Wie entstehen neue Ideen und wie manifestieren sie sich auf dem Papier? Zum Beispiel so: Zunächst (ungefähr in der Mitte des Blattes) eine eingekreiste 1. Dann eine Linie nach oben, verzweigt in mehrere Richtungen. An den Endpunkten des Baumes die vier simplen Buchstaben A, B, C und D, auf nichts anderes als die unterschiedlichen Arten (Spezies) und ihren evolutionären Zusammenhang deutend. Darüber der Eintrag „I think“ und darunter ein paar kurze Bemerkungen über entworfene Verwandtschaftsrelationen.
Charles Darwins frühe Skizze der Evolution gehört heute zu den berühmtesten Notizen der Wissenschaftsgeschichte. Jahrzehntelang war sie in einem geheim gehaltenen Notizbuch versteckt, das der Forscher ab Juli 1837 in Verwendung hatte – ganze 22 Jahre vor der Veröffentlichung seines bahnbrechenden Buches Über die Entstehung der Arten. Groß waren Darwins Skrupel gegen eine Publikation seiner revolutionären Theorie. Jahrzehntelang sammelte er (ein Autodidakt, der sich seine Reputation durch andere Studien erarbeitete) alles, was auch nur im Entferntesten als Einwand gegen seine Theorie gewertet werden konnte, und versuchte es in seinen Aufzeichnungen bestmöglich zu entkräften.
Erst als ihm (ausgerechnet ihm!) sein Kollege Alfred Russel Wallace, der im fernen Indonesien forschte, einen Aufsatz zusandte, in dem er zu ganz ähnlichen Erkenntnissen kam, ging Darwin mit seinem Lebenswerk an die Öffentlichkeit. Das geheime Notizbuch mit der frühen Skizze der Evolution (zehn Seiten vorher findet sich übrigens ein ähnlicher Baum mit teilweise nur punktierten Linien entworfen) wurde erst in Darwins Nachlass gefunden. Heute ist das Notizbuch original im Darwin-Archiv der Universität Cambridge und (wie all seine Manuskripte) digital auf der empfehlenswerten Website http://darwin-online.org.uk einzusehen.
Die kulturwissenschaftliche Forschung schenkt solchen und ähnlichen Schriftobjekten, in denen die Entstehung von Ideen und das Wachstum von Überzeugungen sichtbar wird, seit einiger Zeit besondere Aufmerksamkeit. Die Forschungsinitiative „Wissen im Entwurf“ beispielsweise, beheimatet am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und am Kunsthistorischen Institut in Florenz, beschäftigt sich in einem ihrer Teilprojekte mit den Seziertagebüchern von Gottfried Benn und setzt sich unter dem Titel „Zeichnen und Schreiben als Praxis des Denkens“ in einem anderen mit Paul Valérys Cahiers auseinander. Die Einsicht, dass die Schrift, zumal dann, wenn es um Entwurfstadien geht, nicht allein diskursiv und linear ist, sondern wesentlich bildhafte Elemente (wie eben auch bei Darwin) in sich mit einbezieht, grundiert ein soeben an der FU Berlin eingerichtetes Graduiertenkolleg, das den erweiterten Ansatz programmatisch im Titel trägt. Es nennt sich „Schriftbildlichkeit. Über Materialität, Wahrnehmbarkeit und Operativität von Notationen“ und vereint unter der Leitung der Philosophin Sybille Krämer zahlreiche Einzeldisziplinen, die von der Mathematik über die Tanzwissenschaft bis zur Japanologie reichen. Die leitende Frage hier, wie in dem neuen Forschungs-Paradigma überhaupt, richtet sich nach der kreativen Leistungskraft von Schrift innerhalb etablierter wissenschaftlicher und künstlerischer, aber auch religiöser und alltäglicher Praktiken.
Die leitende Frage hier, wie in dem neuen Forschungs-Paradigma überhaupt, richtet sich nach der kreativen Leistungskraft von Schrift innerhalb etablierter wissenschaftlicher und künstlerischer, aber auch religiöser und alltäglicher Praktiken.
Pionierarbeit dazu leistet seit jeher die Literaturwissenschaft. So zeigten sich historisch-kritische Ausgaben (mit – wie man einschränkend sagen darf – mehr oder weniger Erfolg) schon immer bemüht, die Entstehungsprozesse von Werken darzustellen. Mit den neueren Faksimileausgaben finden die Eigentümlichkeiten von Handschriften und ihre spezifischen Topographien eine unmittelbare Umsetzung. Dass die Schrift nicht allein linear ist und sich bei weitem nicht alles, was man in Handschriften vorfindet, linearisieren lässt, ist eine Erfahrung, die ein jeder Editor zumindest neuzeitlicher Texte anhand seines Materialienbestandes notwendigerweise macht.
Um nur ein Beispiel zu nennen, sei hier die historisch-kritische Kafka-Ausgabe des Heidelberger Instituts für Textkritik erwähnt, die in ihrer absoluten Konzentration auf die Materialität der Handschrift seit einiger Zeit für Furore sorgt. Jüngst erschienen in dieser Ausgabe als reine Faksimiles mit entsprechenden Umschriften die sogenannten Oxforder Oktavhefte. Diese kleinen Notizbücher benutzte Kafka während der Zeit, als ihm für seine vorher stark ins Stocken geratene Schreibarbeit ein von seiner Schwester Ottla gemietetes Häuschen in der Alchemistengasse auf der Prager Burg zur Verfügung stand. Wichtiger als die aus diesen Notizbüchern hervorgegangenen Einzeltexte (publiziert in der Sammlung Ein Landarzt) scheint der literaturwissenschaftlichen Forschung heute das ursprüngliche Nebeneinander dieser Notizen im kleinen Format. Literarisches steht neben Tagebuchartigem, Abgeschlossenes neben Unfertigem – aber alles zusammen eingebunden in einen steten Schreibfluss. Insgesamt: ein tastendes Suchen nach vielen Richtungen.
