Alarichs Truppen überfielen und plünderten im Jahre 410 christlicher Zeitrechnung die Stadt Rom, nach einigen übereinstimmenden Berichten aus jener Zeit geschah dies im Hochsommer, vermutlich am 24. August. Wahrscheinlich zogen die Truppen drei Tage später wieder ab. Archäologisch lässt sich dieses punktuelle Ereignis kaum bestätigen. Ob gar gebrandschatzt wurde, kann nicht genau festgestellt werden, und offenbar existiert auch kein einziger Grabstein, der auch nur einen Todesfall mit der ersten Eroberung Roms seit dem, ebenfalls mythenumrankten, Galliersturm beinahe acht Jahrhunderte zuvor (387 v. u. Z.) in Zusammenhang bringt.
Dies sind die schmalen Fakten, die offenbar die beiden Tübinger Historiker Mischa Meier (Altertum) und Steffen Patzold (Mittelalter) beim näheren Hinschauen in eine gewisse Unruhe versetzt haben. Denn wenn sie diesen Befund zur Historiografie über das Ereignis in Beziehung setzen, unter Einrechnung der Dinge, die sie – Jahrgang 1971 und 1972 – wohl selbst während ihrer Studienzeit darüber erfahren haben, müssten sie eher davon ausgehen, dass gerade Alarichs Handeln und Wandeln eine der bestdokumentierten Episoden der ausgehenden Antike sei. Also verfassten sie mit August 410 – Ein Kampf um Rom nicht das tausendste Werk über den Gotenfürsten Alarich oder die Völkerwanderungszeit – der Titel führt mithin ein wenig in die Irre –, sondern eine Monografie über die Literatur zu diesen Geschehnissen.
Augustinus berichtet
Dabei fällt auf, dass die ersten erhaltenen Berichte über die Plünderung Roms nicht von Geschichtsschreibern verfasst wurden, sondern von den beiden Kirchenvätern Hieronymus und Augustinus stammen. Beide waren zeitnahe an den Ereignissen, aber keine Augenzeugen. Hieronymus war von (christlichen) Gegenspielern aus Rom verdrängt worden, und hielt sich im Nahen Osten auf. Er verstarb um 420. Augustinus war um 410 in Nordafrika, seit geraumer Zeit Bischof der Christengemeinde von Hippo Regius nahe Karthago, wo er 430 starb. Beide zeigten wenig Interesse an den tatsächlichen Vorgängen in der (schon damals nur mehr nominellen) Hauptstadt des Imperium Romanum. Beide hatten vermutlich durch Freunde, Augustinus wohl auch durch stadtrömische Flüchtlinge, davon Kenntnis erhalten, benützten diese Nachrichten aber als Beispiele für Texte mit ganz anderen Intentionen als der Vermittlung von Ereignisgeschichte. Bei Hieronymus wurde dies zur Bestätigung seines bereits zuvor begonnen Lamentos über das nahende Ende der Welt, Augustinus schöpfte im Gegenteil Hoffnung, und ließ sich zu seinem Opus magnum, De civitate Dei (Über den Gottesstaat, von Meier und Patzold durchgehend „Über die Gottesstadt“ genannt) inspirieren. Beide flochten auch noch erbauliche Anekdoten über fromme, rechtgläubige Christen ein, Belagerung und Einnahme der Stadt wurden in ganz wenigen Sätzen abgehandelt. An Rom hatten beide keine angenehmen Erinnerungen, denn die einflussreiche Oberschicht der Stadt hatte sich trotz kaiserlicher Edikte und Gesetze noch kaum dem Christenglauben zugewandt.
Suchte man einen Schuldigen? Dutzende boten sich an.
