„Lesen Sie Kant!“
„Lesen Sie Kant!!“
(Ende einer Diskussion zwischen Hans Albert und Herbert Marcuse in Alpbach 1967)
1. Die Interpretationen philosophischer Texte können so unterschiedlich ausfallen, dass die Kontrahenten einander vorwerfen, die Texte, über die sie reden, nicht einmal gelesen, geschweige denn verstanden zu haben.
Die Aufforderung, Kant zu lesen, war eine Folge (nicht nur) verschiedener Interpretationen der „Kritik der reinen Vernunft“. Ich erinnere mich nicht mehr an den genauen Verlauf der Diskussion beim Europäischen Forum in Alpbach, die ich als Gymnasiast miterlebt habe, wohl aber daran, dass sich sowohl Herbert Marcuse als auch Hans Albert auf die gleichen Textstellen berufen hatten.
2. Wittgenstein und die Philosophen des Wiener Kreises waren in der akademischen Philosophie nach dem Krieg in Wien jahrzehntelang nicht der Rede wert.
Hegel und Heidegger waren für Analytische Philosophen noch vor wenigen Jahren Proponenten von gefährlichem und/oder schlichtem Unsinn. Inzwischen erwachen bei ihnen neue Sympathien für Metaphysik, und eine Kombination von Kontinentaler und Analytischer Philosophie wirkt karrierefördernd.
Wie sehr unterscheiden sich doch die Interpretationen von Nietzsche vor, während und nach dem Nationalsozialismus!
Wer von den einen zu den bedeutendsten Philosophen des vergangenen Jahrhunderts gerechnet wird – wie Rorty, Heidegger, Derrida oder Feyerabend –, gehört nach der Meinung anderer zu jenen, die nur glauben, Philosophen zu sein, es aber in Wirklichkeit nicht sind; schon früher wurde ähnliches von Nietzsche oder Kierkegaard behauptet.
Der Vorwurf, dass ein Text, ein Buch nicht mehr zur Philosophie gehört, ist bei Qualifikationsarbeiten wie Dissertationen oder gar Habilitationen ein beliebtes „Totschlagargument“. Bei X zu studieren ist heutzutage schlecht für eine akademische Karriere, heißt es von einem noch immer berühmten Wittgensteininterpreten, und das gleiche galt für Richard Rorty in Princeton und für Paul Feyerabend in Berkeley. Wer zu Lebzeiten ein bedeutender Philosoph ist, dessen Ruhm verblasst oft rasch mit seinem Ableben, manchmal schon mit der Emeritierung, dafür hat er, wenn er nur lange genug tot ist, die Chance auf eine Renaissance oder gar mehrere …
3. Was würde eine Aneinanderreihung aller Kant-Interpretationen ergeben außer einer Bibliothek von mehreren tausend Bänden? Ein immer tieferes Verständnis von Kant? Immer wieder neue Aspekte, die aufgezeigt wurden und werden? Eine Kritik früherer Interpretationen? Neues Licht? Und mit Aristoteles, Platon, Thomas, Spinoza, Descartes und all den anderen großen Toten der Philosophiegeschichte ist es nicht anders. Sind die Streitfragen weniger, sind die Übersetzungen besser geworden? Ist entschieden, was zu welchem Textkorpus gehört, wo Fragmente zugeordnet werden, welche Übersetzungen, Werkausgaben und Nachlasseditionen zuverlässig sind und welche nicht?
Wer in Vergessenheit gerät und wer auf Dauer interpretiert und rezipiert wird, das hängt von Umständen, Zufällen und Bedingungen ab, die nicht standardisiert werden können.
Werden Interpretationen von Philosophen einheitlicher, weil die zeitliche Distanz zu ihnen größer wird? Oder weil das Interesse an ihnen so stark nachlässt, dass nur noch wenige neue Arbeiten über sie geschrieben werden?
Primärliteratur ist fast immer auch Sekundärliteratur zu anderen Texten, die uns oft nicht gegenwärtig sind.
Die Aktualität von Philosophen hängt manchmal auch davon ab, wann sie gestorben sind, es sei denn, es ist schon sehr lange her. Runde Geburtstage oder Todesjahre von Platon & Co. werden nicht durch Konferenzen und Symposien gefeiert, aber wenn die Philosophen noch nicht mehr als zwei- oder dreihundert Jahre tot sind, dann bilden Jubiläen oft willkommene Anlässe für Resümees oder Neubewertungen.
