Paradoxien des Neuen

Zum Stand der Dinge im Fluss. Von Josef Mitterer

Online seit: 10. Dezember 2019

Glaubst Du eigentlich, dass dereinst auf einer Marmortafel zu lesen sein wird: „Hier enthüllte sich am 24. Juli 1895 dem Dr. Sigmund Freud das Geheimnis des Traumes.“
Sigmund Freud in einem Brief an einen Freund

Nichts veraltet so schnell wie das Neue.
Achim Landwehr

1. Ständig, ja laufend, kommt Neues in die Welt. Das Problem ist, dass wir immer nur Beispiele dafür angeben, wie Neues in die Welt gekommen ist, aber nicht, wie es in die Welt kommt. Und wenn es da ist, dann hört es schnell auf neu zu sein. Eine Prognose, wie das Neue in der Zukunft in eine Welt von morgen kommen wird, ist wenig zuverlässig. Wir müssen also die Spuren des Neuen aus der Vergangenheit in der Gegenwart suchen. Und dafür stehen die Chancen nicht schlecht, oder?

2. Das Neue hat einen ungemein flüchtigen Charakter. Kaum wird es festgestellt, schriftlich festgehalten und ist also in der Welt angekommen, wird es schon wieder überholt und hört auf neu zu sein.

Vielleicht wird Neues erst dann begreifbar, wenn wir es verorten und verzeitlichen. Wir sollten daher die Frage „Wie kommt Neues in die Welt?“ ergänzen um die Fragen „Wann & Wo?“ und dazu noch fragen, wie verhindert wird, dass Neues in die Welt kommt – wobei die letzte Frage wohl am leichtesten beantwortet werden kann.

3. Datierungen von neuen Ideen sind oft schwierig und Eigendatierungen sind besonders unzuverlässig. Zwar ist eine Datierung/Lokalisierung von Sigmund Freuds Traumerlebnis unkontrovers, dank des Briefes an den Freund in Berlin und der Gedenktafel, die 1977 am Kahlenberg in Wien enthüllt wurde. Aber die Autor- und Urheberschaft vieler Ideen, Entdeckungen und Erfindungen wurde von anderen, Zeitgenossen und Nachfahren, immer wieder infrage gestellt. Und wer hätte schon nicht gerne diese oder jene Idee früher gehabt als andere, zumindest avant la lettre

4. Prioritätsstreitigkeiten durchziehen die Geistesgeschichte, vom berühmten Konflikt zwischen Leibniz und Newton um die Erfindung des Infinitesimalkalküls bis zur Frage, ob Thomas Kuhn die Ideen zum wissenschaftlichen Wandel selbst eingefallen sind oder ob sie von Ludwik Fleck und/oder Michael Polyani vorgedacht wurden. (Und ein großer Teil der Auflage von Ludwik Flecks Die Entstehung oder Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache wurde zu einem Zeitpunkt makuliert, als das Buch von Thomas Kuhn bereits zum Welterfolg wurde.)

Auch außerhalb der Wissenschaft gibt es in vielen Bereichen der Wirtschaft Patentstreitigkeiten und Urheberrechtskonflikte, nicht nur zwischen Apple und Samsung oder in der Pharmaindustrie, besonders häufig etwa zwischen Komponisten erfolgreicher Musikstücke in der U-Musik.

Im wissenschaftlichen Alltag ist Ideenklau gang und gäbe und der Ideenfluss aus assistierenden Nachwuchsköpfen in erschöpfte Professorenhirne nimmt im universitären Bereich durch neue Hierarchien und Abhängigkeiten immer stärker zu.

5. Wo ist Neues lokalisierbar, wo findet Neues statt? In den Entwicklungsabteilungen von Vevey oder Palo Alto, in den Labors von Universitäten und Pharmakonzernen? In Patentämtern? Oder sollen wir besser wissenschaftliche Vorträge und Publikationen als Ort des Neuen bestimmen? Auch das ist nicht so einfach. Ökonomisch und technisch vielversprechende Ideen werden oft in Hauszeitschriften vorpubliziert, um zu verhindern, dass sie auf dem Weg zur Veröffentlichung in wissenschaftlichen Journalen von Peer-Reviewern oder sonstigen Konkurrenten vereinnahmt werden.

