Präsenz und Distanz im modernen Historienbild

Über den Krieg als Spiel bei William Turner und Anselm Kiefer. Von Monika Wagner

Online seit: 10. September 2019

Die „Krise des Historienbildes“ in der Zeit um 1800 hat alte Formen und Funktionen des Geschichtsbildes, das vor allem Schlachten und Zeremonien für staatliche oder kirchliche Auftraggeber repräsentierte, grundlegend verändert. Entstanden sind auftragsunabhängige künstlerische Auseinandersetzungen mit Geschichte, in denen die unwiederbringliche Vergangenheit von Ereignissen wie die prinzipielle Unanschaulichkeit von Geschichte vorausgesetzt wird. Indem jedoch Vergangenheit in die Gegenwärtigkeit der Kunst geholt wird, entstehen osmotische Relationen zwischen Präsenz und Distanz.

Anselm Kiefers Auseinandersetzungen mit deutscher Geschichte sind geprägt durch die Herstellung höchster Präsenz auf der Grundlage bewusster Distanz und Nachträglichkeit. Das zeigen schon frühe Arbeiten wie die 1969 datierten „Besetzungen“, Fotos, in denen Kiefer stets in der Pose des „deutsches Grußes“ zu sehen ist. Sie dokumentierten, so Kiefer in seiner lakonischen Autobiografie, wie er die Schweiz, Frankreich und Italien besetzt habe. Mit der fotografischen Fixierung des körperlichen Nachvollzugs einer NS-Geste, der leibhaftigen Annäherung an die Zeit des NS also, hat Kiefer in doppelter Hinsicht „Authentizität“ verheißende Medien – Körper und Foto – eingesetzt. Als sich 1975 eine Avantgardezeitschrift bereit fand, die Fotos zu veröffentlichen, verstanden zwar alle sofort die Körpersprache, werteten sie aber als Identifikation mit dem Bezeichneten. Die Zeichen der Reflexion und Distanzierung, die extremen Perspektiven, die stets einsame Figur, ihre Entfernung bis zum Verschwinden, die Ausstattung des Akteurs, seine langen Haare und die Hemdärmeligkeit usw. wurden erst allmählich bewusst.

Bild, Krieg und Spiel

Kann man die „Besetzungen“ als Re-enactment verstehen, so lässt sich für die 1975 entstandene Werkgruppe „Unternehmen Seelöwe“ (Codewort für die geplante Invasion Englands durch die nationalsozialistische Marine) das Modell im Sinne einer nachträglichen miniaturisierten Kondensierung geltend machen. Die Werkgruppe umfasst visuelle Bücher und Gemälde. In einem der Bücher findet sich zwischen der Quelle als Topos des Beginns und dem durch ein schwarzes Bildfeld bezeichneten Ende das Foto eines Spielzeugschiffs im Wasser einer Zinkbadewanne, dem der Schiffsuntergang als fotografischer Schatten folgt.

In einer weiteren Arbeit wurde die Zinkbadewanne in die bemalte Leinwand eines Bildes eingelassen, so dass die Gattungsgrenzen zwischen Bild und Ding verschwimmen. Damit kommen Realia ins Spiel, die jedoch ebenfalls in die Fotografie überführt wurden, deren dokumentarischen Status Kiefer nutzte – jedoch nicht für das Ereignis, sondern für das miniaturhafte Spiel im Atelier.

Kiefer signalisiert in seinen Annäherungen an den Nationalsozialismus die erdrückende Last der Auseinandersetzungen mit deutscher Geschichte.