Welche Auswirkungen hätte es auf die Rezeption von Wittgenstein gehabt, wäre er so alt geworden wie Popper und hätte er die Philosophischen Untersuchungen oder gar Über Gewißheit selbst redigiert und veröffentlicht?
Auf den „Kampfplätzen der Philosophie“ (Kurt Flasch) geht es auch um Interpretationen, um Rangordnungen und Streitigkeiten von Schulen und Richtungen. Und wer zu den Helden zählt und wer zu den Schurken, das sind Einstufungen, die in der Geschichte mehr als einmal gewechselt haben.
4. „Das Studium der Philosophie besteht hauptsächlich … aus der Lektüre und Interpretation von Texten.“ Dieser Satz auf der Homepage eines philosophischen Institutes mag ein Indiz dafür sein, wie wichtig Interpretationen für die philosophische Ausbildung und überhaupt für den akademischen Diskurs sind. Die Vorstellung, dass wir Texte zuerst lesen, uns dabei vielleicht noch „einlesen“ und sie dann erst interpretieren, trägt zu einer starken Unterscheidung zwischen Text und Interpretation bei, es sei denn, wir würden geradezu am Text „kleben“…
Ist eine „nicht-interpretierende“ Lektüre von Texten überhaupt vorstellbar? Evangelikale Christen betonen manchmal, dass sie zum Unterschied von Katholiken und gewöhnlichen Protestanten die Bibel nicht interpretieren – aber sie tun es allein schon durch die Übersetzung und erst recht durch jede Predigt. Und auch Bücher wie „Was Jesus (oder Popper, Kant, Stalin, Einstein) wirklich sagte“ interpretieren ihre Titelhelden. Unsere bisherigen Lese-Erfahrungen fließen in unsere neue Lektüre ein, unser Vorwissen beeinflusst den Erwerb von neuem Wissen, auch wenn dieses wiederum den bisherigen Wissenskorpus umbildet.
5. Interpretation ist verwandt mit Erklärung, Übersetzung, Deutung, Auslegung und Kritik, mit Lesarten, Kommentaren und Beurteilungen.
Nahezu alles kann interpretiert werden, ob Mensch, Natur, Welt oder Gott; wir interpretieren Daten, Wolken, Texte und vieles andere mehr, aber in meinem Beitrag beschränke ich mich auf die Interpretation von Texten.
Philosophische Texte werden interpretiert, kommentiert, diskutiert, kritisiert, beurteilt, gedeutet, übersetzt, ausgelegt und expliziert. Davor, dafür und dabei werden sie gelesen. Wir lesen uns in Texte „ein“, um sie zu verstehen; wollen wir nur ungefähr wissen, worum es geht, dann lesen wir sie „quer“, aber wir können sie auch „genau“ lesen, um sie dann „textnah“ zu interpretieren.
Im Englischen unterscheiden wir mehr Lesarten als im Deutschen, critical readings, close readings und distant readings, ein absolute reading oder gar ein radical reading und dazu re-reading(s) und fresh readings, verbreitet sind auch nach Philosophen benannte Lesarten, etwa Hegelian, Wittgensteinian, Aristotelian und Kantian Readings, neuerdings sogar Rortyan Readings. Und ich erinnere mich an meine Ratlosigkeit, als mir vor vielen Jahren Richard Rorty schrieb, dass er mein Feyerabendian Reading von Wittgenstein nicht ganz verstehen könne.
6. In welchem Verhältnis stehen Text und Interpretation? Der Text, der interpretiert wird, ist meist selbst schon eine Interpretation jener Texte, mit denen sich der Autor auseinandergesetzt hat. Primärliteratur ist fast immer auch Sekundärliteratur zu anderen Texten, die uns oft nicht gegenwärtig sind.
Das Verhältnis zwischen Text und Interpretation kann auf zumindest zwei grundsätzlich verschiedene Weisen bestimmt werden: als dualistisches Verhältnis oder als nondualistisches Verhältnis.
