Am Morgen des 8. Oktober 1809 versuchte der junge deutsche Kaufmannsgehilfe Friedrich Stapß den Kaiser Napoleon, der vor Schloss Schönbrunn eine Truppenparade abhielt, mit einem Küchenmesser zu töten. Nur noch wenige Schritte von seinem Opfer entfernt, wurde Stapß vom General Berthier angehalten. Das Benehmen des jungen Mannes, der vorgab, Napoleon persönlich eine Bittschrift überreichen zu wollen, war so verdächtig, dass er von Napoleons Wächtern durchsucht wurde. Da fand man das in Zeitungspapier eingewickelte Küchenmesser. Rasch gab der junge Mann zu, dass er damit den Kaiser erstechen wollte. Als Napoleon darüber unterricht wurde, ließ er seinen gescheiterten Mörder zu sich kommen und verhörte ihn persönlich. Er fragte ihn, ob er einer Verschwörung angehörte, er fragte ihn, ob er verrückt sei, er fragte ihn, welche Bücher er gelesen hatte. Stapß betonte, dass er sich ganz allein zu der Tat entschlossen habe, und er bedauerte im Angesicht des Kaisers mehrfach, dass ihm das Attentat misslungen sei. So nahm er auch das Gnadenangebot Napoleons nicht an, der ihm die Todesstrafe erlassen wollte, wenn er die Tat ausdrücklich bereute. Stapß stand aufrechten Hauptes vor dem Erschießungskommando, das am 16. Oktober das Urteil eines Kriegsgerichts vollstreckte.
Der Attentatsversuch von Friedrich Stapß ist wenig bekannt. Das liegt auch daran, dass die französischen Behörden im Auftrag Napoleons gleich dafür gesorgt hatten, dass die Sache geheim blieb. Einen Literaturwissenschaftler wie mich reizt an dieser Geschichte natürlich die Tatsache, dass der Kaiser Napoleon dem jungen Kaufmann Stapß die gleiche Frage stellte, mit der ich meine Studierenden im Examen verhöre: „Welche Bücher haben Sie gelesen?“ Vermutlich hatte Stapß, obgleich er das zunächst leugnete, auch mehr gelesen als die meisten meiner Studenten. Aber dass Attentäter Leser sind, ist bekannt. Vielleicht ist das sogar der Mythos des Attentats. Bereits im 17. Jahrhundert waren sich die Theoretiker und Historiker des Königsmordes sicher, dass die Attentäter zu viele Bücher und auch die falschen Bücher gelesen hatten. Shakespeares Julius Caesar erkennt bereits die Tatneigung seines künftigen Mörders Cassius, wenn er sagt: „He reads much“. Und auch Thomas Hobbes beklagt in seiner Abhandlung On the human Beeing von 1658, dass das Lesen der klassischen Schriften von Aristoteles und Cicero die Bürger verdorben habe:
„[…] Der rechte Sinn des Volkes wird bis auf unsere Zeit durch das Lesen von Büchern verdorben […]. Die Folge ist, dass die Cassiusse und Brutusse durch die Ravaillacs und Cléments ersetzt worden sind, die Gott zu dienen glaubten, indem sie durch Ermordung ihrer Könige dem Ehrgeiz anderer dienten.“1
Seit Shakespeare und Hobbes fehlt in keinem Verhör eines Attentäters die Frage nach den Lektüren. Es läuft eine gleichförmige, nervöse Reaktion ab, wenn die Staatsmächte des Westens nach solchen Anschlägen behaupten, dass die Täter als fleischerne Lektüren und als Vikare von Buchstabenpäpsten mordeten. Das Attentat gilt bis ins 19. Jahrhundert hinein als katastrophale Konfrontation zweier Bibliotheken, der falschen Bibliothek, der Ravaillac-Bibliothek auf der einen Seite, und der Bibliothek des Königsleibes auf der anderen Seite. Denn der Körper des Königs heißt nach einer traditionsreichen Formel römischer Juristen der Schrein aller Gesetzesbücher: „dicitur rex habere omnia iura in scrinio pectoris suo“.2 Bei einem Attentat duellieren sich ein König und ein Mörder, eine gute und eine böse Bibliothek, ein Staat aus gerechten Gesetzen und eine Republik aus Königsmörderbüchern. Die vier Pferde, die die Königsmörder Clément und Ravaillac vierteilten, zerrissen jedes Mal einen mit falschen Lektüren gemästeten Attentäterkörper. Die Hinrichtung des Attentäters erfolgt daher als feierliche Einäscherung einer im Mörder inkorporierten Bibliothek. Bibliotheken sind im 17. und 18. Jahrhundert noch Inbegriff schwer kontrollierbarer Macht. Das spricht aus der von Leibniz niedergelegten Prognose über das exponentielle Wachstum des Wissens. Leibniz schätzte, dass in tausend Jahren die Bibliotheken das Ausmaß von Staaten haben würden.3 Das Duell zwischen Attentäter und König ist also ein Krieg, ein Duell zwischen einem virtuellen Bibliotheksstaat und dem Königsstaat. Im Bibliotheksleib des Attentäters verbirgt sich eine Republik aus falschen Büchern, und bei der Hinrichtung geht eine alexandrinische Bibliothek in Flammen auf.
Dass Attentäter Leser sind, ist bekannt. Vielleicht ist das sogar der Mythos des Attentats.
