Dieter E. Zimmer ist als Übersetzer und Herausgeber der Schriften von Vladimir Nabokov weithin bekannt. Während seine vorletzte Buchveröffentlichung (Wirbelsturm Lolita – Auskünfte zu einem epochalen Roman, 2008) der turbulenten Rezeptionsgeschichte jenes „Skandalbuchs“ gewidmet war, so wurde auch sein aktuelles Werk Ist Intelligenz erblich? – Eine Klarstellung (2012) von einem „Aufregerbuch“ provoziert – dem vieldiskutierten Bestseller Deutschland schafft sich ab von Thilo Sarrazin. Nach Ansicht Zimmers hat sich die heftige Debatte allerdings auf ein falsches Thema konzentriert, nämlich auf die darin vorgetragenen Auffassungen zur Erblichkeit von Intelligenz. Diese Kritik liefe aber, so Zimmer, dem Stand der Wissenschaft zuwider, und seine Klarstellung solle – „ohne Ranken- und Schnörkelwerk“ – darlegen, wie die zuständigen Wissenschaftsdisziplinen in den letzten 30 Jahren zum Schluss gekommen sind, dass individuelle Unterschiede im Intelligenzquotienten in erheblichem Ausmaß erblich sind.
Signifikante Korrelation
Zimmer, der sich selbst offen als „Naturalist“ deklariert, spannt einen weiten Bogen, in dem er einen Überblick über die Geschichte der Intelligenzforschung liefert, ihre wichtigsten Methoden vorstellt und sich mit wesentlichen Einwänden auseinandersetzt. Auf eine einfache Formel gebracht, lassen sich die zentralen Aussagen dieser Forschungsrichtung auf eine simple Beobachtung zurückführen: Die Korrelation der Ergebnisse von Intelligenz-Tests hängt in signifikanter Weise vom Verwandtschaftsgrad der Probanden ab. Um aus dieser Beobachtung auf die Erblichkeit von Intelligenz rückschließen zu können, müssen allerdings zumindest zwei Voraussetzungen erfüllt sein. Erstens, dass die IQ-Tests tatsächlich etwas mit Intelligenz zu tun haben, und zweitens, dass die Analyse von Verwandtschaftsverhältnissen eine saubere Trennung in Erb- und Umweltfaktoren zulässt.
Was den ersten Punkt anlangt, so legt Zimmer dar, dass IQ-Tests zwar keine Wundermittel sind, aber doch in zufriedenstellender Weise Fertigkeiten wie abstraktes Denkvermögen, Problemlösungsfähigkeit und die Fähigkeit zum Wissenserwerb messen. IQ-Tests liefern über lange Zeiträume überraschend konsistente Ergebnisse und sie besitzen auch prognostische Kraft für spätere schulische und berufliche Erfolge.
In der Zusammenschau zeigt sich, dass getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge sehr ähnliche Intelligenzquotienten haben.
Im zentralen siebenten Kapitel des Buches wendet sich Zimmer dann der Methode der Erblichkeitsberechnung zu, wie sie im Feld der Verhaltensgenetik Verwendung findet. Dabei spielt Genetik im Übrigen nur eine periphere Rolle, und im Zentrum steht das statistische Verfahren der „Varianzzerlegung“, bei der versucht wird, die Korrelation der Ergebnisse von Intelligenztests von zueinander in unterschiedlichen Verwandtschaftsverhältnissen stehenden Personen, in einen erblichen („nature“) und einen umweltbezogenen („nurture“) Teil aufzuspalten. Die größte Herausforderung ist dabei freilich, dass sich diese beiden Faktoren zumeist nicht einfach trennen lassen, da etwa gemeinsam aufwachsende Geschwister durch Ähnlichkeiten in ihrer genetischen Grundausstattung wie auch in ihren Umweltbedingungen gekennzeichnet sind. Dieser Schwierigkeit versuchte man in der wissenschaftlichen Arbeit dadurch zu begegnen, dass man nach „natürlichen Experimenten“ Ausschau gehalten hat. Insbesondere Adoptionsstudien (die Unterschiede von leiblichen und adoptierten Geschwistern analysieren) und Zwillingsstudien (bei denen Unterschiede von eineiigen und zweieiigen Zwillingen im Blickpunkt stehen) liefern hierbei wertvolles Datenmaterial. Der Königsweg dieser Forschung kann dann beschritten werden, wenn man ein Sample von eineiigen Zwillingen zur Verfügung hat, die nach ihrer Geburt getrennt wurden und – ohne Kontakt zueinander zu halten – in unterschiedlichen Familien aufgewachsen sind. Fallen die Testergebnisse solcher Zwillingspaare sehr unterschiedlich aus, so liegt der Schluss nahe, dass Gene keine allzu große Rolle spielen. Zeigen sie hingegen trotz der unterschiedlichen Lebensumstände einen hohen Grad an Übereinstimmung, so würde das auf eine maßgebliche genetische Komponente hinweisen. Tatsächlich gibt es auch eine Anzahl an Studien, die auf solche seltenen Fälle zurückgreifen können. In der Zusammenschau der Ergebnisse zeigt sich, dass getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge sehr ähnliche Intelligenzquotienten besitzen, dass die Testergebnisse zusammen aufgewachsener eineiiger Zwillinge ähnlicher sind als jene zusammen aufgewachsener zweieiiger und dass sich biologische Geschwister stärker gleichen als Adoptivgeschwister. Zimmer fasst die Resultate dieser umfangreichen Literatur in unmissverständlichen Worten zusammen: „Es ist so robust erwiesen, wie etwas in den Naturwissenschaften überhaupt erwiesen sein kann, dass die Unterschiede in der von IQ-Tests gemessenen Intelligenz bei Erwachsenen zu mindestens 60 bis 75, bei Kindern zu 40 Prozent auf Unterschiede im Genotyp zurückgehen“.
