Wozu Wirtschaftsforum? Wozu Chemiekartell? Wozu Kirche? Wozu Académie Française? Man stelle sich Werke mit diesen Titeln vor, man male sich die Legitimierungsprosa der Beiträge aus. Hinter Bedeutungserklärungen und Nützlichkeitsnachweisen wäre unweigerlich ein Zittern um Anerkennung und Ressourcen zu vermuten. Der Sammelband Wozu Literaturwissenschaft? erschien 1991; fünf Jahre später dann das Buch Wozu noch Literatur? – sie befragten wieder einmal grundsätzlich ein eigenes Tun, während andere Sparten in großer Selbstverständlichkeit vorgehen.
Harold Bloom, der seinerzeitige US-Star der Literaturbetrachtung, wusste 2002 mit Bestimmtheit: Jedes Werk, das „wir derzeit bejubeln“, lande sowieso im Papierkorb des weltliterarisch Ungenügenden. Und in den letzten Jahren erklärte Sigrid Löffler wiederholt, die Literaturkritik sei gewiss nunmehr am Ende. Karl Gutzkow hatte als bekannt vorausgesetzt, „daß es in Deutschland keine Kritik mehr gibt“ – das war 1843. Auch das Ende der großen Erzählung und der Tod des Autors wurden uns vor Jahrzehnten verkündet. Auf dem symbolischen Markt lassen sich mit Schlussansagen gute Abschlüsse erzielen.
Offenbar ist, um mit Bourdieu zu sprechen, dieses Feld mit solchen Ermessensspielräumen versehen, dass hier die Kämpfe um Positionen regelmäßig ins eingemachte Prinzipielle gehen. Tatsächlich befassen sich die Literaturwissenschaft und ihre germanistische Abteilung mit einem Gegenstand der Forschung – und Vermittlung –, der selbst bei weitem nicht immer einen festen Boden der Eindeutigkeiten von Fakten bietet, sondern vielmehr von der Vieldeutigkeit der Fiktionen und ihrer Interpretationsmöglichkeiten lebt. Laut Bourdieu ist der Beruf des Künstlers einer der unsicheren Orte im sozialen Raum, jener des Dichters gehört zu den wenig kodifizierten und hängt in seiner Definition von Deutungsmächtigen ab. Diese wiederum sind mit jenen in einem das ganze Feld – oder: den ganzen Betrieb – bestimmenden Zirkel verbunden. Der Wert des Kunstwerks wird nicht vom Künstler hervorgebracht, sondern vom Produktionsfeld als Glaubensgemeinschaft, die zu Repräsentation und Sakralisierung neigt.
Und tatsächlich können die Geisteswissenschaften nicht annähernd mit den Sicherheiten aufwarten, die eine Naturwissenschaft oder vielleicht auch eine Rechtswissenschaft aus Gesetzen ableiten mag. Es geht wohl um Fakten, sehr oft freilich um Interpretationen, Sichtweisen, Methoden, um Weltanschauung, Geschmack, Habitus. All das kann leicht zur Zitterpartie werden. Oder aber eine Position im Feld ist so stark abgesichert, dass ex cathedra die Autorität selbst zu sprechen scheint, die den Nachkommenden gerne die Schlussansage als Gipfel ihrer Bedeutsamkeit vorlegt. Jedoch kann sich auch ein Kanon im Wandel historischer Dauer wenden.
Die Franzosen kennen den Ausdruck „Literaturwissenschaft“ nicht; sie lehren, studieren, erforschen Literatur oder Französisch oder critique littéraire. Und wenn sie diesen Bereich, der ihnen wenig kartesianisch vorkommt – es sei denn, er ist den ihnen kartesianisch geltenden Regeln des Salondiskurses unterworfen –, wenn sie also diesen Bereich als Wissenschaft bezeichnen müssen, dann behelfen sie sich mit der Metapher. Im heutigen akademischen Zwang oder Drang zu Unternehmertum und Verkleinamtlichung der Forschung metaphorisieren sie intensiver, da sie es für eine Evaluierung, Ranglistierung, Finanzierung brauchen. Sie haben übrigens auch kein adäquates Wort für das großartig kleinamtsdeutsche „Drittmittel“. In Frankreich scheidet sich die Welt in sciences dures mit dem Beigeschmack wahrer Wissenschaft und in sciences molles. Es klingt wie harte Burschen und Weicheier.