Das dualistische Interpretationsmodell lässt sich etwa so skizzieren: Ein Text, zum Beispiel die Kritik der reinen Vernunft, wird verschieden interpretiert. Dabei werden zwei Ebenen vorausgesetzt: eine Textebene, auf der dieser Text „liegt“ oder „steht“, und eine Interpretationsebene. Die Interpretationen sind auf den Text gerichtet, sie werden auf ihn bezogen und eine Bewertung/Gewichtung der Interpretationen ist grundsätzlich möglich: Je nach ihrem Verhältnis zum Text sind sie dann entweder zutreffend oder nicht, adäquat oder inadäquat. Das Verhältnis zum Text bestimmt, ob die Interpretationen dem Text entsprechen, ob sie richtig sind oder falsch, ob sie ihm gerecht werden oder nicht.
Der Text besitzt eine Autorität gegenüber den Interpretationen, er ist Schiedsrichter, Instanz und Kriterium für konkurrierende Interpretationen. Zwar ist er selbst stumm, aber die Interpreten sprechen (stellvertretend) für ihn.
7. Das dualistische Modell der Interpretation ist nicht nur in philosophischen Diskursen dominant, es bestimmt auch viele Lehr-Lern-Situationen, etwa in Seminaren auf Universitäten.
Ein Beispiel: Ein Student schreibt eine Seminararbeit über die Kritik der reinen Vernunft (oder über einen Abschnitt daraus). Der Professor beurteilt die Interpretation des Studenten. Üblicherweise beurteilt er sie danach, ob in ihr die Grundgedanken richtig erfasst werden, ob der Student den Text verstanden hat, ob er andere Literatur berücksichtigt und die Arbeit in einen bestimmten Kontext stellt und auch, ob er klar, folgerichtig und nachvollziehbar argumentiert.
Nach dualistischem Selbstverständnis prüft/beurteilt der Professor die Interpretation des Studenten vor allem „am“ Text (zusätzlich werden vielleicht noch Stil, Länge der Arbeit und Rechtschreibung beurteilt). Aber was heißt es, dass die Interpretation „am“ Text geprüft wird? Wie soll das gehen? Der Professor hat ja selbst den Kant-Text schon vor dem Kant-Seminar und damit vor der Studenteninterpretation interpretiert, er besitzt also eine bestimmte vorgefasste Kant-Interpretation und dazu eine gewisse Kenntnis der Kant-Literatur, sonst hätte er das Seminar vermutlich gar nicht erst angeboten. Das professorale Vorwissen und Mitwissen kann nicht ausgeblendet werden und bildet, auch wenn es nicht explizit gemacht wird, zusammen mit dem Text die Referenzbasis für die zu beurteilende Kant-Interpretation des Studenten.
Eine intersubjektiv verbindliche Zuordnung von Spracheinheiten zu Text und Interpretation und den damit verbundenen Ebenen ist schwierig.
Dieses „tacit knowledge“, dieses unterschwellige Wissen ist sogar notwendig, um die Arbeit des Studenten beurteilen zu können. Warum? Der Kant-Text allein ist nicht urteilsfähig, er spricht auch nicht selbst (und Kant steht als Interpret seines eigenen Textes nicht mehr zur Verfügung).
Das Referat des Studenten wird also in der Praxis nicht „am“ Text beurteilt: Der Text bildet die gemeinsame Ausgangsbasis sowohl für die Studenten- als auch für die Professoreninterpretation. Der Professor beurteilt die Interpretation des Studenten vielmehr ausgehend von seiner eigenen professoralen Textinterpretation und, allgemeiner, von seiner „Lehrmeinung“ aus, der eine höhere Autorität zukommt als der Meinung des Studenten. Nur in seltenen Fällen wird die Interpretation des Studenten eine Meinungsänderung beim Professor bewirken und dazu führen, dass dieser seine bisherige Eigeninterpretation ändert.
8. Wenn der Professor die Kant-Interpretation des Studenten beurteilt, kann sich diese Beurteilung in einer schlichten Benotung manifestieren oder, wenn es sich um eine Qualifikationsarbeit handelt, in einem umfangreichen Gut- oder Schlechtachten. Mit dieser Beurteilung interpretiert der Professor auch die Interpretation des Studenten. Damit bekommt die Interpretation des Studenten sozusagen „for the time being“ den Status eines Textes.
Im dualistischen Modell verhält sich nun die Interpretation des Studenten zur Beurteilung/Interpretation des Professors wie ein Text zur Interpretation. Aber davon ist nicht die Rede: Der Professor wird nicht sagen, dass er seine Interpretation der Studenteninterpretation auf diese bezieht und an dieser beurteilt.