Jenseits dieser Mythologie der Attentäterlektüren lässt sich allerdings die Frage stellen, wie es mit den Lektüren der Attentäter bestellt ist. Denn gelesen werden ja nicht nur Bücher, sondern auch andere Zeichen. Stapß hatte in einem Verhör, das der französische Polizeikommissar mit ihm führte, zugegeben, dass er Schiller, Voltaire und die Weltgeschichte für Kinder von Matthias Schroeckh gelesen habe. Vor allem aber sagte er, dass ihn die Tragödien gelehrt hätten, ohne Furcht in den Tod zu gehen. Und im Abschiedsbrief an seine Eltern hatte er betont, dass es die Stimme des Herrn selbst gewesen sei, die ihn aufgefordert hätte, sein Vaterland zu befreien:
„[…] ich [bat] Gott, mir Mittel zu geben, mein Vorhaben ausführen zu können: da wurde es mir so hell vor Augen, mir war es, als säh ich Gott in seiner Majestät, der mit donnerähnlichen Worten zu mir sprach: gehe hin und thue, was du dir vorgenommen hast, ich will dich leiten, dir behülflich sein; du wirst diesen Zweck erreichen, doch dein Leben zum Opfer bringen müssen […].“4
Das hört sich ganz und gar nach Schillers Jungfrau von Orléans an. Aber der Wunsch und der Plan, den Kaiser zu ermorden, bestanden schon vorher. Stapß betrachtete Napoleon als Verhängnis für sein Vaterland. Er sagte dem Kaiser beim Verhör noch ins Gesicht: „Es ist meine feste innere Überzeugung, dass ich, indem ich Sie töte, meinem Vaterlande und Europa einen großen Dienst erweisen würde.“ Stapß hatte sich entschlossen, selbst als das Fatum aufzutreten, das das Weltverhängnis namens Napoleon beseitigen würde. Diese Überzeugung erwuchs dem Sohn eines Pfarrers aus der Montage und Interpretation von Zeichen, die er aus Religion, Literatur, Zeitung bezogen hatte. Napoleons Frage nach den Lektüren war also nicht falsch. Aber sie ging von falschen Voraussetzungen aus: Stapß hatte keine politischen Traktate gelesen, er war nicht, wie Hobbes vermutete, durch Aristoteles- und Cicero-Lektüre zum vermeintlichen Tyrannenmord angestachelt worden; vielmehr waren es Lektüren von Zeichen, die er selbst zu einer Interpretation zusammengefügt hatte, die nun eine tiefe Überzeugung begründeten, die eben auch den Tod in Kauf nimmt. Die Geschichte des Attentats ist eine solche Historie von unerschütterlichen Überzeugungen. Sie ist aber zugleich die Geschichte eines Zusammenpralls von Überzeugungen, die der Attentäter wie auch sein Opfer haben: die Überzeugung, eine welthistorische Wende herbeiführen zu müssen. Caesar und Brutus, Jean Paul Marat und Charlottes Corday, Napoleon und Stapß, der deutsche Dichter August von Kotzebue und sein Mörder Karl-Ludwig Sand, Präsident Abraham Lincoln und John Wilkes Booth, Bismarck und der Student Ferdinand Cohen-Blind: Stets treten die beiden ungleichen Duellanten mit dem Anspruch auf, eine welthistorische Entscheidung zu treffen.
Das ist die Paranoia. Überall wo Gewissheiten im Spiele sind, die keinen Zweifel dulden und die eine Wette auf den Tod eingehen, da sind die Kräfte der Paranoia aktiv. Die Paranoia ist kein Wahnsinn, sondern eine unerschütterliche Überzeugung, die aus Interpretationen erwächst. Das ist der Grund, warum wir Literaturwissenschaftler zuständig sind.
Wie arbeitet der Betrieb der paranoischen Interpretation? Wie haben Philosophen, Psychiater, Schriftsteller und Physiologen ihren Mechanismus, wie Freud sagen wird, erklärt?5 Was ergibt der Blick in die Akten von Herrschern, Kranken, Attentätern, Philosophen, Literaten, die mit ihrer unerschütterlichen paranoischen Interpretation in den Krieg, in die Literatur oder in die Irrenhäuser einzogen? Die paranoische Vernunft aller dieser Männer, sofern ihre Leistungen nicht allein auf Krankenblättern niedergelegt werden, spricht als eine zumeist welthistorisch ausgerichtete und im Erfolgsfalle militärisch, politisch und philosophisch wirksame Macht der Interpretation. Die Paranoia ist eine Interpretation, und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Interpreten die Welt mitdrehen: Die Propheten, Jesus, die Päpste, Luther, Marx, Lenin waren Interpreten. Solchen Interpretationen folgen Taten. Und wer als Herrscher, Mörder, Denker oder Dichter historisch nachhaltige Taten vollbringen will, der erhebt das Schwert nicht gegen den ersten besten Nebenmann, sondern gegen gewaltige Feinde, und der glaubt Götter, Völker, Weltgeister an seiner Seite. Wer aber ist Freund, wer ist Feind? Wer hilft hier zu unterscheiden? Um sicher zu gehen, entziffert die paranoische Interpretation Kleinigkeiten und winzige Zufallsereignisse als Winke feindlicher wie freundlicher Kräfte. So abwegig und verrückt ihre Deutungen auch ausfallen können, diese Interpretation verfährt stets in hohem Maße selbstgewiss und methodisch: Sie weiß von keinem Zweifel, sie erkennt keinen Zufall, sie versieht die Zeichen und Erfahrungen, die sie deutet, mit monotonen Ursachen. Das gilt für ihre kleinen wie großen Formen.
Bereits im 17. Jahrhundert waren sich die Theoretiker des Königsmordes sicher, dass die Attentäter zu viele Bücher und auch die falschen Bücher gelesen hatten.
Die historischen und politischen Helden betrachten sich als Gesandte des Himmels und deuten ihre Siege als Orakel der Welthistorie; hingegen fühlte sich der kleine Senatspräsident Schreber von Gott persönlich verfolgt und zur Erlösung der Menschheit bestimmt; der Attentäter Stapß opferte sich in der Überzeugung, im Einklang mit dem Willen des obersten Herrn zu handeln. Der preußische Kanzler Bismarck, der im Mai 1866 fünf Pistolenschüsse überlebte, fühlte sich nun als „Gottes auserwähltes Rüstzeug“. Die aktive und passive Paranoia, nämlich der politische Weltherrscher und der philosophische Universaldenker, können auch zusammenarbeiten, wenn Hegel den aus Jena heraus reitenden Kaiser Napoleon mit einer „wunderbaren Empfindung“ erblickte und zur „Weltseele“ erhob.6 Nietzsche fühlte sich selbst als Reinkarnation Caesars und Napoleons, der Massenmörder und Hauptlehrer Ernst Wagner betrachtete sich selbst als den einzigen Mann, der Präsident des Deutschen Reiches werden sollte. Die Paranoia folgt keinen momentanen Eingebungen. Was ihr so feste Überzeugungen eingibt und was sie zur Tat treibt, das hat sie mit ungeheurer Geduld und unvergleichlichem Scharfsinn aus dem Rauschen der Dinge herausgefiltert. Niemals sind ihre Gründe trivial. Sie sind stets imposant, gefährlich, riskant, und dieses imposante Format der Gründe für ihr Tun rührt daher, dass für sie Ungeheuerliches auf dem Spiel steht: Reiche, Herrschaften, Gott, Weltordnungen, die Wahrheit selbst.