Ein zerspaltenes Fach
Die Germanistik, um nun beispielhaft für Geisteswissenschaften bei diesem Fach zu bleiben, hat nicht wenige Krisen mitgemacht – das lässt sich durchaus zweideutig verstehen. Krisen, die jeweils mit Ängsten und Hoffnungen in Bezug auf Kultur- und Bildungsvorstellungen verbunden waren. Diese deutsche Philologie, wie sie oft – ebenfalls zweideutig – genannt wurde, ist trotz aller Auftritte seit ihren Anfängen aus dem Zittern nie wirklich herausgekommen. Außer sie hat sich despotisch aufgeführt. Und beigetragen, andere das Zittern zu lehren. Bezeichnend die ersten dubitativen Sätze des Vorworts von Jost Hermand, einem Anerkannten der Zunft, in seiner Geschichte der Germanistik: „Angesichts des verbreiteten Zweifels am Sinn historischer Erkenntnisweisen wirkt es geradezu vermessen, die Geschichte jenes in mannigfaltige Richtungen zerspaltenen Fachs beschreiben zu wollen.“ Die Zitterpartie ist erkenntnistheoretisch, inhaltlich und strukturell angelegt; sie ist historisch als solche immer wieder nachweisbar.
„Daß die Beschäftigung mit deutscher Literatur an den Universitäten überhaupt an Bedeutung gewann“, betont Jost Hermand, „verdankte sie vor allem dem Wirken Johann Christoph Gottscheds“. Dieser Aufklärer proklamierte bekanntlich nach dem Vorbild der Naturwissenschaften genaue Regeln, damit die Nationalliteratur die höchsten Töne einer Klassik erreiche; die endgültige Absage erteilte ihm Lessing, der erste moderne deutsche Kritiker. „Trotz mancher aufklärerischen Tendenzen“, lesen wir in der Geschichte der Germanistik weiter, war „bis kurz nach 1800 die Situation im Hinblick auf den universitären Unterricht deutscher Literatur weiterhin recht desolat“. Das Fach Germanistik, das sich mit dem nationalen Selbstbewusstsein als Reaktion auf die Napoleonischen Kriege ausbreitete, war in erster Linie ein patriotisches und oft chauvinistisches Unterfangen – entsprechend die Zielsetzungen und Kanonmechanismen.
Der Wert des Kunstwerks wird nicht vom Künstler hervorgebracht, sondern vom Produktionsfeld als Glaubensgemeinschaft, die zu Repräsentation und Sakralisierung neigt.
Die Genieästhetik und die auf das intellektualistische Kunst- und Bildungskonzept verpflichteten deutschen Schriftsteller erhielten eine kaum zu überschätzende Verstärkung aus der Germanistik: Sie erklärte die Sprachkunst in einem auf Weimar ausgerichteten Bildungsideal zu einer Art Epiphanie des höheren Geistes.
Die Konzeption einer deutschen Nationalliteratur, wie sie August Koberstein 1827 sowie Georg Gottfried Gervinus ab 1835 in ungemein verbreiteten literarhistorischen Werken proklamierten, wollte im Kulturellen die politische Einheit antizipieren. Dies entsprach Schillers Überzeugung, man müsse sich zuerst im Ästhetischen ausbilden, damit man sodann die politischen Probleme praktisch zu lösen vermöge.
Am 9. November 1830 hatte Goethe an Zelter geschrieben: „Jedes Auftreten von Christus, jede seiner Äußerungen gehen dahin, das Höhere anschaulich zu machen“; Schiller sei „eben diese echte Christus-Tendenz eingeboren“ gewesen. 1859 priesen die Schillerfeiern den Klassiker als nationalen Erlöser und belegten ihn mit dem Christusbild. Der weltregierende Gott, so ein Berliner Prediger als Festredner, erweise einem Volke, „das er zu einem weltgeschichtlichen Kulturvolk aufrufen will“, die Gnade, ihm Männer „mit der Kraft des offenbarenden Geistes“ auszurüsten. Zum kulturellen Stereotyp eines Messias gehört ein auserwähltes Volk.