In Zeitschriften wie Nature oder Science beträgt die Ablehnungsrate für eingereichte Artikel nahezu neunzig Prozent … Aber sind deswegen die Veröffentlichungen in solchen Zeitschriften eher ein Garant für Neues oder vorwiegend wissenschaftlicher Mainstream, wie der Chemienobelpreisträger Roger Tsien 2010 in Alpbach meinte, dessen entscheidende Arbeiten vor der Verleihung des Preises von „Leading Journals“ abgelehnt wurden.

„Neue Vermutung: Die Pinguinpopulation in der Antarktis ist größer als bisher vermutet.“

6. Wie geht der Einfall einer neuen Idee vor sich? Kommt eine neue Idee einmal als Licht- oder genauer als Gedankenblitz, spontan, dann wieder erst nach langem Grübeln; entdecken wir ihre Neuheit sofort oder wird uns diese erst im Nachhinein bewusst, dann wenn die Idee schon nicht mehr neu ist? Ist mit dem In-die-Welt-Kommen einer neuen Idee ein bestimmtes Gefühl verbunden, gar so etwas wie ein intellektueller Orgasmus, der mit dem Alter immer seltener wird.

Ab wann gibt es eine neue Idee? Mit dem Zeitpunkt des Einfalls oder dann, wenn sie ausgesprochen wird oder erst mit ihrer Veröffentlichung? Und bis dahin hat sie sich schon oft verändert. Ludwik Fleck hat die vielen Umgestaltungen und Mutationen neuer Ideen geschildert, von ihrem Einfall über Diskussionen mit Kollegen, ihrer Vorstellung auf Kongressen, ihrem Abdruck in Zeitschriften bis zu ihrer Aufnahme in ein Lehrbuch.

7. Wie wertvoll Ideen sein können, genauer: ihre Erstveröffentlichung: das zeigen die Preise für alte Bücher. Die Erstausgabe von Adam Smiths The Wealth of Nations ist kaum unter 100.000 Euro zu haben, jene von Kants Kritik der reinen Vernunft kostet je nach Zustand und Kaufglück 10.000 Euro und mehr, aber schon die Zweitausgabe von 1787 ist nur noch 2.000 Euro wert und spätere Auflagen noch aus Kantens Lebzeiten sind für ein paar hundert Euro wohlfeil.

Für Erstdrucke von Artikeln von Einstein, Turing, Crick & Watson werden tausende Euros bezahlt, aber zum Zeitpunkt ihrer Erstveröffentlichung waren sie nicht teurer als die Nachdrucke von heute. Wittgensteins Tractatus blieb in der englischen Erstausgabe jahrelang liegen und wird inzwischen mit Umschlag für 10.000 Euro gehandelt.

Das Neue kann also zumindest ökonomisch besonders wertvoll werden – aber erst, wenn es schon lange nicht mehr neu ist. In der Architektur hat das Neue dann den Durchbruch geschafft, wenn es unter Denkmalschutz gestellt wird.

8. Das Neue hat es schwer, auch und gerade dort, wo es am ehesten zuhause sein sollte: in den Institutionen der Bildung, auf den Universitäten.

Eine Tendenz zur Verhinderung des Neuen setzt bereits mit der Erziehung ein: Diese Erziehung ist immer auch eine Erziehung zur Wahrheit und damit eine Erziehung zur Wahrheit des Erziehers, der Erziehungsberechtigten: Schon die Eltern hatten Angst vor der Neugier ihrer Kinder; die Lehrer vor dummen Fragen ihrer Schülerinnen, die Professoren vor der Infragestellung ihrer Theorien und die Vertreter der Religion haben Angst um das Sorgerecht für unsere Seelen.