Wie aber arbeitet die paranoische Vernunft, wie kommt sie zu ihrer Erkenntnis und zu ihrem Wahn? Denkt die Paranoia der Politik ganz wie die der Philosophen? Lässt sich vielleicht eine vernünftige Paranoia der Herrscher, Helden und Meisterphilosophen von einer unvernünftigen Paranoia der Attentäter und Attentatsphilosophen unterscheiden? Gehören also Caesar, Napoleon und Hegel in eine andere Abteilung als Brutus, Caligula, Stapß, Nietzsche und Schreber? Es gilt also die Betriebsarten der Paranoia genauer und in verschiedener Sicht zu beschreiben, ihre Gestalten und Intensitäten, die Skala ihrer Leistungen zu unterscheiden. Da mit der Paranoia eine Nebenform der Vernunft befragt wird, soll die Hilfe des größten Theoretikers der Vernunft, nämlich Immanuel Kants, in Anspruch genommen werden.
Als Kant den kleinen, in der Psychiatrie unvergessenen7 Abschnitt über den Verfolgungswahn in seiner Anthropologie schrieb, da formulierte er eine philosophische Theorie der „rasenden Vernunft“.8 Die Symptome der Paranoia bezeichnete er als eine „methodische“ Verrücktheit. Sie ist zwar eine Störung des Gemütes, also des Seelen- und Verstandesapparates; ungeachtet dessen denkt die Paranoia den Gesetzen der Logik gemäß. Daher ist sie kein Ausfall, kein Versagen, sondern eher eine Überfunktion, eine Hypervernunft. Sie arbeitet richtig, sogar scharfsinnig, aber sie operiert mit den falschen Data. Die Paranoia versteht Kant als eine logische Maschine, die von den Sinnen mit falschen Informationen versorgt wird oder die selbst verrückte Ideen hervorbringt. Es besteht für ihn kein Zweifel darüber, dass die Untersuchung der Paranoia eine Aufgabe der Philosophie ist. Die Philosophen verwalten den Unterschied zwischen der richtigen und falschen Interpretation der Welt. Das entspricht der Ordnung der Dinge in seiner Zeit. Im 18. Jahrhundert fällt die paranoische Vernunft in die Zuständigkeit der Philosophen, im 19. Jahrhundert kümmern sich die Psychiater um sie, im darauf folgenden Jahrhundert gehört die Paranoia der Literatur und Kunst, und im 21. machen sich die Hirnphysiologen über sie her. Alle vier Disziplinen, das ist nun das Interessante, sind selbst scharfsinnige, aufgeklärte und tendenziell überholte Gestalten der Paranoia. Über die Psychiatrie sagt Lacan: „(…) qu’il n’y a pas de discours de la folie plus manifeste et plus sensible que celui des psychiatres, et plus précisément sur le sujet paranoïa“9, und das heißt: Gerade wenn es um die Paranoia geht, wird der psychiatrische Diskurs paranoisch. Damit wiederholt Lacan keineswegs den alten Witz vom verrückten Irrenarzt, sondern sagt ein richtiges Wort über eine Paradoxie der Erkenntnis. Denn nicht jede Wissenschaft und nicht jeder Wahnsinn, wohl aber die Paranoia ist eine radikale Gestalt der Vernunft. Mit einem Wort: Die Paranoia interpretiert sich selbst am besten. Dafür aber bedarf es einer Kritik.
Bibliotheken sind im 17. und 18. Jahrhundert noch Inbegriff schwer kontrollierbarer Macht.
Was aber ist diese Vernunft, die die Paranoia als ihre eigene extreme Gestalt hervorbringt? Worin sieht Kant die Funktion oder auch die paranoische Überfunktion der Vernunft? Kant spricht in mehrfacher Bedeutung von Vernunft. Da ist einmal die Vernunft im Allgemeinen, das Erkenntnisvermögen, das Verstand und Vernunft im engeren Sinne umfasst. Die Kritik der reinen Vernunft nennt diese Vernunft in ihrem Titel, denn das Werk kritisiert, und das heißt: es unterscheidet die verschiedenen Abteilungen und Zuständigkeiten in der Verwaltung des Erkennens. Im engeren Sinne ist Kants Vernunft eine spezifische Erkenntniskraft, die sich vom Verstand unterscheidet. Die Aufgabe dieser Vernunft besteht darin, den Verstand und seine Begriffe unter die Einheit allgemeiner Prinzipien und Ideen zu stellen. Dabei verfährt diese Vernunft einmal rein logisch, indem sie bestimmte Erkenntnisse, die ihr geliefert werden, in eine Einheit bringt. Eine solche logische Operation besteht etwa darin, die vielen sinnvollen Arrangements, die der Verstand in der Welt beobachtet, zu einem Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur überhaupt zusammenzufassen. Zum anderen aber liefert diese Vernunft aus eigener Kraft transzendentale Prinzipien. Ein solches Vernunftprinzip ist zum Beispiel der Grundsatz der Publizität in allen Angelegenheiten des Rechts.10 Die Vernunft ist ein Gerichtshof, sagt Kant, der Gerichtshof arbeitet nur verlässlich, wenn er alle Vernünfte an seiner Tätigkeit teilhaben lässt. Diese Prinzipien heißen transzendental, weil sie nicht aus der Erfahrung gezogen werden können, sondern ein eigenes Qualitätsprodukt dieses Betriebs der Vernunft bilden. Sie sind weder „Erdichtungen“ noch Hirngespinste, sondern eine für den Verstand notwendige Serviceleistung. Weniger abstrakt heißt dies, dass die Vernunft für die Produktion von Ideen zuständig ist. Solche Ideen heißen Gott, Freiheit, Demokratie oder Unsterblichkeit. Das sind Beispiele für Ideen, die die Vernunft in ihrem transzendenten oder, wie Kant auch gerne sagt, „überschwenglichen Gebrauch“ hervorbringt.11 Weder die Sinne noch der Verstand können Ideen produzieren, denn Ideen haben keinen Grund in der Erfahrung. Dieser „überschwängliche“ Vernunftgebrauch enthält daher auch Risiken. Denn die Vernunft neigt dazu, ihre Begriffe auf Erfahrung zu beziehen und wie im berühmten ontologischen Gottesbeweis aus dem Begriff oder der Idee Gottes einfach auf dessen Existenz zu schließen. Daher muss die Vernunft ihre eigene Neigung, solche Ideen ohne Prüfung auf Objekte zu beziehen, kritisch kontrollieren, indem sie konsequent „Selbsterkenntnis betreibt“.12 Das also tut die Kritik der reinen Vernunft. Kants Bestimmung der Vernunft als eines spezifischen Erkenntnisvermögens, das über die Erfahrung hinaus „notwendige Begriffe“ findet, „deren Gegenstand gleichwohl in keiner Erfahrung gegeben werden kann“13, enthält das Problem: Wie kann sicher gestellt werden, dass die Vernunft vernünftige und keine verrückten Prinzipien oder Ideen ausbrütet?
