet, so habe ich keinen Grund, mich über mein Schicksal zu beklagen. Als wir in den Gefängnissen saßen, wussten wir zwar, dass es die Sowjetunion irgendwann nicht mehr geben würde, dass das Imperium zerfallen würde …
KLEIN Das haben Sie tatsächlich gewusst? Es gab aber noch in den 1980er Jahren wenige Anzeichen dafür?
DSCHEMILJOW Wir wussten es theoretisch, weil ein totalitäres Regime nicht „natürlich“ ist. Wir haben angenommen, es würde in ferner Zukunft geschehen; dass wir das mit eigenen Augen sehen würden, das dachten wir nicht. Wir haben uns am meisten gewünscht, zu Hause zu sterben, um nicht im Lager begraben zu werden, sondern unter den eigenen Leuten. Dann geschah, was geschah, und wir kehrten noch zu Lebzeiten in die Heimat zurück. Wir haben erlebt, wie die Kommunisten vertrieben wurden. Natürlich gibt es eine Menge von Problemen, die eine Lösung erfordern, aber man darf von Allah auch nicht zu viel verlangen! Im Leben geht alles nur schrittweise (lacht).
KLEIN Erinnern Sie sich manchmal an die schrecklichen Zeiten der Auseinandersetzung mit der Sowjetmacht? Im Tatarenmuseum in Jalta sind die Bilder jenes Krim-Tataren zu sehen, der sich wie der tschechische Student Jan Palach selbst angezündet hat. Er war einer Ihrer Freunde. Und da taucht auch immer wieder die Losung Rodina ili smert! – „Vaterland oder Tod!“ – auf.
DSCHEMILJOW Es war sehr symbolisch und sehr bezeichnend, wie sich Mussam Umut verbrannte. Er war ein einfacher Mann, ein Idealist, überzeugter Krim-Tatare, nicht sehr gebildet. Wenn ein Mensch unter derart schrecklichen Schmerzen stirbt, überwiegen andere Gefühle als die große idealistische Sache: Du denkst an dich selbst. Weil ich damals gerade aus dem Lager gekommen war, stand ich unter Beobachtung und durfte den Ort nicht verlassen. Ich konnte damals nicht einmal zum Begräbnis kommen. Man erzählte mir aber Folgendes: Als er schon im Sterben lag und lichterloh brannte, fragte er die Leute, die neben ihm standen: „Was glaubt ihr, habe ich unserer Sache etwas gebracht?“
KLEIN Was wird heuer am 18. Mai geschehen, am nationalen Feiertag der Krim-Tataren?
DSCHEMILJOW Das ist kein Feiertag, sondern ein Tag der Trauer. Er findet jedes Jahr statt, wir versammeln uns, um die Einheit des Volkes zu demonstrieren – unabhängig davon, ob jemand die medschlis, unsere Ratsversammlungen, mag oder nicht. Es ist ein Ereignis, das alle vereinigt. Wir tragen dort immer eine Resolution vor, die unsere wesentlichen Forderungen an die Staatsmacht enthält.
KLEIN In Simferopol ist zu hören, dass es dieses Jahr sehr viel Polizei auf den Straßen geben werde. Ist das notwendig, sind Ausschreitungen zu befürchten?
DSCHEMILJOW Sie machen sich jedes Mal selbst Angst.
KLEIN Wer macht sich selbst Angst?
DSCHEMILJOW Am 18. Mai gab es noch nie Ausschreitungen. Die offiziellen Stellen sagen, wir fürchten die Krim-Tataren nicht, haben aber Angst vor Provokateuren – was nicht ganz unbegründet ist. Wenn zum Beispiel irgendwelche Russen eine Bombe in die Menschenmenge werfen – wissen Sie, was da alles passieren könnte? Wenn Sie genau hinschauen, werden Sie bemerken, dass der Großteil der Polizisten Krim-Tataren sind.