Der Student mag dies vielleicht tun, vor allem wenn die professorale Beurteilung kritisch ausfällt, aber er wird dafür nur schwerlich Gehör bekommen und darum seine Beurteilung der Beurteilung seiner Interpretation des Textes durch den Professor nur in seltenen Fällen etwa als Beschwerde über eine ungerechte Beurteilung/Interpretation vorbringen.
9. Das dualistische Interpretationsmodell basiert auf der Idee der Referenz von Interpretationen auf den Text und einer daraus- und nachfolgenden Beurteilung der Interpretationen. Dabei wird oft nicht berücksichtigt, dass der Beurteilung einer Interpretation als wahr oder falsch, zutreffend oder unzutreffend, stimmig oder unstimmig zwei Interpretationen vorausgehen: nämlich in unserem Beispiel die Studenteninterpretation und die oft nicht ausdrücklich geäußerte professorale Interpretation (des Kant-Textes). Diese beiden Interpretationen konkurrieren implizit miteinander, die Interpretationshoheit liegt jedoch beim Professor.
Die Interpretation des Studenten wird also nicht am Text beurteilt, sondern an ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit der Eigeninterpretation des Professors, wobei beide Interpretationen – Studenteninterpretation und professorale Eigeninterpretation – mit dem Text kompatibel sind.
10. Der Professor interpretiert die Interpretation des Studenten, der den Kant-Text interpretiert. Er sagt zwar, dass er die Interpretation des Studenten am Kant-Text beurteilt/interpretiert, aber dazu muss der Text um die Professoreninterpretation „angereichert“ werden, mit ihr kombiniert werden. Erst von dieser Kombination aus beziehungsweise auf diese hin kann nun die Interpretation des Studenten beurteilt werden. Dabei mutiert die Studenteninterpretation durch die professorale Beurteilung/Interpretation zum Text.
11. Kurz gefasst: Der dualistische Philosoph und Professor interpretiert den Studententext auf der Basis seiner eigenen Kant-Interpretation. Indem er diese mit dem Kant-Text kombiniert und der Studenteninterpretation voraussetzt, kann er sozusagen die Studenteninterpretation „objektiv“ „am Text“ beurteilen: Von dieser depersonalisierten Eigeninterpretation aus erfolgt die Beurteilung der Studenteninterpretation. Und das Ergebnis dieser Beurteilung ist absehbar: Insofern diese von der professoralen Interpretation abweicht, entspricht sie nicht dem Text, wurde der Text nicht verstanden, fehlinterpretiert, nicht richtig erfasst etc.
12. Welchen Unterschied macht nun ein nondualistisches Interpretationsmodell? Auch Nondualisten leiten Seminare und beurteilen die Referate/Interpretationen ihrer Studierenden.
Der Nondualist versucht nicht, die Seminararbeiten „objektiv“ und „am“ Text zu beurteilen. Für den Nondualisten verhält sich der Text zur Interpretation wie eine Interpretation so far zu einer Interpretation from now on. Jede Interpretation des Textes bildet im Verein mit dem Text einen neuen Text für weitere Interpretationen.
Der Kant-Text, den der nondualistische Professor dem Studenten zur Interpretation vorlegt, bildet eine gemeinsame Ausgangsbasis für nachfolgende Interpretationen: Der Text ist neutralistisch, er erlaubt jede Interpretation, die von ihm gemacht wird und hat keine selektive Kraft. Die Professoreninterpretation hat nichts Zwingendes und beruft sich nicht auf eine angeblich neutrale Bezugsbasis, die nichts anderes ist als die Eigeninterpretation noch einmal.
13. Sind also in einem nondualistischen Modell alle Interpretationen gleich gültig? Nun, für den Text sind die Interpretationen gleich gültig. (Zumindest schweigt er sich darüber aus.) Das heißt aber bloß, dass der Text allein als Entscheidungsbasis untauglich ist, um zwischen konkurrierenden Interpretationen zu entscheiden.
Vielleicht können wir die Entscheidungsbasis (erkenntnis-)entscheidungskräftig machen, indem wir sie erweitern und den Text mit Hilfe einer zusätzlichen Interpretation angeben und präsentieren? Damit gewinnt der Text zwar Entscheidungskraft: Aber bloß für die eigene Interpretation und gegen abweichende Interpretationen. Da jedoch dieser Argumentationsschritt allen konkurrierenden Interpreten offensteht, führt er in Pattstellungen und ist diskursiv nur dann wirksam, wenn die Interpretationsmacht ungleich verteilt ist – also etwa, wenn ein Professor Studenteninterpretationen beurteilt.