Strukturell zeigen sich schon 150 Jahre früher, also zur Zeit der diagnostizierten Krise des Historienbildes, erste Ansätze zu vergleichbaren Distanzierungsinstrumenten bei der visuellen Konstruktion von Geschichte: 1827 datiert ein großformatiges Aquarell William Turners, das eine neue Form des Historienbildes darstellt. Wir blicken in eine flache Küstenlandschaft unter einem stürmischen Himmel, in der ein Monument in Gestalt einer hoch aufragenden Säule auffällt. Zwischen ihr und dem vorderen Bildrand sind Gruppen zeitgenössisch gekleideter Figuren dargestellt, einige unter ihnen in maritimer Tracht. Sie schauen gebannt auf zwei Reihen von Spielzeugschiffen im Sand. Turners Aquarell entstand zehn Jahre nach der Einweihung des Monuments, das, wie später die Nelson-Säule auf dem Trafalgar Square in London, dem siegreichen Helden der Seeschlacht von Trafalgar über die vereinigte französische und spanische Flotte im Jahr 1805 gewidmet war. Die Säule war auf Yarmouth Sands errichtet worden, weil Nelson aus Norfolk stammte und lokale Geschäftsleute dessen nationale Leistungen in ihrem County memoriert sehen wollten. Es handelt sich also um keinen „authentischen“ Ort im Sinne einer „historischen Landschaft“, an dem die Säule errichtet wurde. Im Gegenteil, der Ort ist geradezu beliebig.

Struktur versus Erscheinung

Was die in Turners Aquarell dargestellten Figuren treiben, erklärt sich im Kontext des Monuments: Sie spielen die Schlacht von Trafalgar. Aufgebaut sind die vereinten französischen und spanischen Flottenverbände in der für Seeschlachten lange Zeit üblichen doppelreihigen Formation. Ein im rechten Winkel zu dieser Formation fahrendes Schiff hat bereits die Reihen durchbrochen und dadurch zwei Schiffe der linearen Ordnung umgestoßen. An die Stelle der weiteren englischen Flottenformation sind im Bild die beiden Figurengruppen getreten. Sie stellen die ebenso überraschende wie neuartige Taktik von Nelson, der die feindliche Flotte in verschiedene Abschnitte segmentiert hatte, im Spiel nach.

Es lässt sich also feststellen, dass Turner im Aquarell auf zwei verschiedene Weisen ein historisch noch nicht allzu weit zurückliegendes Ereignis reflektiert, das er selbst schon einmal als Historienbild dargestellt hatte. Doch sein Gemälde „The Battle of Trafalgar“, das die Krone selbst geordert hatte, wurde kurz nach seiner Vollendung 1824 von Historikern, allen voran von William James in seiner Naval History of Great Britain, wegen „fehlender Genauigkeit“ attackiert.

In Yarmouth Sands hat Turner weder die Seeschlacht noch – wie in einem noch früheren Gemälde – den Heldentod Nelsons repräsentiert, sondern unterschiedliche Modi des Memorierens: zum einen durch das weithin sichtbare steinerne Monument, zum anderen das Spiel als performative Aneignung. Die Struktur, nicht die Erscheinung des vergangenen Ereignisses werden aus zeitlicher und räumlicher Distanz als modellhafte Ordnung im Spiel leiblich vergegenwärtigt. Mit der Inkorporation der Schlachtordnung behauptet Turner die Bedeutung, die der Schlacht von Trafalgar selbst im Niemandsland der Provinz bei einfachen Leuten beigemessen wurde.

In Anselm Kiefers „Besetzungen“ und dem „Unternehmen Seelöwe“ gibt es zwar keine Monumente mehr, doch die Verkörperung und das Modell dienen auch hier der Vergegenwärtigung der Vergangenheit im Spiel. Sie besitzen nicht die Leichtigkeit, mit der Turner das Spiel aus dem Bewusstsein der Sieger inszenieren konnte. Im Gegenteil, Kiefer signalisiert in seinen Annäherungen an den NS – im Schwarz-weiß der Fotografien und in den düsteren Farben der Gemälde – die erdrückende Last der Auseinandersetzungen mit deutscher Geschichte. Doch wie Turner machen seine Bilder die Unanschaulichkeit von Geschichte und die Unwiederbringlichkeit des Vergangenen anschaulich. Damit gelingt die Herstellung größtmöglicher Distanz zum Dargestellten bei höchstmöglichem Affekt des künstlerischen Werks.

Monika Wagner studierte Malerei in Kassel, dann Kunstgeschichte, Archäologie und Literaturwissenschaft in Hamburg und London. Seit 1987 lehrt sie Kunstgeschichte an der Universität Hamburg.

Quelle: Recherche 2/2008

Online seit: 10. September 2019