Probleme der „popular science“
Die Einmütigkeit der Wissenschaft ist allerdings nicht durchwegs so groß, wie es die Darlegung Zimmers manchmal erscheinen lässt. Die Kontroversen beginnen damit, dass der soeben skizzierte Schritt von Korrelationen zu Erblichkeitsmaßen nur unter bestimmten Annahmen Gültigkeit hat, die nicht unumstritten sind. Zimmer setzt sich auch mit diesen Einwänden auseinander und stellt dabei fest, dass die wichtigsten Ergebnisse auch einer gründlicheren und allerlei Komplexitäten Rechnung tragenden Analyse standhalten. Aber selbst wenn man dieser Lesart der einschlägigen Literatur beipflichtet, so tut sich hier ein weiteres Problem auf, dem sich jedes „popular science-“ Buch zu diesem Thema stellen muss.
Die lapidaren und in plakative Prozentzahlen zusammengefassten Ergebnisse der Erblichkeitsforschung lassen nur allzu leicht sowohl die zahlreichen Annahmen, auf denen ihre Berechnung aufbaut, wie auch ihre zugrundeliegende Definition (als Anteil der erklärten Varianz bezüglich eines bestimmten Samples) vergessen. Die Rhetorik von Erblichkeitsmaßen lädt zu Missdeutungen und Fehlschlüssen geradezu ein und scheint somit an dem Schindluder, der mit manchen Ergebnissen getrieben wurde und wird, nicht gänzlich unschuldig zu sein. Um dem entgegenzuwirken, hat Zimmer am Ende von Kapitel 7 auch eine längere Liste eingefügt, in der festgehalten wird, welche Implikationen in den Ergebnissen gerade nicht enthalten sind. So ist etwa die Feststellung, dass Intelligenz zu 75 Prozent erblich ist, einzig und alleine eine Aussage über das Kollektiv, aus der man nicht folgern darf, dass ein einzelnes Individuum drei Viertel seiner Intelligenz den eigenen Genen verdankt. Bei der Lektüre dieser Passagen drängt sich allerdings der Verdacht auf, dass die Unterscheidung in korrekte und irrige Schlüsse erschwert wird, wenn der Leser mit den statistischen Grundlagen der Methodik nicht vertraut ist. Zimmer ist sich dieser Schwierigkeit durchaus bewusst, wenn er zu Beginn des Buches bemerkt, dass die Verhaltensgenetik ohne einige statistische Konzepte nicht auskommt. Wer darüber „nichts weiß und nichts wissen will […], sollte gar nicht weiterlesen, sich dann aber fairerweise auch aus der Diskussion heraushalten“. Andererseits aber möchte Zimmer das Buch frei von Formeln halten und skizziert nur in einem Annex einige fundamentale Grundbegriffe. Das verschafft dem Buch sicherlich eine höhere (potenzielle) Leserschaft, erschwert aber zugleich dem interessierten und statistisch versierteren Leser ein wirkliches Verständnis der Methoden.