In der Erziehung zur Wahrheit ist Konsens – wahrer Konsens – besser als Dissens, und eine Wahrheit besser als viele Irrtümer. Es geht um Übereinstimmung mit dem Wissen, das der Vorgesetzte schon hat, und eine Abweichung vom status quo dieses Wissens wird sanktioniert.

9. Die Gesellschaft und die scientific community im Besonderen haben eine Reihe von Abwehrmechanismen entwickelt, um sich vor dem neuen und damit auch vor einer Infragestellung ihrer Identität als Gemeinschaft zu schützen.

Zwar gibt es Preise für Innovation, für herausragende Forschungsleistungen – aber Gewinner sind wohl in den seltensten Fällen junge Wissenschaftlerinnen, die das Denken der Preisverleiher infrage stellen.

Das Neue wird in der akademischen Welt erst lange im Nachhinein gewürdigt, also dann, wenn es Eingang in den Wissenskorpus gefunden hat und dem Bestehenden nicht mehr gefährlich werden kann. Auch Nobelpreise werden häufig für Leistungen verliehen, die bereits Jahrzehnte zurückliegen.

Im wissenschaftlichen Alltag ist Ideenklau gang und gäbe und der Ideenfluss aus assistierenden Nachwuchsköpfen in erschöpfte Professorenhirne nimmt im universitären Bereich immer stärker zu.

10. An einer Eliteschule werden den Kindern für Fragen zum Lehrstoff Punkte abgezogen, weil sie damit entweder zeigen, dass sie nicht verstanden haben, was gelehrt wurde, oder nicht aufgepasst haben.

In einem Seminar wird einer Studentin vorgeworfen, sie wolle Hume kritisieren und habe noch nicht einmal ein Diplom.

Nach Veröffentlichung der Traumzeit von Hans Peter Duerr stiegen die Studierendenzahlen in Ethnologie sprunghaft an, aber dem Autor wurde von den Peers seiner Zunft ausgerichtet, er gehöre ins Feuilleton und nicht auf die Universität.

Richard Rorty konnte eines der originellsten philosophischen Werke der letzten Jahrzehnte, Philosophy and the Mirror of Nature, im Verlag seiner Universität nur nach großen Schwierigkeiten publizieren, auch weil sonst die deutsche Übersetzung vor dem amerikanischen Original erschienen wäre – und Studierenden in Princeton wurde von einer Promotion bei ihm abgeraten mit dem Hinweis, das könne ihrer Karriere schaden.

11. Die Abwehr des Neuen dient auch dem Schutz der Identität der wissenschaftlichen und kulturellen Gemeinschaften. Status quo-freundliche Forschung wird unterstützt, kritisches Denken wird sanktioniert.

Durch die Verschulung des Studiums, durch immer umfangreichere Voraussetzungen werden Erkenntnisbremsen eingebaut, wird eine Verlangsamung des wissenschaftlichen Wandels erreicht. Die Gesellschaft verträgt Wandel nur beschränkt, ohne Gefahr zu laufen, sich infrage zu stellen und ihre Identität zu gefährden.

12. Trotz vieler Reformversuche und kritischer Alternativen von Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld und anderen funktioniert das Unterrichtssystem auch an den Universitäten in der Praxis häufig so, dass die Professoren das lehren, was sie selbst schon wissen und die Studierenden müssen dann das so erworbene Wissen bei Prüfungen und Seminararbeiten unter Beweis stellen. Eine grundsätzliche Infragestellung des status quo wird nahezu unmöglich.

Konstruktive Fragen sind erwünscht – also Fragen, die „uns weiterbringen“, „Verständnisfragen“ – aber nicht Kritik, die Grundsätze und Voraussetzungen hinterfragt und uns hinter den erreichten Stand der Dinge zurückwirft.