Die kritische Vernunft, die ihre diversen Vermögen, Abteilungen, Begriffe, Ideen, Grundsätze und die „unwandelbaren und evidenten Gesetze“ der Erkenntnis untersucht, setzt sich in ein Verhältnis zu sich selbst. Und sie tut das ausdrücklich, wie es in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft heißt, um unter anderem „der Schwärmerei und Aberglauben (…) die Wurzel“ abzuschneiden.14 Dass dies eine politische Aufgabe ist, betont Kant an gleicher Stelle, indem er den Regierungen empfiehlt, diese kritische Arbeit kräftig zu fördern. Politische Schwärmer sind für Regierungen nicht nur lästig, sondern als virtuelle Gewalttäter auch gefährlich. Was heißt nun Schwärmerei? Die anschaulichste Antwort gibt die Kritik der Urteilskraft, die sagt, dass die Schwärmerei „ein Wahn ist, über alle Grenzen der Sinnlichkeit hinaus etwas sehen, d. i. nach Grundsätzen träumen (mit Vernunft rasen) zu wollen.“15 Zur Entwurzelung solcher Schwärmerei muss die Vernunft daher das Rasen der Vernunft, die Paranoia, unterbinden. Dies ist aber überaus schwierig, weil „eben diese Vernunft vermittelst ihrer Ideen natürlicher Weise dialektisch wird, und dieser unvermeidliche Schein durch keine objektive und dogmatische Untersuchung der Sachen, sondern bloß durch subjektive Untersuchung, durch Untersuchung der Vernunft selbst, als einem Quell der Ideen, in Schranken gehalten werden kann.“16 Darin liegt die Paradoxie: Es ist die Natur der Vernunft, auch zu schwärmen, und es ist zugleich ihre Aufgabe, die Schwärmerei zu unterbinden. Aber wie verhindert diese Vernunft solche Überhitzung ihres Betriebes durch Schwärmerei, durch Überschwang oder Rasen?
Leibniz schätzte, dass in tausend Jahren die Bibliotheken das Ausmaß von Staaten haben würden.
Sie muss unterscheiden. Nimmt man ein Beispiel, das Kant selbst anführt, so stellt sich die Sache schon ein wenig deutlicher und zugleich schwieriger dar. Kant selbst hat für die Idee einer Verschwörung der Geschichte geschwärmt. In seiner Abhandlung von 1784 Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht entwickelt er den Gedanken, den er selbst eine „Lieblingsidee“ nennt, dass die Vorsehung im „planlosen Aggregat menschlicher Handlungen“ doch eine Ordnung verborgen haben könnte.17 Die Idee eines solchen Planes, der darauf hinausläuft, dass die Geschichte der „menschlichen Handlungen“ am Ende in eine friedliche Weltbürgergesellschaft einmündet, entspringt dem „überschwänglichen“ Service der Vernunft. Die Vernunft kommt auf solche Weise mit einer Idee dem Verstand zur Hilfe, der in der Geschichte nur Unsinn und Chaos findet. Wer vermag zu leugnen, dass es sich hier um Schwärmerei handelt? Die Idee einer friedlichen Weltgesellschaft ist vernünftig. Aber wenn sie zur Überzeugung oder gar zum fanatischen Glauben wird, dann mag sie rasend werden und vielleicht nach der Waffe greifen.