Sollte, wie oft analysiert wird, Bildung zur Ideologie säkularisierter Gesellschaften geworden sein, dann haben ihr diese ihr Bedürfnis nach Heil und Liturgie gleich wieder übergestülpt.
Ab 1848 begannen die Literaturgeschichten im akademischen Betrieb und auch im Deutschunterricht eine zentrale Rolle zu spielen: Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft wurden fast deckungsgleich. Im Vormärz hatten die Jungdeutschen noch Gervinus kritisiert, literarhistorisch war jedoch nach 1848 das Nationale deutlich konservativ – keineswegs liberal oder demokratisch – besetzt und mit dem Christlichen verbunden. Die Literaturgeschichte hatte in dieser Zeit des wilden kolonialistischen Wettlaufs der europäischen Mächte einem – zum Teil bis heute, vor allem in Kanonlisten, gängigen – Kulturkolonialismus zu dienen und einen moralischen Gewissensparavent zu liefern.
Das drängt mich aus meiner heutigen Sicht zu naiven Fragen: Haben Bildungs- und Kunstvorstellungen samt ihren Moralfassaden eine Barbarei abgewendet, als deren Gegenmittel sie gelten? Hat die gepriesene alte Kultur, die man immer wieder den Bach einer neuen Zeit hinunterschwimmen zu sehen meint, den Fluss der Katastrophen aufgehalten? Hatten die humanistischen Vorbilder, die antiken Griechen, keine Sklaven? Und die Verkünder der Menschenrechte in den jungen Vereinigten Staaten von Amerika? Hat Weimar Buchenwald verhindert?
Das Fach Germanistik, das sich mit dem nationalen Selbstbewusstsein als Reaktion auf die Napoleonischen Kriege ausbreitete, war in erster Linie ein patriotisches und oft chauvinistisches Unterfangen.
Ein Querschläger bürgerlicher Bildungsbemühungen: Indem man in der autoritär-hierarchischen Gesellschaft des Wilhelminismus das nationale Selbstbewusstsein mittels Kultur stärkte, lag es nahe, das Andere und Fremde als Kulturloses zu sehen. In seinem genau dokumentierten Roman Morenga von 1978 lässt Uwe Timm die Herren, die 1885 in Berlin die Deutsche Kolonialgesellschaft für Südwestafrika gründen, erklären: Man müsse der Pflicht nachkommen, ein „unterentwickeltes, rückständiges Land“ zu zivilisieren; zu den vornehmsten Aufgaben der Nation der Dichter und Denker gehöre es, „das Wilde zu kultivieren“. Im grausamen Kolonialkrieg gingen die Deutschen 1904 bis zum Völkermord an den Hereros.
Der nach 1945 als Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Wien fast unbehelligt lehrende Heinz Kindermann hatte 1933 den berüchtigten Sammelband Des deutschen Dichters Sendung in der Gegenwart herausgegeben. In Dichtung und Volkheit formulierte er 1937 programmatisch, keineswegs neu, sondern ein bestehendes Schema verstärkend: „Wir haben uns also von den vorangegangenen Zeiten dadurch zu unterscheiden, daß wir literarische Wertgrundlagen schaffen und anerkennen, die nicht bloß vom Formal-Artistischen, sondern die vom seelisch-geistigen Gehalt, von der volkhaft-weltanschaulichen Haltung, vom rassisch bedingten Weltbild und der ihnen gemäßen, von ihnen durchbluteten Gestaltung ihren Ausgang nehmen.“ Die literarischen Wertgrundlagen sind also laut Kindermann: seelisch-geistig, volkhaft, rassisch bedingt, durchblutete Gestaltung.
Abgehobenheit des Dichters
Eine Hermeneutik, die eine ahistorische Haltung erleichtert, kam den meisten deutschen und österreichischen Germanisten nach 1945 gelegen, da sie so ihre politischen Dienste der Nazizeit, die durchblutete Gestaltung, flugs unter den Teppich der „ewigen Werte“ kehren konnten. Mit der institutionellen Durchsetzung einer werkimmanenten Methode, ging nicht nur – besonders mit dem damals hochgeschätzten Gottfried Benn – die Vorstellung der Abgehobenheit des Dichters aus den gesellschaftlichen Niederungen einher, sondern auch ein massiver Bedarf an Kanonisierung. Die Germanistik sah sich nämlich nun verpflichtet, die vor 1945 verpönte „klassische Moderne“ zu integrieren.