Das Muster, so machen Meier und Patzold deutlich, zieht sich bis ins zwanzigste Jahrhundert weiter. Was im Jahre 410 geschehen ist, weiß man nicht so genau und kann man wohl auch nicht mehr herausfinden. Aber je nach Interessenlage wird die Geschichte, die für spätere Generationen – für die Zeitgenossen ja offenkundig nicht – einen Epochenbruch symbolisiert, immer wieder neu erfunden, ausgeschmückt, bereichert, werden andere Berichte in Zweifel gezogen und durch eigene ersetzt. Suchte man einen Schuldigen? Bitte sehr, Dutzende boten sich an: für die wenigen nichtchristlichen Schriftsteller (Zosimos als bekanntester sei hier erwähnt, Meier und Patzold fanden noch wenige weitere) waren es die Christen und die Barbaren, für die (der eigenen Ansicht nach rechtgläubigen) Christen waren es wahlweise die Heiden, die andersgläubigen Christen oder die eigenen Zweifel. Im sechsten Jahrhundert kommt dann verstärkt die These vom unfähigen, schwächlichen Herrscher dazu. Honorius, Kaiser im Westen des Reiches mit Sitz in Ravenna, Sohn des „Großen“ Theodosius, sei nur mehr Spielball seiner Eunuchen und Einflüsterer gewesen. Auch die Anekdote, er habe bei der Nachricht vom Fall von „Roma“ zuerst an sein Lieblingshaustier, einen Hahn gleichen Namens, gedacht, und deshalb bitterlich geweint, stammt aus dieser Zeit und lässt sich bei Prokopius (gestorben um 562) zuerst nachweisen. In ihrer Beliebtheit wetteifert diese Burleske nur mit den Legenden um den zum Bösewicht erkorenen Heermeister Stilicho, der zwar schon 408 wahrscheinlich aufgrund von Hofintrigen – auch in diesem Falle gibt es widersprüchliche Darstellungen – getötet worden war, aber zuvor Alarich betrügerischerweise lange Zeit nicht besiegt habe. In mancher Auslegung soll dann Alarich Rom gar aus Rache für Stilicho eingenommen und solchermaßen gestraft haben.
Köstliche Beispiele
Die beiden Autoren verfolgen den Weg von Alarich und der zweiten Eroberung Roms weiter durch die Jahrhunderte, präsentieren köstliche Beispiele bekannter und weniger bekannter Schriftsteller und Geschichtsschreiber – tatsächlich findet sich keine einzige Frau unter den herangezogenen Zeugen. Sie schildern amüsant die ebenfalls aus des Verfassers eigenem Interesse entsprungene Entstehung der Bezeichnung „Westgoten“ und „Ostgoten“ (beim Gelehrten Jordanes im sechsten Jahrhundert erstmals parallel nachzuweisen), und verfolgen auch diese Begriffsgeschichte bis in jüngste Debatten des beginnenden 21. Jahrhunderts – als Antagonisten werden hier Herwig Wolfram und Michael Kulikowski genannt.
All dies gelingt ihnen ohne eine einzige Fußnote oder Anmerkung. Nach einer strengen Auslegung der Regeln der Historikerzunft dürfte man deshalb von keinem wissenschaftlichen Buch sprechen. Im besten Sinne des Wortes handelt es sich bei August 410 – Ein Kampf um Rom aber um ein populärwissenschaftliches Werk: Es gibt Nicht-Geschichtswissenschaftlern einen Einblick in die Arbeitsweise der Forscher. Und diesen wiederum beweist es zur klammheimlichen Freude, dass Fachkollegen in einem eher umgangssprachlichen, flotten Stil vor Flüchtigkeitsfehlern nicht gefeit sind. Dem römischen Kurzzeit-Kaiser Julian (360-363) als einzige Tat beinahe vorwurfsvoll anzukreiden, er habe sich vom Christentum abgewandt, wertet im Sinne einer Kirchengeschichtsschreibung. Als Lesebuch aber stellt dieses Werk eine Bereicherung dar, ist eine augenzwinkernde Streitschrift für mehr Aufmerksamkeit und weniger Autoritätsgläubigkeit.