14. Dualistische Philosophen operieren mit zwei unterschiedlichen Ebenen: mit einer Textebene und einer darüber liegenden Interpretationsebene. Diese Ebenen dürfen nicht verwechselt werden, damit Referenz gelingt und Geltungsansprüche eingelöst werden können. Aber eine kontinuierliche Unterscheidung der beiden Ebenen ist nicht einfach, da die Belegung der Ebenen häufig wechselt: Interpretationen, die beurteilt/interpretiert werden, mutieren zu Texten und wechseln von der Interpretationsebene auf die Textebene.
In unserem Seminarbeispiel ist die Interpretation des Studenten für den interpretierenden Professor Text und gehört damit auf die Textebene. Für den Studenten bleibt dagegen seine Interpretation des Kant-Textes auf der Interpretationsebene. Eine stabile oder gar intersubjektiv verbindliche Zuordnung von Spracheinheiten zu Text und Interpretation und den damit verbundenen Ebenen ist sehr schwierig.
15. Nun wird im dualistischen Interpretationsmodell die Möglichkeit und Realisierbarkeit einer dichotomischen Unterscheidung zwischen Text und Interpretation vorausgesetzt. Wenn wir zwischen Text und Interpretation nicht zuverlässig unterscheiden können, dann sind auch Geltungsansprüche von/auf Interpretationen mit Bezug auf den Text in Konfliktsituationen nur schwer zu argumentieren oder gar durchzusetzen. Aber vielleicht ist die Möglichkeit einer solchen dichotomischen Unterscheidung bloß eine Unterstellung?
16. Wie können wir in einer Text-Interpretationssituation zwischen Text und Interpretation unterscheiden?
Das ist gar nicht so einfach: Während einer Interpretation können wir zwischen dem Text, den wir interpretieren, und der Interpretation des Textes, die wir leisten, nicht unterscheiden. Und wie ist es nach der Interpretation des Textes? Können wir nach der Interpretation zwischen Text und Interpretation unterscheiden? Das können wir: Aber nur innerhalb einer Interpretation von {Text und Interpretation} – und damit sind wir wieder in einer Interpretationssituation, in der wir für die Dauer dieser Interpretation nicht zwischen {Text und Interpretation} und der Interpretation von {Text und Interpretation} unterscheiden können. Solange wir interpretieren, sind wir immer in einem „Während“ der Interpretation. Eine Unterscheidung zwischen Text und Interpretation ist also nur innerhalb einer neuerlichen Interpretation möglich und bringt damit erkenntnistheoretisch keine Verbesserung für ein dualistisches Interpretationsmodell.
(Wir können zwar problemlos zwischen der Kritik der reinen Vernunft, die im grünen Einband und mit deutlichen Lesespuren auf dem Schreibtisch liegt, und dem Computerausdruck der Interpretation unterscheiden – aber damit wird nicht zwischen Text und Interpretation unterschieden, sondern bloß zwischen einem Buch auf dem Schreibtisch und einem Computerausdruck.)
17. Jeder Unterscheidung geht eine Nicht-Unterscheidung voraus. Unterscheidungen basieren auf Nicht-Unterscheidungen.
18. Unterscheidungen zwischen Text und Interpretationen gelingen, wenn zwischen dem Text und den Interpretationen anderer, etwa von Studierenden, unterschieden wird. Relevant wird diese Unterscheidung, wenn der Text durch die Eigeninterpretation urteilsstark gemacht wird.
Der Text und die Eigeninterpretation gehen der zu beurteilenden Interpretation des Studenten voraus. Dabei bleibt die Eigeninterpretation meist unausgesprochen – sonst würde dem Studenten die Chance auf eine bessere Interpretation vorweggenommen. Wir bewerten die Interpretation des Studenten ja auch danach, ob sie etwa unter der Textoberfläche verborgene Inhalte und Intentionen herausarbeitet, die wir schon kennen… Die Studierenden werden meist danach beurteilt, ob sie das wissen, was der Professor schon weiß. Und dazu gehört auch, dass wir den Studierenden nicht im Vorhinein schon alles sagen, was wir wissen: Unser Vorwissen, unser Wissensvorsprung bestimmt die Beurteilung ihrer Interpretationen. Und diese Beurteilungsbasis würden wir preisgeben, wenn wir sie mit den Studierenden teilen.