Tausendjährig blieb die Klassik.
Anfang der fünfziger Jahre berief sich Hans Egon Holthusen ähnlich wie Friedrich Sieburg, damals der mächtigste Rezensent, auf die „Autoritäten der Vergangenheit“: „wo das Verhältnis des Kritikers zum Klassischen und Mustergültigen noch nicht gleichgültig geworden ist, da sind Maßstäbe immer schon gegeben“.
„Theoretizität“ gilt als ein Ausweis der Wissenschaftlichkeit. Besonders Fächer, die unter Legitimationsdruck stehen, betonen oft entweder ihre besondere praktische Anwendbarkeit oder produzieren einen Theorieüberschuss.
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung fragte 1973 der nicht nur in Fachkreisen sehr anerkannte Benno von Wiese Ist die Literaturwissenschaft am Ende? Unter dem uns nun schon bekannten Titel äußerte er die Befürchtung, dass die „höheren Werte aller wahrhaft großen Dichtung“ verschwinden würden; was jedoch dies „wahrhaft Große“ genau sei, das wusste er nicht zu sagen. 1934 hatte von Wiese, der 1933 der NSDAP beigetreten war, sehr zeitgemäß die „nationale Substanz“ bemüht. 1973 musste wieder einmal die Tautologie helfen, Dichtung ist Dichtung. Es wohne ihr ein „verborgenes Wissen um jeweils verschiedene Stufen der sprachlichen Ver-Dichtung“ inne.
„Nach all dem, was deutsche Germanisten verschiedentlich als ‚dichterisch wertvoll‘ erklärt und als das eigentliche Wesen der Dichtung ausgegeben haben“, schließt Karl Otto Conrady zehn Jahre später, „kann ich die Rede vom dichterisch Wertvollen nur mit äußerster Skepsis aufnehmen.“
In seinem Aufsatz Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft betont Walter Benjamin, die Forschung sei immer nur der Laiendienst an einem Kult, in dem die „ewigen Werte“ nach einem Ritus zelebriert werden. Die Literaturgeschichte habe sich’s im Haus der Dichtung eingerichtet, „weil aus der Position des ‚Schönen‘, der ‚Erlebniswerte‘, des ‚Ideellen‘ und ähnlicher Ochsenaugen in diesem Hause sich in bester Deckung Feuer geben läßt.“
Die prinzipiellen Unsicherheiten der Geisteswissenschaften stehen in einer Wechselwirkung mit ihrer Theoriebildung. Für viele Erkenntnisschritte ist einerseits wohl eine theoretische Fundierung nötig; im akademischen Feld werden andererseits aber Theorien auch zum Selbstzweck und zum strategischen Vorteil eingesetzt.
Theorien bieten Metaebenen, systematisieren Strukturen und Mechanismen, erklären empirische Zusammenhänge und die entsprechenden Gesetzlichkeiten.
„Theoretizität“ gilt als ein Ausweis der Wissenschaftlichkeit. Besonders Fächer, die unter einem Legitimationsdruck stehen, betonen oft entweder ihre besondere praktische Anwendbarkeit oder produzieren einen Theorieüberschuss.
In dem Band Wozu Literaturwissenschaft? beobachtet der Herausgeber Frank Griesheimer, dass vor allem Systematisierungsverfahren und Theoriemodelle Konjunktur haben: „Man kann den Eindruck gewinnen, das Fach halte literarische Kunstwerke nur noch über ein Denken in Modellen, Typen und Funktionen für angemessen erfahrbar“. Natürlich sei es eine unverzichtbare Errungenschaft, in Regeln, Typen und Modellen zu denken. Es erscheine allerdings als problematisch, wenn es mit Ausschließlichkeit betrieben werde, so dass etwas nur noch in Erscheinung trete, wie es durch eine Theorie vorgeformt sei. Gerade jene Theorien „üben eine starke Anziehung aus, die sich durch Autorität und Einschüchterungskraft, suggestive Unwiderlegbarkeit und identitätsstiftende Hermetik auszeichnen“. Diskursgemeinschaften schaffen sich derart über „Jargons und Rituale eine künstliche Exklusivität“.
