Vorneweg: Verachtung, Neid und Anmaßung spricht aus einem Artikel, den der damalige Präsident der österreichischen Gesellschaft für Soziologie, Christian Fleck, im April 2007 in der österreichischen Tageszeitung Der Standard über Zygmunt Bauman schrieb, den 1925 in Posen geborenen Soziologen, der 1968 unter dem Eindruck einer staatlich unterstützten, antisemitischen Hetzkampagne Polen verlassen musste und ab 1971 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1990 an der Universität Leeds lehrte. Der alte Herr der linken Sozialwissenschaft, so meinte Fleck, und gleich auch all jene, die ihn in Deutschland hofierten (darunter das unter der Leitung von Jan Philipp Reemtsma stehende Hamburger Institut für Sozialwissenschaft, das hochkarätig besetzte Amalfi-Preis-Komitee und das Frankfurter Adorno-Preis-Komitee) mögen jetzt über die Vergangenheit Baumans im polnischen Geheimdienst reden, oder von nun an schweigen.
Vorausgegangen war dieser untergriffigen Attacke ein Artikel des polnischen Historikers Bogdan Musial in der FAZ. Unter Berufung auf Aktenmaterial, das die extrem rechte polnische Zeitschrift OZON veröffentlicht hatte, bezichtigte er Bauman, „nicht nur Sozialist, sondern Stalinist“ gewesen zu sein. Bauman selbst wollte sich zu einer Entgegnung nicht zwingen lassen. Dass er von 1945 bis 1953 für das polnische „Ministerium für öffentliche Sicherheit“ tätig war, stritt er nicht ab; wer wollte, hätte dies schon lange vorher (z.B. in den Memoiren seiner Frau) nachlesen können. Die Übertreibungen von Musial indes fügten sich nahtlos in das von der Kaczynski-Regierung soeben erlassene „Lustrationsgesetz“. Jeder, der in Polen eine öffentliche Funktion innehatte, musste eine Erklärung darüber abgeben, ob und wie er von 1945 bis 1989 für den Staatssicherheitsdienst gearbeitet hat. Daraus wurde dann eine große Kampagne gegen unliebsame linke Politiker, Beamte, Journalisten und Pädagogen.
Zygmunt Bauman hat geschwiegen und weitergeschrieben. Über ersteres kann man durchaus unterschiedlicher Meinung sein, zweiteres jedoch ist ein Segen, denn kaum ein anderer Sozialwissenschafter stellt die Befindlichkeiten der modernen westlichen Gesellschaft derart plastisch und drastisch dar. Den Schlüsselbegriff dafür bietet das kleine englische Wort „liquid“. Liquid Modernity heißt der späte Klassiker Baumans aus dem Jahr 2000. Jener Flüchtigen Moderne folgte eine Reihe meist kleinerer Bücher mit Titeln wie Liquid Love (2003), Liquid Life (2005) und Liquid Fear (2006). Ob die Übersetzung all dieser Titel mit dem deutschen Wort „flüchtig“ wirklich hinkommt, ist zu bezweifeln, denn nicht die Vergänglichkeit der Strukturen, in denen wir leben, hat Bauman im Sinn, sondern ihren unsteten Charakter, eben ihr Flüssig-Sein.
So auch im neuen Buch Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit, das 2007 in der englischen Originalversion als Liquid Times erschien und jetzt im Verlag des Hamburger Instituts für Sozialwissenschaft in deutscher Übersetzung vorgelegt wird. Gleich in der Einleitung zu den insgesamt fünf Essays bringt Bauman die Herausforderungen, der sich die moderne westliche Gesellschaft zu stellen hat und die – seiner Meinung nach – in der Geschichte des Menschen ohne Beispiel sind, auf eine knappe Punktation. Erstens: der Übergang von der „festen“ zur „flüchtigen“ (besser wohl: flüssigen) Phase der Moderne, also in einen Zustand, in dem soziale Strukturen nur mehr für kurze Zeit stabil, im Allgemeinen aber in steter Bewegung sind. Zweitens: die zusehends zu beobachtende Trennung von Politik und Macht, jenem Paar, das seit der Entstehung des modernen Staates und bis vor kurzem als zusammengehörig gedacht wurde. Heute ist das anders: Supranationale Konzerne haben die Macht übernommen, ihnen gegenüber bleibt der Politik oft nur Machtlosigkeit.