Schreibevolution
Schon an der klassischen Hermeneutik ging der Entstehungsprozess von Texten, der in den Beständen nationaler Literaturarchive ab dem 19. Jahrhundert unmittelbar ablesbar war, nicht spurlos vorbei. Peter Szondi beispielsweise ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass die von ihm (an Autoren wie Paul Celan oder Friedrich Hölderlin) praktizierte, genetische Interpretationsmethode schon bei Friedrich Schleiermacher vorgeformt war, der seinerseits den Akt philologischer Erkenntnis als einen Akt des Nachbildens des schon einmal Gebildeten begriff. In Adornos Ästhetischer Theorie kulminiert dies in dem Satz, dass ohne die „Logik des Produziert-Seins“ zu beachten, moderne Ästhetik gar nicht vorstellbar sei, wobei aber am Ende das künstlerische Werk dann doch wieder seine Genese „verzehren“ würde – ein schmaler methodischer Grad, an dem sich zahlreiche Einzeluntersuchungen gerade der schwierigsten und scheinbar unzugänglichsten Texte der Moderne abgearbeitet haben, ausgehend von der Prämisse, dass man den Autor besser versteht, wenn man seine Arbeitsweise verstanden hat.
Die französische Critique génétique, die sich (in Arbeiten etwa von Gérard Genette, Louis Hay oder Almuth Grésillon) in den 1990er Jahren etablierte, legt ihren Untersuchungen der Genese einen offeneren und weniger auf das Endziel des Werkes gerichteten Textbegriff zugrunde. Frühe Entwürfe, erste Konzepte, Zwischenfassungen, Randnotizen und publizierte Werke betrachtet sie als prinzipiell gleichwertig; der poststrukturalistische Ausgangspunkt und Einfluss ist nicht zu verkennen. Als vermittelndes Bindeglied zwischen der deutschen und der französischen Tradition, aber auch als Erweiterung der Methode in den kulturwissenschaftlichen Bereich kann eine Forschungsrichtung gelten, die aus der Schweiz kommt. Von 2001 bis 2007 leitete der Germanist Martin Stingelin (heute Professor in Dortmund) in Basel ein Forschungsprojekt zur „Genealogie der Schreibszene“.
Den Begriff der „Schreibszene“, der durch viele Kanäle mit dem verbunden ist, was Friedrich Kittler (umfassender und früher) als „Aufschreibesystem“ verstanden und beschrieben hat, hatte Rüdiger Campe in einem Aufsatz entwickelt. Neben der Sprachlichkeit des Schreibens, die unmittelbar auf die Bedeutung zielt, umfasst die Schreibszene als Erweiterung des hermeneutischen Ansatzes die Materialität und die Körperlichkeit des Schreibens, wie sie sich in der Verwendung spezifischer Technologien (Bleistift, Schreibmaschine, Computer) und in entsprechenden Einpassungen der Person des Schreibenden (Gesten und andere Körper-Arrangements) zeigt.
Den Begriff der Genealogie nimmt Stingelin von Nietzsche. In seinem programmatischen Aufsatz „Schreiben“ (abgedruckt im ersten Band der von ihm herausgegebenen Publikationsreihe „Zur Genealogie des Schreibens“) führt Stingelin aus, dass damit nicht allein die Rückwirkungen geschichtlicher Prozesse auf den Einzelnen gemeint sind, sondern vor allem auch das Widerstandspotenzial gegen solche Überwältigungsprozesse. In den Eigensinnigkeiten der sie konstituierenden Momente ist die Schreibszene mit einem ähnlichen Widerstandspotenzial versehen. Ein Punkt, über den man diskutieren kann, weil ja auch die Gegenbeispiele auf der Hand bzw. im Literaturarchiv liegen: ein plötzliches Flüssigwerden des Gedankens in der Schrift und aus der Schrift heraus.
Die Schreibszene trägt auch ein reflektorisches Moment. Rüdiger Campe benutzte zu ihrer Markierung die differente Schreibung „Schreib-Szene“. Von einer solchen spricht man, wenn dem Schreibenden seine Schreibszene bewusst wird und er im Schreiben reflektorisch darauf Bezug nimmt, was bei modernen Autoren an dem einen oder anderen Punkt ihres Schreibens fast immer der Fall ist. Dass das nicht nur für die Literatur gilt, sondern auch für die Wissenschaft, belegt (ein letztes Mal) Darwin. In seiner Autobiographie, die einen Tonfall des Understatements wie zur Belehrung von Kindern trägt, schreibt er: „Anscheinend ist in meinem Geist etwas so organisiert, daß ich meine Aussagen und Behauptungen im ersten Anlauf unfehlbar in eine falsche oder unglückliche Form bringe. Früher habe ich immer erst über meine Sätze nachgedacht, bevor ich sie zu Papier brachte; aber schon seit mehreren Jahren finde ich, daß es Zeit spart, wenn ich erst ganze Seiten so schnell wie möglich mit eilig hingeworfenen Buchstaben fülle, die Hälfte der Worte dabei abkürze – und dann überlegt korrigiere. Sätze, die ich in dieser Manier flüchtig hingeworfen habe, sind oft besser, als wenn ich sie erst nach langem Nachdenken aufgeschrieben hätte.“
Ganz so, als ob es wie in der Natur eine Evolution der Arten auf dem Papier eine Evolution der hingeworfenen Notizen geben würde.