Die Theorieschrauben zieht man zum Beispiel folgendermaßen an: „Heterogenetische Systeme werden dadurch konstituiert, daß sie relativ autonome aber auch nicht-autonome heterogenetische Subsysteme miteinander kombinieren. Autonome Subsysteme sind dabei solche Systeme, die auch außerhalb des Systems überleben können, während dies bei nicht-autonomen Subsystemen nicht der Fall ist. Die Einheit des Systems resultiert aus der systemspezifischen Organisation relevanter Interaktionen der Komponentensubsysteme, die als Selbstorganisation charakterisiert werden kann“, und so weiter. Der Autor baut strategisch, für seine Position im Feld, auf Verkomplizierung und rechnet damit, dass interessanterweise das Unverständliche meist als intelligent gilt. Seine Sätze tendieren ins Tautologische, übersetzt bedeuten sie: Der Literaturbetrieb ist tatsächlich nicht einfach und besteht aus mehreren Bereichen.
Gerade jene Theorien „üben eine starke Anziehung aus, die sich durch Autorität und Einschüchterungskraft, suggestive Unwiderlegbarkeit und identitätsstiftende Hermetik auszeichnen“.
Die Sprache des priesterlichen Orakels gehört zum Ritual. Entkleidet man es seines Ornats und steht es ohne dessen Kleider da, beginnt eine Zitterpartie.
Die prinzipiellen Unsicherheiten der Literaturwissenschaft, bedingt durch die Vieldeutigkeit der Literatur, von Perspektive und Zugang, Geschmack und Habitus, erschweren die Eindeutigkeit einer Erkenntnis.
In der Zeitschrift perspektive war 2007 zu lesen: In „akademischen Publikationen, im Feuilleton ebenso wie in Literaturhäusern und auf Festivals verhandelt man mittlerweile Unterhaltungsliteratur“, als handle es sich um „relevante Texte“, und es sei „nicht nur eine Frage des Geschmacks, wie man zu solchen Tendenzen“ stehe. Der Markterfolg führe zu einem „ideologischen Ausverkauf, bei dem die Literatur ihre verbleibenden Wirkungsmöglichkeiten auf dem Spielplatz der Spektakelkultur“ verschleudere. In bipolarer Sicht heißt es weiter, „Forminnovation oder dichterischer Erkenntnisgewinn“ könne nur in „marktfernen Zonen“ erhoben werden. Also Aura gegen Euro.
Unterhaltung zerstöre Kultur und Literatur, bedauerte Josef Winkler in einigen Interviews im Herbst 2007; ähnlich äußerten sich Julian Schutting und Anna Mitgutsch.
„Einsamkeit und Freiheit“ des Gelehrten
Allerdings präzisierte keiner von ihnen, wer eine Relevanz wie feststellen möge, welches genau ihr dichterischer Erkenntnisgewinn ist, was sie unter „Unterhaltung“ verstehen, ob sie etwa auch das Komische meinen, dessen Rezeption ja im Lachen Unterhaltung ausdrückt. Ist Karl Valentin „Unterhaltung“, ist sein Werk nicht „relevant“?
Anders als die Naturwissenschaften mit ihren standardisierten Methoden hängen die Geisteswissenschaften, wie Wilhelm von Humboldt schreibt, von „Einsamkeit und Freiheit“ des Gelehrten ab – jedoch auch stark von seiner Position im Feld und von seiner sozialen Fähigkeit in einem Betrieb, der auf einer Art von Feudalismus beruht und in den wesentlichen Mechanismen der Zuwahl und der Etablierung nach dem Prinzip der Tafelrunde funktioniert.