Kant hat diese Unschärfe zwischen Funktion und Überfunktion, zwischen Idee und Wahn klar erfasst und mehrfach auch theoretisch behandelt. Das Beispiel, das wir hier wählen, liegt ja nahe: Die Frage nach einer durch die Vorsehung in die Geschichte gelegten Ordnung. Diese Frage spielt zum Beispiel in den philosophischen Gegensatz zwischen Caesar und Brutus oder zwischen Napoleon und Friedrich Stapß hinein. Sie zwingt darüber nachzudenken, ob sich eine Geschichtsvernunft womöglich in Helden und Institutionen verkörpert oder ob solche Helden lediglich den planlosen Gang der Geschichte für Momente der Herrschaft unsichtbar werden lassen. Der Streit über diese Frage entspricht aber haargenau den beiden Funktionen der Vernunft, nämlich einerseits „überschwänglich“ zu denken und andererseits diesen Überschwang zu kontrollieren. Diesen alten Widerstreit zwischen Vernunft und Zufall in der Geschichte bearbeitete Kant als eine der vier „Antinomien der menschlichen Vernunft“. Alle diese Antinomien der reinen Vernunft lassen sich beschreiben als Satz und Gegensatz, als zwei Prinzipien, die einander einerseits ausschließen und doch nebeneinander bestehen können. Sie sind gleich vernünftig oder auch gleich unvernünftig. Sie sind gleich überschwänglich und gleich nüchtern. Das gilt zum Beispiel für die These, dass die Welt der Zeit und dem Raume nach einen Anfang hat; die Gegenthese besagt, dass die Welt nach Zeit und Raum unendlich ist. Kant listet in der Kritik der reinen Vernunft vier solcher Antinomien auf. Die für die Arbeit der paranoischen Vernunft erhebliche Antinomie lautet dort: „Satz: In der Reihe der Weltursachen ist irgend ein notwendig Wesen; Gegensatz: Es ist in ihr nichts notwendig, sondern in dieser Reihe ist alles zufällig.“ Satz und Gegensatz, bemerkt Kant dort weiter, können „durch gleich einleuchtende klare und unwiderstehliche Beweise dargetan werden.“18
Es ist nun die von diesen Antinomien ausgehende Unruhe, die nach Kants eigenem Eingeständnis seine kritische Denkanstrengung herausgefordert hat.19 Kants Lösung der Antinomie besteht nun darin, zwischen dem transzendentalen „Ding an sich“ und den Erscheinungen unter den Bedingungen von Raum und Zeit zu unterscheiden. Die Antinomie darf so zugespitzt werden, dass der ewige Dissens, der durch die Geschichte geht, der Streit, ob Sinn oder Nichtsinn, Plan oder Planlosigkeit, Vorsehung oder Zufall die Reihe der Ereignisse bestimmen, ein Dissens der Vernunft selbst ist.
Wenn Kant bemerkt, dass hier die Vernunft „über ihre eigenen Begriffe brütet“20, dann schließt dieses Brüten eben auch das Brüten der paranoischen Selbstinterpretation ein. Jedenfalls geht es sowohl in der Philosophie wie in der Psychiatrie wie auch in der Literatur jeweils um ein Selbstverhältnis der paranoischen Vernunft. In der Kritik der paranoischen Vernunft befasst sich die Vernunft mit sich selbst, dies allerdings nicht nur abstrakt und allgemein wie Kant (das auch), sondern an Beispielen aus der Attentats- und Verschwörungshistorie, in denen stets Fragen allerhöchster Bedeutung auf dem Spiel stehen: Leben, Tod, Macht, Gott, Menschheit, Weltuntergang. Die Paranoia verschreibt sich Fragen aus den höchsten Registern philosophischer Bedeutung. Vielleicht ist die Paranoia die Philosophie.
Man kommt also mit Kant nicht umhin, solche welthistorischen Interpretationen wie die Kants oder Hegels oder Marx’ und vieler anderer der Tätigkeit einer solchen paranoischen Vernunft zuzuschreiben. Was anderes als ein Wahnsinn ist der Gedanke, dass es eine Verschwörung der Vernunft gebe, die in einem langen welthistorischen Zug oder in einer durch die Zeit der Weltgeschichte gehenden Erziehung die Menschen zu Bürgern eines Weltstaates macht? Dies gilt umso mehr für die Interpretationen der Weltgeschichte, in denen sich Staatsmänner selbst als von der Vorsehung eingesetzt betrachten wie Caesar oder wie Napoleon oder wie Bismarck. Oder wie Nietzsche oder Schreber oder der erwähnte Ernst Wagner, die anders als die erwähnten Staatsmänner im Irrsinn endeten. Die Paranoia, die politisch erfolglos ist, endet in der Klinik.
Es ist nun interessant, dass Heinrich Heine Immanuel Kant so gelesen hat, dass er ihn zu den Attentätern zählte. Man kann auch dadurch zum Attentäter werden, dass jemand falsch liest. In seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland von 1835 bringt Heine Kants Attentat auf Gott in einen Zusammenhang mit dem Ende König Ludwigs XVI. unter der Guillotine. Seiner Ansicht nach war Kants Waffe, die den vernichtenden Schlag führte, die Kritik der reinen Vernunft:
„(…) Immanuel Kant hat (…) den Himmel gestürmt, er hat die ganze Besatzung über die Klinge springen lassen, der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blute, es gibt jetzt keine Allbarmherzigkeit mehr, keine Vatergüte, keine jenseitige Belohnung für diesseitige Enthaltsamkeit, die Unsterblichkeit der Seele liegt in den letzten Zügen (…).“21
Heine bezieht sich auf Kants Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises in der Kritik der reinen Vernunft. Sie liest er als Gottesmord. Als regulative Idee ist Gott gestürzt und wird zwischen den Antinomien zerrieben. Für Heine hat Kant die größte symbolische Handlung der Aufklärung vollbracht, als er Gott auf dem Papier guillotinierte. Das ist freilich eine ganz abwegige Lesart, um nicht zu sagen: Sie ist verrückt. Aber sie bewahrt sich dadurch vor dem Wahnsinn, dass sie sich als Literatur gibt. Der Gottesmord Kants ist ein literarischer Einfall.
Stapß hatte in einem Verhör, das der französische Polizeikommissar mit ihm führte, zugegeben, dass er Schiller, Voltaire und die Weltgeschichte für Kinder von Matthias Schroeckh gelesen habe.