Drittens, so Bauman, erodiert durch den allmählichen, aber konsequenten Abbau staatlicher Sicherungssysteme gegen Schicksalsschläge und individuelles Scheitern die Attraktivität kollektiven Handelns, so werden die sozialen Grundlagen gesellschaftlicher Solidarität untergraben. Viertens führt das Ende langfristigen Handelns und Denkens, wie es sich früher in Konzepten von „Karriere“, „Entwicklung“, „Reifung“ und „Fortschritt“ manifestiert hat, dazu, dass sich die politische Geschichte und auch das Leben einzelner nur noch als eine Reihe kurzfristiger Projekte darstellt. Schnell vergessen zu können, scheint in diesem Zusammenhang wichtiger, als aus dem Vergangenen zu lernen – eine Einsicht, die sich in doppelter Weise auf die „Affäre Bauman“ beziehen lässt.
Baumans fünfter und letzter Punkt in Flüchtige Zeiten bezieht seine Analyse des (soll man sagen: neoliberalen?) Gesellschaftssystems noch einmal unmittelbar auf das Individuum. Ihm nämlich wird die Verantwortung für die Lösung der Dilemmata aufgebürdet, die durch die flüchtigen und sich ständig wandelnden Umstände erzeugt werden. Der Einzelne heute ist ein frei Wählender, der aber auch sämtliche Konsequenzen seiner Wahl zu tragen hat. Genau das meint die in allen Bereichen geforderte „Flexibilität“: „Die Bereitschaft, Taktik und Vorgehensweisen kurzfristig zu ändern, Verpflichtungen und Loyalitäten ohne Bedauern aufzugeben und Chancen wahrzunehmen, die sich aktuell bieten, anstatt den eigenen vorgefassten Präferenzen zu folgen.“
Den Auswirkungen dieses verbindlich gewordenen Lebenskonzepts geht Bauman in seinen fünf Aufsätzen in akzentuierten Formulierungen nach: Der Angst beispielsweise, die die westliche Gesellschaft grundiert und die in den Bildern von 9/11 einen Ausdruck gefunden hat – dutzende Male, so Bauman, wurden uns diese Bilder vorgeführt, um an ihnen gerade das sichtbar zu machen. Oder die Trennung der Gesellschaft in den großen Städten in dem schönen Essay „In Einsamkeit vereint“: Menschen „höheren Ranges“, weltweit vernetzt und an ihren Wohnorten nur temporär zu Hause, auf der einen Seite. Lokale Randgruppen, an ihren Ort gebunden, auf der anderen. Zwischen den Wohngegenden stehen Trennwände, die nicht immer als Mauern erkennbar sind, sondern oft nur als „stachelige“, „nervöse“ und „rutschige“ Räume, in denen ein Aufenthalt unmöglich oder zumindest unangenehm ist. Auch das eine der Herausforderungen an die urbane Architektur: schräge Fensterbänke zum Beispiel, auf denen kein Mensch mehr sitzen kann.
Die ganze literarische Kraft seiner Beschreibungen, hinter denen unbändige Energien und unangenehme Wahrheiten stecken, widmet Bauman dem Status des Flüchtlings in der modernen Welt. Nicht als jemand, der aus einem fernen Land kommt, um von unserem Wohlstand zu profitieren, sieht der Autor ihn, sondern als ein Abfallprodukt, den der weltweite Kapitalismus selbst produziert. Liest man Baumans Analysen, sieht man sich streckenweise in den Film Darwins Nightmare versetzt, denn über die Kausalitäten herrscht hier wie da kein Zweifel: Zuerst wird in den Entwicklungsländern alles kaputt gemacht, und dann erst bricht der Mensch, der dort nicht mehr leben kann, auf. Ein kleines phänomenologisches Meisterwerk ist auch Baumans Beschreibung des Flüchtlingslagers als eines Raumes ganz außerhalb unserer Zeit. Vieles erinnert hier an den „Ausnahmezustand“, den Giorgio Agamben zur Grundlage seiner vieldiskutierten Theorie gemacht hat. Kurzum: Zygmunt Bauman präsentiert sich kraftvoll wie eh und ist ganz auf der Höhe der Zeit.