Dies vermag in den Geisteswissenschaften umso stärker zu greifen, als nicht an reproduzierbaren Experimenterfolgen, überprüfbaren Berechnungen und Anwendungen gemessen werden kann. Eine Evaluierung bleibt nicht nur deswegen weniger aussagekräftig, sondern auch weil sich – den sozialen Mechanismen des Feldes gemäß – Evaluierungshöfe für Hofevaluierungen gebildet haben, die den eigenen Zirkel schlüssig behaupten
Wenn es um Wissenschaft und Freiheit geht, kommen wir heute gleich auf Bologna. Unter diesem Namen haben die Amtsleiter der Europäischen Union eine Vereinheitlichung der akademischen Systeme behauptet, aber nichts Weiteres als den Sieg der Kleinamtisierung über die Inhalte fixiert und mit der Anrechenbarkeit der ECTS-Punkte den Arbeitsaufwand, nicht aber eine Leistung oder „Erkenntnis“ zum Maßstab deklariert. Durch „Bologna“ wird eine prinzipielle Zitterpartie zum Verwaltungszittern. Kein Wissenschaftsheil außerhalb von:
– Teamisierung – offenbar nach dem Vorbild des Labors (so nennt man in Frankreich Forschungsgruppen auch in den sciences molles);
– Modulisierung – um die Priorität der Administration über die Inhalte hervorzukehren;
– Schwerpunktisierung – um Beraterdiskurs und damit die akademische Institution als Unternehmen zu etablieren: Ein Unternehmen hat zu produzieren, Produktion hat rentabel zu sein.
Damit sind wir bei den Analogien. Analogschlüsse sind – wie Vergleiche und Metaphern – nicht nur in den weichen Wissenschaften Mittel der Erzählung.
Welche Rückschlüsse lassen sich cum grano salis aus dem hier angerissenen Zittern in höchsten Tönen auf eine Finanz- und Wirtschaftskrise ziehen?
Der Autor baut strategisch auf Verkomplizierung und rechnet damit, dass interessanterweise das Unverständliche meist als intelligent gilt.
Offenbar funktioniert das soziale Feld Ökonomie, Finanzmarkt, Unternehmen in einigen Strukturen ähnlich wie das soziale Feld Wissenschaft; offenbar mangelt es auch hier an der Kontrolle von außerhalb der Tafelrunde; offenbar greifen auch hier sehr stark der Habitus und der Glaubensdiskurs.
Meudalismus nennen deutsche Wirtschaftskritiker einen modernen Feudalismus, den sie als ein neues Lehenswesen charakterisieren, in dem die Herrschaften, die Unternehmen besitzen, weitgehende Hoheitsrechte genießen. Die große Erzählung ist hier nicht Bildung und Kultur, sondern „der Markt“, „die Globalisierung“ – und diese große Erzählung tendiert wie jede dazu, dass ihre Betreiber sie über alles, also auch das Akademische, spannen wollen.
Die großen Erzählungen fungieren als metaphysische Referenz; sie benennen keine menschliche Verantwortung. Der Chef der Welthandelsorganisation verkündete, dass die Globalisierung wie ein Naturgesetz fortschreite; sie unterbrechen zu wollen, das „wäre, als versuchte man, die Rotation der Erde zu stoppen“. In der Süddeutschen Zeitung war zu lesen, die Theorie der freien Marktwirtschaft habe eine Bedeutung erlangt, die „einst die christliche Heilslehre“ besessen habe. Die dominierende Form des ökonomischen Glaubens, meint Frédéric Lebaron in seinem Buch La croyance économique, begnüge sich nicht damit, die Wirtschaftsordnungen zu verändern, sondern organisiere die gesamte Gesellschaft um die Sphäre des Handels. Diese Doktrin gelte nicht als eine mögliche Option, sie verstehe sich vielmehr als allgemein gültig, und zwar im Namen einer wissenschaftlichen Autorität und vor allem einer „ökonomischen Neutralität“. Dieser Terminus bediene wie jener der „Unabhängigkeit“ eine soziale Fiktion und diene dazu, einen besonderen kollektiven Glauben auszubilden.
Wenn vorgeblich Säkularisiertes mit Sakralisierungen arbeitet, dann ist eine Zitterpartie mit Ängsten und Hoffnungen angelegt. Denn Sakralisierungen behaupten Sicherheiten, während sie nur für Gläubige funktionieren. Wenn aber das Finanzkapital mindestens ebenso unsicher erscheint wie symbolisches Kapital, dann bilanziert man Werte, die zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht weniger und nicht mehr als der Konsens einer Gruppe sind, jedoch allgemeine Bedeutung behaupten. Und dieser Spagat fördert sowohl Hoffnungen als auch Ängste und Krisen.