13. Von akademischen Qualifikationsarbeiten für den Grad eines Bachelors oder Masters wird ausdrücklich nur verlangt, dass sie den Forschungsstand wiedergeben – und das ist aber nichts weiter als der Forschungsstand, den die Betreuer schon haben. Wenn es jedoch um Doktorarbeiten oder gar um Habilitationen geht, dann werden sogar von Gesetzes wegen neues Wissen und neue Erkenntnisse gefordert. Eine Dissertation müsste also zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen führen, um approbiert zu werden. Ob aber ein solches neues Wissen vorliegt, das über den bisherigen Erkenntnisstand hinausgeht, wird von genau jenen beurteilt, die nur über den bisherigen Wissensstand verfügen. Das Vorliegen neuen Wissens wird also in der Praxis von Wissenschaftlern/Betreuerinnen geprüft, die dieses neue Wissen selbst nicht haben.

Das heißt: Das Wissen from now on wird auf der Basis des Wissens so far beurteilt: Die neuen Erkenntnisse werden von den bisherigen Erkenntnissen aus beurteilt. Das ist paradox, vor allem unter Zugrundelegung der üblichen Vorstellung von Erkenntnisfortschritt in den Wissenschaften, derzufolge das Mehrwissen in der Zukunft liegt und die nächste Generation grundsätzlich mehr weiß als die frühere. Rückschläge sind möglich, aber im großen und ganzen nimmt unser Wissen zu, nicht nur kumulativ sondern auch qualitativ. Solange dieses „neue“ Wissen eine bloß kumulative Fortsetzung bisherigen Wissens ist, kann dies wohl noch „positiv“ beurteilt werden, wenn aber das neue Wissen dem bisherigen Wissen widerspricht, also bisherige Wissensansprüche zurückweist, dann führt das in Konflikte, die durch professorale Autorität entschieden werden.

Während also bis zum Doktorat nur eine Wiedergabe von schon vorhandenem Wissen verlangt wird, soll ab diesem Zeitpunkt (auch) ein neues Wissen, ein Wissen from now on eingebracht werden, das der Betreuer nicht beurteilen kann, weil er es nicht hat.

Das spätere, „neue“ Wissen wird also vom früheren, „alten“ Wissen aus beurteilt: und wenn es sich in dieses nicht einfügt, dieses nicht bloß kumulativ vermehrt, dann wird es meist abgelehnt werden und in den akademischen Diskurs nicht Eingang finden.

Die Beurteilung von Dissertationen geschieht vom Wissensstand des Beurteilers aus und nicht von jenem des Beurteilten. Inzwischen werden kumulative Dissertationen immer beliebter: hier ist dann der Betreuer in der Regel Ko-Autor der Artikel, die zu einer Dissertation zusammengefasst werden. Eine Kritik an den Auffassungen so far durch die Dissertantinnen ist damit nicht mehr vorgesehen, ja praktisch unmöglich. Kürzlich hat eine junge wissenschaftliche Mitarbeiterin dies so beschrieben: „Bei uns geht es um Fakten und nicht um Meinungen“, daher komme es auch nicht zu Meinungsverschiedenheiten zwischen ihr und ihrem Betreuer.

Die Abwehr des Neuen dient auch dem Schutz der Identität der wissenschaftlichen und kulturellen Gemeinschaften.

14. In Übereinstimmung mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisideal beurteilen also Ältere Jüngere dahingehend, ob sie von diesen in ihren Erkenntnissen überholt werden oder nicht: da die Beurteilungsmacht bei den Älteren (den Ausbildungsberechtigten) liegt, wird das Ergebnis in den meisten Fällen den Status quo stützen und nicht einen Wandel fördern: das heißt, dass die neuen Erkenntnisansprüche der nächsten Generation solange als möglich zurückgewiesen werden. Diese Beurteilung durch Peers setzt sich auf akademischem Boden auch dort fort, wo es um die Besetzung neuer Professuren geht: auch hier urteilen in den Berufungskommissionen im allgemeinen ältere über die Leistungen von jüngeren Bewerberinnen. Das gleiche trifft auf die altehrwürdigen wissenschaftlichen Akademien zu, in denen alte Wissenschaftler jüngere darauf hin beurteilen, ob ihre Leistungen für eine Aufnahme in ihren Kreis herausragend genug sind.