19. Dualistisches und nondualistisches Interpretationsmodell unterscheiden sich auch durch die Reichweite der Geltungsansprüche, die von Interpreten erhoben werden.
Im dualistischen Modell reichen Geltungsansprüche auf Wahrheit, Richtigkeit, Entsprechung oder Übereinstimmung für die Eigeninterpretationen über diese hinaus und sind interpretationstranszendent. Interpretationen können konfligieren, weil sie auf den gleichen Text gerichtet sind und sich ihre Geltungsansprüche überschneiden.
Im nondualistischen Modell beschränken sich die Geltungsansprüche auf die Interpretationen. Die Interpretationen erheben keine Ansprüche, die über sie hinausreichen und konkurrierenden Interpretationen ihren Platz im Diskurs streitig machen. Sie beanspruchen nicht, dass Interpretationen in Bezug auf den Text richtiger oder zutreffender sind als andere. Sie beanspruchen vielleicht, bleibender oder überzeugender zu sein – aber diese Ansprüche sind argumentationsimmanent.
20. Ein gravierender Unterschied zwischen den beiden Modellen liegt auch in der Richtung der Interpretationen:
Im dualistischen Modell sind die Interpretationen auf den Text gerichtet und damit auf die (untenliegende, aber übergeordnete) Instanz, die bestimmt, ob die Interpretationen dem Text entsprechen, ihm gerecht werden oder nicht, richtig sind oder falsch. Diese Instanz kann nur mit Hilfe einer Interpretation soweit differenziert werden, dass sie im Konfliktfall wirkungsmächtig werden kann: Da für diese Differenzierung aber jede Interpretation herangezogen werden kann, die ein Proponent vertritt, geraten konkurrierende Interpretationen damit in Pattsituationen, die, wenn überhaupt, nur durch den Einsatz von Interpretationsmacht oder Deutungshoheit aufgelöst werden können.
Die dualistischen Interpretationen sind rückwärtsgewandt, wobei sich spätere Interpretationen auf frühere beziehen und diese auf einen vorausgesetzten Text, mit dem es übereinzustimmen gilt. Aber das ist keine große Kunst, da diese Übereinstimmung ja für jeden Text zu haben ist – und das auch gegen andere Interpretationen, wenn diese vom Text mit Hilfe der Eigeninterpretationen ausgeschlossen werden.
21. Im nondualistischen Modell gehen die Interpretationen vom Text aus. Der Text ist selbst wieder Interpretation eines anderen Textes. Interpretationen sind Interpretationen von Interpretationen, wobei die vorgängigen Interpretationen in die nachfolgenden inkorporiert werden. Das ist keine rein akkumulative Vorgangsweise: Eine Interpretation from now on wandelt/ändert den Text, die Interpretation so far, in einen neuen Text, der in einem offenen Prozess weiter interpretiert werden kann. Es geht hier nicht wie im dualistischen Modell um eine Einschränkung, um eine Reduktion der Interpretationen in Richtung auf die eine wahre oder bessere Interpretation. Ziel ist nicht eine Interpretation, die mit dem Text stärker übereinstimmt, ihn besser erfasst, ihm eher entspricht als andere: Ziel ist, wenn überhaupt, die Änderung des interpretativen Status quo in neue, weiterführende Interpretationen und nicht seine Erhaltung oder gar Verfestigung.
Die Hoffnung, dass sich die besseren Interpretationen behaupten werden, ist nur die Hoffnung, dass sich die eigenen Interpretationen behaupten werden. Und die Idee, dass sich die wahren oder richtigen Interpretationen durchsetzen werden, ist nichts weiter als der Wunsch, dass sich zumindest „in the long run“ die eigenen Interpretationen durchsetzen werden und nicht die unserer Konkurrenten.