Das scheint sich auch bei Nietzsche zu bestätigen. Das gleiche, ja vielleicht sogar noch gesteigerte Entsetzenden, das aus Heines Zeilen über Gottesmörder Kant hervortönt, spricht auch aus einem Absatz in Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft aus dem Jahre 1882. Es ist die kurze Passage mit der Überschrift „Der tolle Mensch“. Der tolle Mensch, so erzählt Nietzsche, eilte mit einer Laterne in der Hand am helllichten Tag auf den Marktplatz, um Gott zu suchen:
„Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ‚Ich suche Gott! Ich suche Gott!’- Da dort gerade Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der Eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der Andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrieen und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ‚Wohin ist Gott?‘ rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, – wer wischt diess Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse dieser Tat zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere That, – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!“22
Mit literarischen Mitteln wird hier zum Ausdruck gebracht, dass dieser Gottesmord die ganze Welt aus den Angeln gehoben hat. Nietzsche legt das Erschrecken und die Überhebung in den Mund eines Verrückten. Dieser Verrückte ist psychologisch dem Attentäter nachgebildet, die ganze Passage ist von Reminiszenzen an das Attentat auf Caesar durchzogen. Die astronomischen Zeichen, die vielen Messer, das Blut an den Händen, die Sühnefeiern und heiligen Spiele – all dies erzählt auch die Geschichte von Caesars Tod. Aber bleibt es dabei, dass diese Vision einer gottlos durchs All taumelnden Erde Literatur bleibt? Bleibt es dabei, dass nur in der Literatur die Gottesmörder an die Stelle des Getöteten rücken wollen? Dass sie, wenn auch schaudernd, für sich jene Größe fordern, die zuvor für die Heroen und Götter reserviert war.
Um hier nicht bei Allgemeinheiten stehen zu bleiben, soll Nietzsches Lebensgeschichte in Erinnerung gerufen werden. Sie zeigt in aller Klarheit, wie das Denken der paranoischen Vernunft den Denkenden in die Gottesposition emporhebt, die von den Philosophen und Schriftstellern des 18. und 19. Jahrhunderts leer geräumt wurde. Nietzsches eigener, wirklicher Wahnsinn Ende 1888 wird eine ähnliche Struktur aufweisen wie die Rede des „tollen Menschen“ aus der Fröhlichen Wissenschaft. Königsmord wie Gottesmord konzipieren die Täter als Rochade. Der Täter tritt an die Stelle des Opfers. Das Attentat vollzieht einen mörderischen oder auch nur gedankenmörderischen Tausch. Nachdem Nietzsche einen Brief an August Strindberg bereits als „Nietzsche Caesar“ unterschrieben hatte, legte er in einem seiner Briefe an Meta von Salis vom Januar 1889 die Vertauschung offen. Dort heißt es:
„Die Welt ist verklärt, denn Gott ist auf der Erde. Sehen Sie nicht, wie alle Himmel sich freuen? Ich habe eben Besitz ergriffen von meinem Reich, werfe den Papst ins Gefängnis und lasse Wilhelm, Bismarck und Stöcker erschießen. Der Gekreuzigte.“23
Hier spricht nicht einfach der private Affekt Nietzsches, der Papst, Kaiser Wilhelm und Bismarck verabscheute; es sprechen die Rohformeln der Attentats- oder Revolutionspolitik, es spricht der moderne paranoide Wahn, der die Macht zum Verschwinden bringen und sich selbst an deren Stelle setzen möchte. Wohlgemerkt nicht aus Anarchismus, um die Macht zu beseitigen, sondern weil diese Macht eine schlechte Macht ist, eine unzureichende, unverständige, repräsentationsunfähige, philosophisch unaufgeklärte Macht ist. Das ist aber noch längst nicht alles. Nietzsches letzte Attentatsphilosophie, seine intellektuelle Verschwörung gegen Bismarck und den Kaiser, seine Vorstellung, die Position seiner Attentatsopfer einzunehmen, sind beseelt vom Willen, alle Kontingenz auszulöschen. An die Stelle dieser Herrscher tritt nämlich ein Autor und Leser, der, wie Nietzsche sich in einem Brief an Heinrich Köselitz vom 20. März 1883 ausdrückte, mit „Vernunft rast“.24 Damit zitiert Nietzsche exakt die Bestimmung, die Kant seiner eben angeführten Anthropologie für den paranoischen Wahn, für die „falsch dichtende Einbildungskraft“ gab. Mit Kant gesprochen, rast die Vernunft vor allem bei denjenigen, „welche allerwärts Feinde um sich zu haben glauben; die alle Mienen, Worte oder sonstwie gleichgültige Handlungen andrer auf sich abgezielt, und als Schlingen betrachten, die ihnen gelegt werden.25“ Das ist der Wahn der totalen Adressierung. Die Paranoia denkt alle Zeichen an sie gerichtet, alle Zeichen tragen Bedeutung an sie heran. Sie ist immer gemeint. Die ganze Welt ist in ein konspiratives Komplott gegen sie oder für sie eingetreten. Negativ gesprochen, beginnt der paranoische Wahnsinn exakt dort, wo das Denken der Kontingenz endet.
Der Paranoiker ist nicht im Stande, Worte, Zeichen, Ereignisse als zufällig zu lesen. Gott oder die Vorsehung sprechen unablässig mit ihm und geben ihm ihre Absichten kund. Die späten Briefe und Schriften Nietzsches enthalten zahlreiche Formulierungen, die diesen Befund bestätigen. So schreibt Nietzsche am 8. Dezember 1888 an Strindberg: „Da es in meinem Leben keinen Zufall mehr gibt, so sind auch Sie kein Zufall.“ Nietzsche ist dieses „Rasen“ seiner Vernunft selbst aufgefallen. Am 22. Dezember 1888 gesteht er gegenüber Overbeck: „Fast jeder Brief, den ich jetzt schreibe, beginnt mit dem Satz, dass es keinen Zufall mehr gebe in meinem Leben.“26 Das ist zwar psychiatrisch auffällig, aber immer auch noch Philosophie. Mit dieser erklärten Unfähigkeit, noch irgendeinen Zufall in seinem Leben anzuerkennen, widerruft Nietzsche jene Lehre, die er im Abschnitt 203 von Jenseits von Gut und Böse der Welt erteilt hat: dass die Geschichte die „schauerliche Herrschaft des Unsinns und Zufalls“ ist. Und daneben lehrte auch Zarathustra, als er wie Moses neue Gesetzestafeln schreibt, die „Erlösung des Zufalls“. Wie aber kann Nietzsche diese Lehre widerrufen? Es gibt nur eine einzige Perspektive, in der kein Zufall zu walten scheint. Das ist die Perspektive Gottes und die Perspektive der Heroen.
Die Paranoia ist kein Wahnsinn, sondern eine unerschütterliche Überzeugung, die aus Interpretationen erwächst. Das ist der Grund, warum wir Literaturwissenschaftler zuständig sind.