Max Planck beschrieb die Situation, die sich bis heute wenig geändert hat, so: „Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass ihre Gegner allmählich aussterben und dass die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht wird.“

15. Interessant/problematisch ist diese Situation vor allem deshalb, weil die offiziellen Leitsätze des Wissenschaftsbetriebes propagieren, dass die Wissenschaft ausgerichtet ist auf das Ziel von Wahrheit und Erkenntnis und dabei regelmäßig Fortschritte macht: und der Fortschritt sich entsprechend dadurch auszeichnet, dass sich die Erkenntnis vermehrt und wir der Wahrheit näher kommen. Das sollten aber diesem Modell zufolge wohl jene beurteilen, die der Wahrheit schon am nächsten sind. Und das sind gerade nicht (mehr) die Peers: deren Wissensstand wurde ja durch den neuen Wissensfortschritt des akademischen Nachwuchses veraltet …

Trotzdem gibt es Chancen und Lücken: tolerante Professoren, Tricks, mit denen neues Wissen eingeschleust werden kann, oder einfach glückliche Zufälle, gar Missverständnisse, die das Neue begünstigen; wenn es aber dazu kommt, dass neue Erkenntnisse und Ideen in den herrschenden Wissensstand Eingang finden – und ihn damit verändern – so geschieht dies meist nicht wegen, sondern trotz des akademischen Regelsystems.

16. Das gebräuchliche Vokabular in den Wissenschaften betont die konservative Rolle der traditionellen Wahrheits- und Erkenntnissuche. Es ist ein Vokabular, das vor allem das wahrheitsorientierte Denken forciert, zur Verfestigung des status quo beiträgt und damit den wissenschaftlichen Wandel behindert. Dieses Vokabular setzt eine feststehende Wirklichkeit und Realität im Jenseits der wissenschaftlichen Diskurse voraus, die von den Theorien über sie unabhängig ist. Wie und wieweit diese Realität erkannt werden kann, darin unterscheiden sich die verschiedenen erkenntnistheoretischen Modelle.

Ich nenne dieses Vokabular auch dualistisches Vokabular: es geht um Setzungen im Voraus der wissenschaftlichen Diskurse, die nicht infrage gestellt werden dürfen, damit die Probleme nicht verloren gehen, die wir aus diesen Setzungen beziehen. Dieses Vokabular ist rückwärtsgewandt: Es bezieht sich auf eine vorgegebene Welt und Wirklichkeit und stützt den Stand der Dinge gegen Veränderungen. Zu diesem Vokabular zählen Ausdrücke wie: bestehen, entdecken, gegeben (vs. gemacht), feststellen, darstellen, bestehen, konstatieren, entstehen, Sachverhalt, Gegenstand, Tatsache.

17. Ein Vokabular des Wandels hat sich kaum entwickelt und würde eher mit Ausdrücken argumentieren, in denen Verlauf, Prozess und Änderung eine Rolle spielen. Die Wirklichkeit verläuft und besteht nicht, es sei denn, es gelingt, den Fluss der Dinge zu stoppen, wenn auch nur auf Zeit. Ein Fortschritt wäre nicht mehr ein Fortschritt auf ein Ziel hin, mit dem es übereinzustimmen gilt und mit dem im Konfliktfall immer die Eigenauffassungen übereinstimmen – sondern bloß ein Schritt fort von dort, wo wir sind/waren. Statt um Referenzen auf Gegebenes geht es um Präferenzen.

18. Der akademische Betrieb versucht eher den jeweils erreichten Wissensstand zu bewahren oder gar zu perpetuieren. Neue Auffassungen haben vor allem dann eine Chance in den bestehenden Wissensstand aufgenommen zu werden, wenn sie diesen nur wenig ändern und in den Kontext passen, den sie vorfinden.