Auf tatsächlich gefährliches Gelände gerät dieses Forschungsgebiet freilich dort, wo das Thema der Erblichkeit von Intelligenz mit Aussagen über Testergebnisse unterschiedlicher sozialer, kultureller und ethnischer Gruppen verquickt wird. Selbst wenn Intelligenz einen hohen Grad an Erblichkeit aufweist, so besagt das eben nicht, dass auch Gruppenunterschiede einen genetischen Ursprung besitzen. Dieser Schluss käme einem jener oben erwähnten verführerischen Non-Sequiturs gleich. Dennoch mag Zimmer die Diskussion dieser Aspekte nicht ausblenden, auch wenn er das diesbezügliche Kapitel mit der Überschrift „Heikel, heikler, am heikelsten“ versieht. Er wählt einen Kompromiss („Ich fand, dass ein Deutscher Grund hat, sich in dieser Frage zurückzuhalten“), indem er den gesamten Abschnitt nur aus (teils konkurrierenden) Zitaten etablierter Wissenschaftler zusammenstellt. Ein ungewöhnlicher Zugang, der auch nur deswegen einigermaßen funktioniert, weil er doch immer wieder von längeren kommentierenden Einschüben des Autors begleitet wird.
Förderung aussichtslos?
Zuletzt gilt es auch das Thema der Politikempfehlungen zu erwähnen, bei welchem man sich ebenfalls vor voreiligen Schlüssen und Fehlinterpretationen hüten muss. Schon in frühen skandalträchtigen Veröffentlichungen zu diesem Sujet wurde manchmal der Schluss gezogen, dass die große Erblichkeit der Intelligenz impliziert, dass besondere Bildungsmaßnahmen für benachteiligte Gruppen von vorneherein aussichtlos sind und eine Geldverschwendung darstellen. Zimmer referiert auch diese Debatte und er stellt die (großteils eher bescheidenen) Resultate einer Reihe von bildungspolitischen Unterstützungsprogrammen vor, die seit den 1960er-Jahren in den USA initiiert wurden. In diesem Bereich weist das Buch allerdings die größten Lücken auf. Schon ein Blick auf das ansonsten sehr umfangreiche Literaturverzeichnis zeigt, dass die einschlägige wirtschaftswissenschaftliche Forschung fast vollständig vernachlässigt wurde.1 Das ist aber aus drei Gründen bedauerlich. Erstens hat sich die Ökonomie ebenfalls ausgiebig mit Fragen der intergenerationalen Transmission von Bildung und Einkommen auseinandergesetzt und dafür im Übrigen auch öfters auf Adoptions- und Zwillingsstudien zurückgegriffen. Zweitens hat sie dafür typischerweise andere Methoden zum Einsatz gebracht, die einen aufschlussreichen Kontrast zum Instrumentarium der Verhaltensgenetik darstellen. Insbesondere hat man in der ökonomischen Literatur versucht, tatsächliche kausale Effekte von Bildungsinterventionen und Arbeitsmarktmaßnahmen herauszufiltern. Während sich die verhaltensgenetische Varianzzerlegung stets auf eine gegebene Umwelt- und Bildungsstruktur bezieht, erlauben diese regressionsbasierten Methoden auch eine Abschätzung des Erfolgspotenzials neuer Maßnahmen. Drittens liegt der Fokus dabei auch auf einer Kosten-Nutzen-Analyse möglicher Eingriffe und man geht nicht der Frage nach, was bei einer rein hypothetischen Veränderung der Intelligenzverteilung passieren würde, sondern untersucht die Effekte tatsächlich gestalt- und beeinflussbarer Größen. Daher stehen hier auch stärker sozial relevante Variablen wie Bildung und Einkommen im Mittelpunkt des Interesses, während der abstrakte Begriff der Intelligenz weniger Beachtung findet. Die Ergebnisse dieser Literatur sind zumeist ambivalenter und legen nahe, dass Bildung und Einkommen zu annähernd gleichen Teilen durch genetische und umweltbedingte Faktoren beeinflusst werden. Eine Diskussion dieser Resultate hätte zwar die Bestimmtheit der Botschaften in Zimmers Buch etwas abgeschwächt, aber zugleich ein kompletteres Bild des Forschungsstandes geliefert. Aber auch ohne diese Zugaben bietet das Buch eine spannende Lektüre zu einem wichtigen Thema, das wohl immer die Gemüter erregen und für hitzige wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Debatten sorgen wird.
Anmerkung
1 Ein Überblicksartikel dieser Literatur sei hier stellvertretend angeführt: Bruce Sacerdote, „Nature and Nurture Effects On Children’s Outcomes: What Have We Learned From Studies of Twins And Adoptees“, in: Handbook of Social Economics, Volume 1, Issue: 11, 2011, S. 1-30.