KLEIN Es gibt in Simferopol ein Denkmal für Pjotr Grigorenko, den ehemaligen Sowjetgeneral, der als Dissident zu einem Fürsprecher der Krim-Tataren wurde. Wie sehen Sie heute die ehemaligen Dissidenten? Sie sind eigentlich der einzige, der seine politischen Ziele erreicht hat. Die russische Menschenrechtlerin Ludmilla Alexejewa kämpft im Vergleich zu Ihnen in Moskau auf verlorenem Posten.
DSCHEMILJOW Sie ist sehr gealtert, dasselbe ist bei Sergej Kowaljow der Fall. Genrich Chaltunja war eine Zeit lang in der rada, dem Parlament in Kiew – langsam sterben wir alle. Als ich 1998 den UNO-Preis für Menschenrechte bekam, wurde bei der Verleihung in Genf ein Brief von Kofi Annan verlesen. Er hat etwas Interessantes gesagt: In der Welt gebe es viele Nationalitätenprobleme und viele Nationalbewegungen. Einzig und allein die Bewegung der Krim-Tataren habe niemals zu Gewalt gegriffen und ihre Ziele auf demokratische Weise erreicht. Deren Erfolg sollte deshalb ein Beispiel für andere derartige Bewegungen sein.
REDER Waren Sie immer ein so friedfertiger Mensch? Repression und Schikanen machen doch eher wütend.
DSCHEMILJOW Letztes Jahr fand in Istanbul ein Treffen verschiedener demokratischer Bewegungen aus ganz Europa statt. Bei der Verleihung eines Diploms für „courage for democracy“ hielt ich eine kurze Ansprache. Ich habe die beiden Prinzipien erklärt, an die sich die Krim-Tataren immer gehalten haben. Erstens niemals zu Gewalt zu greifen. Wenn man einen Sieg durch unschuldig vergossenes Blut erringt, wenn das auf Kosten der Tränen von Kindern geht, dann ist dieser Sieg verdammt. Das zweite Prinzip lautet: Wenn jeder nur über seine eigenen Probleme spricht und die der anderen nicht sieht, dann wird er nie wirkliche Autorität bekommen. In der Welt gibt es viel Ungerechtigkeit, man muss über seine Probleme sprechen, darf aber die Probleme der anderen nicht übersehen. Genau aus diesem Grund war das Ansehen der Krim-Tataren unter den Menschenrechtsbewegungen der Sowjetunion so hoch. Im Vergleich zu anderen Nationalitäten haben wir uns nicht mit unseren eigenen Problemen vom Rest der Welt abgekapselt. Pjotr Grigorenko und Andrei Sacharow haben uns unterstützt, weil sie den demokratischen Grundzug in unserem Denken sahen. Wären wir den Weg des Terrorismus gegangen – selbst wenn das mit den Selbstmordattentätern im Einzelfall sehr mutig sein sollte –, dann wäre das nicht geschehen. Und ich war nicht so friedfertig, weil ich etwa Angst vor Blut gehabt hatte.
KLEIN Warum fürchten sich die Europäer Ihrer Meinung nach, sich in die Frage der Krim-Tataren einzumischen. Die OSZE-Mission, die es auf der Krim in den 1990er Jahren gab, ist wieder abgezogen worden.
DSCHEMILJOW Die Welt interessiert sich für die Probleme dieser oder jener Region – wenn die Gefahr droht, dass etwas explodiert, schaut man lieber weg. Auch wir haben uns einmal tatsächlich am Rand der Explosion befunden – das war 1991. Die Krim-Tataren haben damals begonnen, Land zu besetzen. Es wurden Omon-Truppen auf uns gehetzt und Russen der Umgebung, an die Wodka ausgeteilt worden war. Es kam zu wilden Schlägereien, und etwa dreißig Krim-Tataren wurden verhaftet. Daraufhin hat sich hier im Zentrum von Simferopol eine riesige Menge von Krim-Tataren zu einer Protestkundgebung versammelt. Die medschlis sollte eine Entscheidung treffen. Die Verwandten der verhafteten Krim-Tataren wollten wissen, wo ihre Leute hingebracht wurden, ob sie überhaupt noch lebten, waren sie doch ziemlich heftig verprügelt worden. Die Machthaber waren ziemlich erschrocken und begannen zu verhandeln.