Zwar ist es seit Kuhn modern geworden von neuen Paradigmen schon dann zu sprechen, wenn es bloß darum geht neue theoretische Konzeptionen gegen Kritik zu immunisieren oder einfach Aufmerksamkeit und Förderungen für die eigenen Forschungsprojekte zu erlangen – aber die wenigsten dieser zahlreichen Vorschläge für ein neues Paradigma und/oder einen Paradigmenwechsel werden von der scientific community übernommen.

19. Neues Wissen hat es schwer, in die Welt der Wissenschaft zu kommen. Wie kommt das Neue in die Öffentlichkeit, in die Welt der Medien? Diese sind ungleich offener für das Neue; sie müssen ja schon deshalb das Neue betonen und fördern, weil sie für alte Erkenntnisse kaum Interesse bei ihren Leserinnen finden würden. Dabei geht es weniger um theoretische Auseinandersetzungen als um Berichte über neue Forschungsergebnisse und Erkenntnisse. In diesen Artikeln werden oft nicht bloß neue Forschungsergebnisse berichtet, sondern auch über die damit verbundene Ablösung von alten Auffassungen und Theorien durch ihre Nachfolgerinnen.

Die neuen Entdeckungen, Erkenntnisse und Ideen treffen ja nicht auf einen leeren Forschungsraum: Es waren ja schon andere Auffassungen, Theorien, Ideen vor ihnen da. Diese Theorien werden durch die neuen Theorien veraltet und verdrängt, treten manchmal sogar an „ihre Stelle“. In den Medien – vor allem in den Wissenschaftsseiten von tagesaktuellen Medien und Wissenschaftsmagazinen, weniger in wissenschaftlichen Zeitschriften, treten dabei charakteristische Wendungen und Argumentationsweisen auf. Diese markieren die Differenz zwischen alten und neuen Auffassungen und bringen den Fortschritt, den Erkenntnisgewinn durch die neuen Auffassungen zum Ausdruck.

20. Einige Beispiele:
„Neue Studie: Der Rhein ist älter als angenommen.“
„HIV-Vorläufer ist älter als angenommen.“
„Fukushima-Reaktor schwerer beschädigt als angenommen.“
„Madrid ist 300 Jahre älter als angenommen.“
„Stonehenge ist jünger als angenommen.“
„Pandemie-Impfstoff gegen die Schweinegrippe wirkungsvoller als angenommen.“

Den neuen Erkenntnissen gehen jedoch nicht nur Annahmen voraus, sondern auch Gedanken und Vermutungen: „Die Pinguinpopulation in der Antarktis ist größer als bisher vermutet.“; „Stonehenge älter als gedacht“; oder: „Die Zahl der Diabetiker wächst stärker als gedacht.“; „Das Gehirn reinigt sich schneller als geglaubt.“; „Die Sonne fliegt langsamer durch den Weltraum als gedacht.“; „Klimawandel: Grönlands Gletscher schmelzen anders als gedacht.“

In der Architektur hat das Neue dann den Durchbruch geschafft, wenn es unter Denkmalschutz gestellt wird.

21. Auf den ersten Blick wirkt eine solche Berichterstattung einleuchtend, vor allem wenn wir nicht vom Fach sind, sondern bloß Konsumenten eines seriösen Wissenschaftsjournalismus. Was macht diese Formulierungen aber interessant? Nun, noch am Tag davor hätte die Überschrift des Berichtes auch anders lauten können, etwa so: „Fukushima-Reaktor weniger beschädigt als angenommen.“

„Madrid ist jünger als angenommen“ oder „Die Zahl der Diabetiker wächst weniger stark als gedacht“ oder „Stonehenge ist älter als angenommen.“

Es ist ja kaum jemals der Fall, dass zu einem Thema nur eine bestimmte Position vertreten wird. Aber die verschiedenen Auffassungen werden nicht mit dem gleichen Erkenntnisanspruch nebeneinander vertreten. Es heißt nicht: „Stonehenge ist entweder älter als gedacht oder jünger als gedacht, je nach Denkschule.“

