Ohne Zweifel: Helmut Lethen, Direktor des Internationalen Forschungszentrums für Kulturwissenschaften (IFK) in Wien, kann schreiben. Wer dafür einen weiteren Beweis braucht, lese im vorliegenden Sammelband zunächst den Aufsatz „Drei Männer im Schutt“. Dieser Text (von dem es – und fast hätte ich gesagt: naturgemäß – auch eine Version als Radioessay gibt) ist eine glanzvolle und dramaturgisch perfekt durchdachte Erzählung. Sie zeigt Carl Schmitt, Ernst Jünger und Gottfried Benn unmittelbar nach 1945. Drei Männer, die bei den Machthabern des Dritten Reiches zumindest bis Mitte der 30er-Jahre große Reputation genossen und die jetzt in eine politische Landschaft gestellt sind, die ihr Agieren und Publizieren einschränkt und die sie als „wüst und leer“ empfinden.
Die drei Herren belauern sich, und diese Lauer spielt sich ab vor dem Hintergrund ihres gemeinsamen Habitus. Festgelegt auf die Verhaltensregeln der vordemokratischen Satisfaktionsgesellschaft beobachtet der eine am anderen deren Einhaltung und/oder Überschreitung. Mit zum Kanon dieses festgefahrenen Verhaltensschemas gehört, dass öffentliche Scham nicht gezeigt werden darf. Genau das aber fordert die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft unter alliierter Regie. So wirkt der zeithistorische Hintergrund hier wie eine riesige Lupe. Kleinste Regungen am anderen erscheinen dem einen als große verräterische Gesten. Als ein Seismograph der besonderen Art erweist sich dabei der als „Kronjurist“ des Dritten Reiches gehandelte Carl Schmitt. Seine Wahrnehmungen an Gottfried Benn und dessen autobiografischem Buch Doppelleben (1950) gehen unter die Haut und gipfeln in dem Verdikt: „Ich sage also: ein bis zur Unkenntlichkeit nihilistisch tätowierter Pietist.“
Das sublime Fortleben von Mantel- und Degenstücken aus der Wilhelminischen Ära ist das Thema, mit dem sich Helmut Lethen vor eineinhalb Jahrzehnten neu geschaffen hat. Sein Buch Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen (1994) avancierte wahrscheinlich auch deshalb so schnell zum „Kult“, weil es in der akademischen Etappe geschrieben wurde und sich die Freiheiten, die es – um zu wirken – braucht, wie selbstverständlich nahm. Dazu kurz die notwendige biografische Vorgeschichte: Nachdem es für Lethen in Deutschland als Wissenschafter keine Existenz gab, expatriierte er sich gleichsam selbst und beschäftigte sich in Utrecht mit einer Beobachtung, die er an der Weimarer Republik machte, nämlich der spezifischen Wirkmacht von Gracians Handorakel, einer kalten Kunst der Lebensführung.
„Ich sage also: ein bis zur Unkenntlichkeit nihilistisch tätowierter Pietist.“
In der Anthropologie von Helmuth Plessner, die gegen den „Wärme“-Begriff der Gemeinschaft den „Kälte“-Begriff der Gesellschaft setzt, fand Lethen die zentrale zeitgenössische Adaptionsform des kalten Verhaltens; Belege für deren Verbreitung in literarischen Texten und für ihre Kraft in der Definition des neusachlich-avantgardistischen Habitus fanden sich zuhauf und lassen Lethens Ansatz bis heute als höchst evident erscheinen. Dabei ist Lethens Buch, und wie könnte es bei einem Autor, der 1968 aktiv mitgemacht hat, anders sein, auch und gerade auch eine Auseinandersetzung mit der Generation der Väter: Eine Erzählung mithin über die Einpassung des autoritären Charakters in die Moderne.
Davon, dass diese Väter, die im Nationalsozialismus nur allzu leicht dorthin zurückfallen konnten, wo sie herkamen, immer wieder für neue Überraschungen gut sind, handelt der neue Sammelband, den Lethen jetzt unter dem Titel Unheimliche Nachbarschaften vorlegt. Er versammelt verstreute Aufsätze der letzten beiden Jahrzehnte, die (teilweise auch spiralförmig und sich gegenseitig überschneidend) um die Themen der Verhaltenslehren der Kälte kreisen. Ein biografischer Anlassfall findet sich auch in diesen Aufsätzen markiert, nämlich die Tatsache, dass ein Text, den Lethen für die von ihm vor Urzeiten auch redaktionell mitbetreute marxistische Zeitschrift Alternative geschrieben hatte, ausgerechnet von Carl Schmitt mit aller Sorgfalt gelesen und am Rand mit zahlreichen Anmerkungen versehen wurde. Aus der Kreuzung der Diskurse, die Lethen hier – wenn nicht am eigenen Leib, so doch zumindest – am eigenen Text erlebt hat, formt sich in den Unheimlichen Nachbarschaften eine These: die Ähnlichkeit linker und rechter Denkfiguren vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Habitus.
Davon, dass solche Thesen, die in den einzelnen Aufsätzen des Bandes gute argumentative Verankerungen und umfangreiches Belegmaterial finden, nur allzu leicht für Provokationen sorgen, berichtet Lethen vorsorglich selbst. Der in dem Band abgedruckte Aufsatz „Zwei Barbaren“ etwa, in dem es um Ernst Jünger und Bertolt Brecht geht, rief bei seinem Vortrag Verstörung in beiden Lagern hervor, denn ganz offensichtlich kann es im Denken vieler immer nur einen Barbaren geben, und dieser Barbar ist immer der andere. Zentral für die Ähnlichkeiten, denen Lethen nachspürt und die er stilistisch und dramaturgisch perfekt in Szene setzt, ist die Ebene, auf der sie sich ereignen. Dass zwischen den symbolischen Kältegraden des neusachlichen Habitus und der realgeschichtlichen Eiszeit des menschlichen Verstandes Welten liegen, muss man Helmut Lethen nicht sagen. Ein Hinweis indes zum Fortleben des Kälte-Diskurses, der vielleicht mehr als nur regional ist, sei gestattet: In der österreichischen Avantgarde der 50er- und 60er-Jahre findet sich zwischen Konrad Bayer und Oswald Wiener das Lob der Kälte noch einmal neu begründet – nicht in der Vätergeneration, sondern bei den Brüdern (Schwestern gabs nicht).