Jeder Held steht als Beispiel dafür, wie Menschen gegen die Kontingenz der Welt mit dem Schwert in der Hand aufbegehren. Aber eben auch jeder Attentäter. Der historische Held und der Attentäter sind in dieser Hinsicht solidarisch: Caesar und Brutus sind Zwillinge. Aller ihr Wille, das Rad der Welt mit eigener Hand zu drehen, kommt aus der Vorstellung, dass der Held durch seine Gewalt auch Recht schafft. Das ist der Traum des Attentäters, der eine Verkörperung des Rechts angreift, um dann selbst dieses Recht zu verkörpern. Jeder Heldenname steht für diesen Aufstand gegen das Gesetz und gegen den Zufall, für den Aufstand gegen die absolute Grenze, die Menschen und Götter, die Menschen und auch tote Götter voneinander trennt. Daher schreibt Nietzsche an Jacob Burckhardt, der ja Caesar den „größten Sterblichen“ genannt hatte, in dem ebenso rasenden wie vernünftigen Brief vom 6. Januar 1898:
„Was unangenehm ist und meiner Bescheidenheit zusetzt, ist, dass im Grunde jeder Name in der Geschichte ich bin; auch mit den Kindern, die ich in die Welt gesetzt habe, steht es so, dass ich mit einigem Misstrauen erwäge, ob nicht Alle, die i n das ‚Reich Gottes‘ kommen, auch a u s Gott kommen.“27
Da läuft eine positive, geradezu beglückende Verschwörung der Weltgeschichte. Dieser großartige Wahnsinn aber legt die Logik, das vernünftige Rasen, einer solchen Attentatsidee vollständig offen. Sie stellt eine scharf umrissene Vorstellung dar. Denn immer erst im Nachhinein urteilt die Geschichte, ob dieses Rasen Wahnsinn oder heroische Vernunft war. Der Attentäter schließt wie der Caesar eine Wette mit der Geschichte ab. Wie verrückt war denn Alexander? Welcher Wahnsinn trug Caesar solche Macht ein? Welchem Irrenhaus war Napoleon entlaufen? Die Historie hat ihnen den Heldentitel gegeben. Und Nietzsches Attentate auf den Gekreuzigten? Von welchem Augenblick, von welchem Satz an waren seine literarischen Dolchhiebe verrückt?
Der Schrecken ist aber nur die Umkehrung der Bewunderung, der fatalen Bewunderung, die der historische Held genießt. Der Schrecken erschrickt über die Selbsterhebung des Attentäters in den Götterstand, der nach Pierre Legendre darin besteht, dass nach einer Formulierung des Codex Justianus der Mörder die Fata eines Menschen beschleunigt („fata properaverit“28). Wer in das Kontingenzregal der Götter eingreift, die über das Leben und das Ende eines Menschen Beschlüsse niedergelegt haben, erhebt sich selbst zum Fatum oder, wie Nietzsche in Ecce homo, seinem „Attentat auf zwei Jahrtausende Widernatur und Menschenschändung“29 sagt, er will „ein Schicksal“ sein.
Lassen Sie mich mit einer letzten Fallgeschichte schließen. Die Gegenfigur zum Attentäter, zum Gottesattentäter Nietzsche, der den Zufall aus der Welt räumen wollte, stellt ein Mann dar, der selbst Opfer eines Attentats, um nicht zu sagen: eines politischen Mordes wurde. Der deutsche Philosoph Theodor Lessing. Lessing wurde am 31. August 1933 im Auftrag des Leiters der SA Ernst Röhm ermordet. Warum? Lessing hatte im Jahre 1919 ein Buch mit dem Titel Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen veröffentlicht. Dieses Werk ist eine Polemik gegen Geschichtsphilosophie, oder gegen Geschichtswissenschaft, gegen die von Vico über Kant, Hegel, Marx gehende Geschichtsmetaphysik. Geschichte, so erklärt Lessing, existiert nicht als eine Tatsachenwissenschaft etwa wie andere Wissenschaften Tatsachen, Daten verarbeiten, sondern allein als Mythos, als Erzählung oder Poesie. Er hätte durchaus auch sagen können: Geschichtsphilosophie das ist „rasende Vernunft“. Lessing erkennt deutlich, dass es ein elementares intellektuelles Bedürfnis ist, den Zufall in Sinn, und das heißt ja: in Konspiration umzudeuten. Aber er macht auch deutlich, dass die moderne Informationsflut die geschichtsphilosophische Interpretation hervorbringt. Die lesenden Mörder Lessings haben den Autor dieses Buches umgebracht. Eine Armee, die wie die SA eben Adolf Hitler als einen von Gott gesandten Retter Deutschlands anbetete, war eine Philosophie, die die Sinnlosigkeit der Geschichte betonte, Blasphemie. Als weiteres Vergehen lasteten die lesenden Mörder ihrem Opfer einen Artikel im Prager Tageblatt vom März 1925 an, in dem Lessing davor gewarnt hatte, den General von Hindenburg zum neuen Reichspräsidenten zu wählen. Er bezeichnete Hindenburg als eine Null, als Zero, aber im Schlusssatz fügte er hinzu: „Leider zeigt die Geschichte, dass hinter einem Zero immer ein künftiger Nero verborgen steht.“30 Nie war eine geschichtsphilosophische Decodierung richtiger.