Es heißt auch nicht: „Neue Vermutung: Die Pinguinpopulation in der Antarktis ist größer als bisher vermutet“ oder „Neue Annahme: Fukushima-Reaktor ist schwerer beschädigt als bisher angenommen.“

22. Die Vorgangsweise ist einfach die: Die neue, die nunmehrige Auffassung wird im Artikel in den Vordergrund gestellt – meist schon in der Überschrift – und sie wird der älteren Auffassung als Realität vorausgesetzt: auf diese Weise kann die ältere, vorhergehende Auffassung personalisiert werden: zur „bisherigen Annahme“, zur „bisherigen Vermutung“, zu dem, was „bisher gedacht“ oder „geglaubt“ wurde. Statt von einer Personalisierung der überholten Auffassung können wir auch von einer De-Realisierung sprechen: sie verliert den Realitätsstatus, den sie bis zur „Ankunft“ der neuen Auffassung noch hatte.

Die neue Auffassung ist ja ebenso eine Annahme wie die bisherige Auffassung: vor allem dann, wenn eine künftige, nächste Studie ergeben sollte, dass zum Beispiel der Fukushima-Reaktor durch das Erdbeben noch stärker beschädigt wurde als bisher angenommen.

Die argumentative Präsentation des Wandels in den Auffassungen geht so vor sich, dass die neue Auffassung depersonalisiert/realisiert wird: zur Tatsache, zur Wirklichkeit, zur Realität, die eben anders ist als bisher gedacht/vermutet/angenommen. Damit steht die neue Auffassung/Theorie zur früheren Auffassung im gleichen Verhältnis wie bis dahin die frühere Auffassung zu einer noch früheren Auffassung. Allein in den letzten dreißig Jahren wurden durch wechselnde Forschungsergebnisse das Alter der Menschheit, die Anzahl der Hominiden, der Klimawechsel und seine Auswirkungen mehrfach neu bestimmt.

23. Die Aufwertung/Realisierung der neuen Auffassung geht einher mit einer Abwertung/Degradierung/De-Realisierung der bisher neuen Auffassung. Durch die „neue“ neue Auffassung wird die „up to date“ neue Auffassung, zu einer früheren, vorhergehenden gemacht.

Für die Abwertung der bisherigen Auffassung zu einer Annahme muss jedoch die „neue“ Auffassung der älteren vorausgesetzt werden. Das geht leicht: Sie hat ja die alte Auffassung überholt und ist ihr damit voraus … Durch diese Apriorisierung kann sie als Entscheidungsbasis – mit negativem Ausgang – für die bisherige Auffassung fungieren.

24. Trotzdem: Das Neue hat es schwer. Wie lange dauert es? Ist das Neue vielleicht eine Chimäre und verschwindet, sobald wir es fassen? Der Erwerb des Neuen macht es alt. Ein neues Buch, heute gekauft, ist morgen nicht mehr neu und nur noch einen Bruchteil des Preises wert, sogar ein neues Auto verliert am Tag nach dem Kauf drastisch an Wert. Der neue Weltrekord ist morgen einen Tag alt. Der Moment der Neuheit währt kurz. Was geschieht mit den neuen Ideen am Abend, vor dem Einschlafen, die am nächsten Morgen unwiederholbar verschwunden sind? Hat es sie je gegeben? Wie viel Neuheit ist möglich? Ganz und gar Neues ist nicht denkbar. Wenn der Löwe plötzlich sprechen könnte, sagt Wittgenstein, wir könnten ihn nicht verstehen. Wie kann die Neuheit einer Idee bestimmt werden? Entweder von einer älteren Auffassung aus: vielleicht gar von jener, die durch diese neue Idee erst zu einer alten Auffassung gemacht worden ist: dann hat sie schlechte Karten. Oder von einer noch neueren Idee aus, mit der sie als neu gegenüber einer noch früheren bestimmt wird. In beiden Fällen wird die Neuheit der Idee a posteriori beurteilt – und hört damit auf, neu zu sein.