22. Die Idee der „besseren“, „richtigen“ oder gar „wahren“ Interpretation ist wenig mehr als die Idee der zuletzt präferierten Interpretation. Wenn ich an der Interpretation eines Textes arbeite, werden meine Gedanken oft zum Text zurückkehren, von dem ich ausgehe – aber dieses Wechselspiel ist auch ein Hin-und-Her-Überlegen, ob das, was ich sage, stimmt, stimmig ist oder nicht: Und die Hin-und-Her-Überlegungen – das sind Interpretationen, zwischen denen ich schwanke. Wenn ich mich dann endlich für eine Interpretationsvariante entscheide, kann das mit vielem zu tun haben: mit Zeitnot, weil mir nichts Besseres einfällt, oder einfach damit, dass ich eine einheitliche Gedankenlinie vertreten und keine Widersprüche zulassen möchte. Einmal ist eben Schluss, und die zuletzt vertretene Interpretation ist dann jene, bei der ich bleibe, bis auf weitere.
23. Die Unterschiede zwischen den beiden Interpretationsmodellen sind verschieden groß, je nachdem, ob sie von Befürwortern des dualistischen oder des nondualistischen Interpretationsmodells bestimmt werden.
Für einen Dualisten sind die Unterschiede riesengroß. Sein Modell beruht darauf, dass die Interpretationen auf den Text hin gerichtet sind: damit besteht im Falle von konkurrierenden Interpretationen die Möglichkeit, die Idee der besseren, richtigen oder gar wahren Interpretation umzusetzen und zu realisieren. Der Dualist entwirft ein düsteres nondualistisches Szenario: Die Verwechslung oder gar Leugnung der verschiedenen Ebenen eines (Interpretations-)Diskurses führe in ein haltloses „Anything goes“ und in einen grenzenlosen Relativismus. Ob etwa die Kant-Interpretation eines Studenten zutreffend ist oder eine Fehlinterpretation, das hänge dann nicht mehr vom Text ab, sondern von der Beurteilung durch den Professor, gleichgültig, ob diese ein Sachurteil und/oder ein Fachurteil ist oder bloße Willkür zum Ausdruck bringt. Jeder könne alles behaupten, unsere Diskurse würden ziel- und orientierungslos. Interpretativer Wildwuchs könne nicht mehr durch Referenz auf den Text zusammengestutzt werden, Widersprüche würden überhand nehmen und der Beliebigkeit Tür und Tor öffnen …
24. Ein Nondualist setzt die Unterschiede viel geringer an. Die Unterschiede zwischen dualistischem und nondualistischem Interpretationsmodell sind Unterschiede zwischen verschiedenen philosophischen Argumentationstechniken und dem Vokabular, das sie verwenden.
Solange keine konkurrierenden Interpretationen vorliegen, mutet ihn zwar das begriffliche Gerüst des Dualisten eher merkwürdig und unnötig komplex an. Es ist aber das Ergebnis einer Ausdifferenzierung durch die Erkenntnisanstrengungen vieler Philosophengenerationen. Die Verzweigungen in verschiedene Schulen führen dazu, dass grundsätzliche Fragen kaum mehr gestellt werden.
Das dualistische Begriffsinstrumentarium und die dazugehörigen Ebenen werden erst dann aktiviert, wenn Konflikte zwischen Interpretationen und zwischen Beurteilungen von Interpretationen auftreten. Durch die Dualisierung der Interpretationssituation können beliebige Interpretationen als wahr-richtig-zutreffend ausgewiesen werden, sofern – und das ist die einzige Einschränkung – diese mit der jeweiligen Eigeninterpretation kompatibel sind. Die Eigeninterpretation wird gegen Kritik immunisiert, da sie sich durch die aufeinander bezogenen Ebenen von Text und Interpretation die notwendigen Entsprechungen (in einem Jenseits der Interpretation) sichern kann.
Das nondualistische Modell arbeitet weder mit Ebenen und Bezügen noch mit Depersonalisierungen, Setzungen im Voraus und Entsprechungen. Wenn Nondualisten eine Interpretation einer anderen vorziehen, dann geht es um Präferenz und nicht um Referenz.
25. Die Entscheidung zwischen einem nondualistischen Präferenzmodell der Interpretation und einem dualistischen Referenzmodell ist auch eine Entscheidung für eine bestimmte Argumentationstechnik und das mit ihr verbundene Begriffsvokabular. Die philosophische Ausbildung hat bislang fast ausschließlich das dualistische Modell propagiert und versucht, dieses Modell als conditio sine qua non des rationalen Diskurses zu etablieren – und es ihm damit zu entziehen. Die nondualistische Alternative macht dieses Modell zu einer Option, wir können uns für sie entscheiden, aber auch dagegen.
Anmerkung: Ich danke Franz Ofner, der auch die Entstehung dieses Textes kritisch begleitet hat