Was also kann die Kritik der paranoischen Vernunft zur Rettung der Welt beitragen? Die bescheidene Einsicht eines Philologen, dass korrekt gelesen werden muss und dass die Elimination des Zufalls zum Mord verleitet. In Europa kursiert neuerdings wieder ein Wort, das aus der übelsten Tradition deutscher Kulturwissenschaft stammt. Viele Politiker sehen sich allenthalben in Verlegenheit zu sagen, was Europa ist. Daher sagen sie gerne, dass Europa eine „Schicksalsgemeinschaft“ sei. Tatsächlich operiert der Begriff als Programm zur Ausschließung der Türkei aus Europa. Das Wort verdankt sich historisch der „rasenden Vernunft“ des Professors für Völkerkunde Leo Frobenius, der als Ethnologe und Phantast der „Kulturkreislehre“ nach 1919 zum Beraterkreis des abgedankten Kaisers Wilhelm II. zählte. Karriere aber machte der Begriff „Schicksalsgemeinschaft“ bei den Anstiftern des Mordes an Theodor Lessing, allen voran beim Reichsminister und Rassetheoretiker Alfred Rosenberg, der von der nordischen „Schicksalsgemeinschaft“ faselte. Ernst Jünger kritisierte das Wort im Geiste seiner Erfinder, indem er sagte, dass ja auch „Neger“ dieser Schicksalsgemeinschaft angehörten, weil sie wie die anderen Deutschen vom Beginn des Ersten Weltkriegs überrascht wurden. Jünger wollte daher lieber von „Blutgemeinschaft“ sprechen. Es ist nicht meine Absicht, hier noch einmal das Verbarium der Nazis zu desinfizieren. Vielmehr möchte ich sagen, dass Europa und das heißt: der Westen keine Schicksalsgemeinschaft sind, sondern eine Interpretationsgemeinschaft. Jedem politischen Mord geht eine Fehlinterpretation voraus: Die meisten politischen Attentäter lesen falsch.
Anmerkungen
1 Hobbes (1959), S. 40f.
2 Diese berühmte Formel entstammt dem Römischen Recht, wurde aber durch Papst Bonifacius VIII., der den Satz auf die kirchliche Autorität ummünzte, bekannt. Den Beleg liefert das Corpus Iuris Canonici. Hg von Emil Friedberg. Leipzig 1879-1881, Bd. 2, S. 937. Vgl. dazu Kantorowicz (1990), S. 51 Anm., sowie Legendre (1988) pass.
3 „Si mundus adhuc mille annos durabit, et tot libri, ut hodie conscribentur, vereor, ne e Bibliothecis integrae civitates fiant“ [„Wenn die Welt noch tausend Jahre währt, und so viele Bücher wie heute geschrieben werden, dann fürchte ich, daß aus den Bibliotheken ganze Staaten werden“] Gottfried Wilhelm Leibniz in: Otium Hannoveranum sive Miscellanae ex ore et schedis illustris viri piae memoriae G.G. Leibnitii. Hg. von Joachim Friedrich Feller. Leipzig 1718.
4 Staps (1843), S. 29f.
5 Freud (1999), S. 108f.
6 Hegel (1982), S.58.
7 Vgl. Magaro (1980), S. 151.
8 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Absicht. In: Kant ( 1980), Bd. 10, S. 530 (§ 49).
9 Lacan (1981), S. 28.
10 Immanuel Kant: Zum Ewigen Frieden. In: Kant (1980), Bd. 9, S. 244f.
11 Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können. In: Kant (1980), Bd. 5, S. 198.
12 Ebda.
13 Ebda.
14 Kant: Kritik der reinen Vernunft. In: Kant (1980), Bd. 3, S. 35.
15 Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Kant (1980), Bd. 8, S. 366.
16 Kant: Prolegomena (Anm. 11), S. 199f.
17 Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In: Kant (1980), Bd. 9, S. 48.
18 Kant: Prolegomena (Anm. 11), S. 212.
19 Ebda. S. 210.
20 Kant: Prolegomena (Anm. 11), S. 197.
21 Heine (1968-76), Bd. 3, S. 604.
22 Nietzsche (1980), Bd. 3, S. 480f.
23 Nietzsche (1986), Bd. 8, S. 572.
24 Nietzsche (1986), Bd. 6, S. 345.
25 Kant (1980), Bd. 12, S. 530 (§ 49).
26 Nietzsche (1986), Bd. 8, S. 508, 547.
27 Nietzsche (1986), Bd. 8, S. 578.
28 Legendre (1989/1998), S. 27.
29 Nietzsche (1980), Bd. 6, S. 313.
30 Beleg bei Marwedel (1987), S. 267.
Literatur
Corpus Iuris Canonici. Hg von Emil Friedberg. Leipzig 1879-1881.
Freud, Sigmund (1999): Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904. Hg. von Jeffrey Moussaieff Masson. Deutsche Fassung von Michael Schröter. Frankfurt am Main.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1982): Weltgeist zwischen Jena und Berlin. Briefe. Hg. und ausgewählt von Hartmut Zinser. Frankfurt am Main, Berlin, Wien.
Heine, Heinrich (1968ff.): Sämtliche Schriften. Hg. von Klaus Briegleb. München.
Hobbes, Thomas (1959): Vom Menschen. Vom Bürger (Elemente der Philosophie II/III). Eingeleitet u. hg. von Günter Gawlick. Hamburg.
Kant, Immanuel (1983): Werke in zehn Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Darmstadt.
Kantorowicz, Ernst H. (1990): Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München.
Lacan, Jacques (1981): Le séminaire. Livre III. Les psychoses. Paris.
Legendre, Pierre(1988): Le désir politique de Dieu: Etude sur les montages de l’État et du Droit. Paris. (Leçons VII).
Legendre, Pierre (1989/1998): Le crime du caporal Lortie. Traité sur le père. Paris. (Leçons VIII). Deutsche Übersetzung von Clemens Pornschlegel: P.L.: Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Abhandlung über den Vater. Freiburg i. Br. (Lektionen VIII).
Lessing, Theodor (1962): Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen oder die Geburt der Geschichte aus dem Mythos. Hamburg.
Magaro, Peter A. (1980): Cognition in Schizophrenia and Paranoia: The Integration of Cognitive Processes. Hillsday. New Jersey.
Nietzsche, Friedrich (1980): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München.
Nietzsche, Friedrich (1986): Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München.
[Staps, Gottlieb] (1843): Friedrich Staps. Erschossen zu Schönbrunn, bei Wien, auf Napoleons Befehl im October 1809. Eine Biographie aus den hinterlassenen Papieren seines Vaters M. Fr. Gottl. Staps, Prediger zu St. Othmar vor Naumburg. Nebst Zeugnissen der Zeitgenossen […]. Berlin.