Sie kamen zu uns in die medschlis und nahmen Verhandlungen auf: „Gut, wir lassen die Verhafteten frei – allerdings mit der Auflage, die Stadt nicht zu verlassen. Es wird Anklage wegen illegaler Landbesetzung und Widerstand gegen die Staatsgewalt erhoben.“ Ich sagte: „So einfach geht das nicht – wir stimmen nur unter der Bedingung zu, dass gleichzeitig gegen den Polizeichef der Krim und den Sprecher der Autonomen Republik Krim Anklage erhoben wird und auch diese das Land nicht verlassen dürfen.“ Als ich hinausging, um die Entscheidung der medschlis über Megaphon bekanntzugeben, stand eine gewaltige Menschenmenge vor mir. Ich teilte den Krim-Tataren mit, dass im Zusammenhang mit den Ereignissen der letzten Tage eine gesamtnationale Mobilisierung verfügt werde. Ich sagte: „Alle Krim-Tataren zwischen achtzehn und fünfzig Jahren werden aufgefordert, sich zur Registrierung bei ihren lokalen medschlis zu melden. Alle Krim-Tataren, die – unabhängig vom Einsatzort – ihren Militärdienst ableisten, sollen sofort auf die Krim zurückkehren. Alle Polizeieinheiten in egal welchem Ort auf dem Gebiet der Krim werden als illegale Banditenformationen angesehen.“ Ich hatte selbst Angst, wie all das von den Krim-Tataren aufgenommen werden würde – das Ganze war schon nahe an der Grenze zum Äußersten. Wir hatten immer gewaltlos agiert, und jetzt standen wir am Rande des Krieges. Zehntausende Menschen schrien im Chor: „Allahu Akbar!“, „Medschlis!“
Damals hat die Staatsmacht verstanden, dass man mit uns nicht scherzen darf. Kiew hat sich sofort eingeschaltet, alle Verhafteten wurden ohne weitere Bedingungen freigelassen; es wurde versprochen, jene, die uns angegriffen hatten, zu bestrafen. Danach haben diese begonnen, ihre eigenen Verbände zu schaffen. Wir sind natürlich für eine friedliche Lösung – aber wenn jemand diese Haltung missbrauchen will, dann können wir auch die Zähne zeigen. Gott sei Dank ist es damals nicht so weit gekommen.
KLEIN Die Sache der Krim-Tataren ist sehr eng mit Ihrer Person verbunden – Sie werden also ewig weiterkämpfen müssen?
DSCHEMILJOW Natürlich werden nach mir andere kommen und meinen Platz einnehmen. Was meine Person betrifft, so kann ich Ihnen gerne das Buch Der sechste Prozess gegen Mustafa Dschemiljow geben. Das sind Materialien der Untersuchung, Briefwechsel, Gerichtsakten und diverse Dokumente. Ich wurde ja nicht nur wegen der „Nationalen Frage“ angeklagt, sondern auch wegen „Verunglimpfung der Sowjetunion“, also wegen Beleidigung der sogenannten sowjetischen Demokratie. Wir haben gegen den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan protestiert – das wurde auch behandelt. In einem Teil geht es um die Verbindung der Krim-Tataren mit der Dissidenten-Bewegung im Allgemeinen. Was Andrei Sacharow betrifft: Wir kannten einander viele Jahre lang, sahen uns persönlich aber erstmals im Jahr 1986. Als ich aus dem Lager freikam, fuhr ich zu ihm nach Moskau. Bei seinem Begräbnis im Dezember 1989 war ich ausgewählt worden, am Sarg als Ehrenwache zu stehen.