25. Ist also das Neue bloß eine Konstruktion, eine Erfindung im Nachhinein? Das Ergebnis einer Unterscheidung, die verschwindet, sobald sie gemacht wurde?

Anmerkung

Der Autor ist Philosoph und vertritt, dass Philosophie eine Argumentationstechnik ist, durch die beliebige Auffassungen als wahr oder richtig ausgewiesen werden können, sofern & solange sie vertreten werden und durch beliebige Gegenauffassungen als falsch kritisiert oder diskriminiert werden können. Es geht um Transparenz und nicht um Transzendenz.

In den Wissenschaften veralten Theorien, sie werden nach wenigen Jahrzehnten zu einem Teil der Wissenschaftsgeschichte. Dagegen bleiben in der Philosophie Texte aktuell, gleichgültig ob sie vor mehr als zweitausend Jahren geschrieben wurden oder erst jüngst erschienen sind. Es gibt zwar wechselnde Moden, aber keinen Fortschritt. Die Idee des Fortschritts ist nun einmal eine Grundidee von Wissenschaft und wahrheitsorientierte Philosophen sind aus verständlichen Gründen daran interessiert, Philosophie als Wissenschaft zu propagieren. Aber Philosophen geben als Beispiele für den Fortschritt in ihrer Disziplin immer nur an, dass früher vertretene Positionen/Theorien inzwischen aufgegeben worden sind. Nun können sie weder versprechen, dass solche Positionen nicht doch von irgendwelchen Mitgliedern ihrer Zunft weiter vertreten werden, noch können sie garantieren, dass eine solche Position nicht doch wieder aktuell werden kann. (Jüngst versuchte ein Philosophieprofessor einen Fortschritt in der Philosophie durch die Feststellung zu illustrieren, dass eine bestimmte Auffassung über Willensfreiheit, die von Moritz Schlick vertreten wurde, heute niemand mehr vertritt. Ich habe das einem Kollegen erzählt, der mir sofort sagte, das würde nicht stimmen, die Position würde weiterhin vertreten).

Neues Wissen hat es schwer in die Welt der Wissenschaft zu kommen.

Philosophen betonen gerne den wissenschaftlichen Charakter ihres Fachs, um ihre Position im akademischen Betrieb zu stärken. Vielleicht wäre eine andere Strategie zielführender: zu zeigen, dass es mit der Wissenschaftlichkeit der Wissenschaften gar nicht so weit her ist. Auch in den Wissenschaften manifestiert sich der Fortschritt bloß darin, dass Auffassungen von neuen Auffassungen abgelöst werden. Die Neuheit dieser Auffassungen liegt jedoch nicht etwa darin, dass sie einer Wahrheit näher sind als die vorhergehenden: sie sind der Wahrheit dann am nächsten wenn wir sie /hic et nunc/ vertreten: es sind ja genau diese Auffassungen, mit deren Hilfe wir die Realität angeben – mit welchen denn sonst? Dass andere Wissenschaftler andere Präferenzen haben, führt dazu, dass für die einen Rückschritt ist, was für die anderen ein Fortschritt ist. Die Wissenschaft als Fortschrittsunternehmen zu betrachten, heißt nichts anderes als den jeweils erreichten Stand der Dinge in ein Jenseits zu transferieren, in dem er von Kritikern nicht erreicht werden kann.

Aber das sind Argumentationstechniken und Immunisierungsstrategien, deren Beherrschung uns auch deshalb so selbstverständlich ist, weil sie von der wahrheitsorientierten Philosophie nicht infrage gestellt werden. Trotzdem sind Wissenschaft und Philosophie eng verbunden: Die Wissenschaft bedient sich, wenn auch unreflektiert, der argumentativen Methoden und Techniken der Philosophie. Vor allem in der wissenschaftlichen Grundlagenforschung ist der Philosophieanteil sehr hoch.

Der Versuch, eine neue Denkweise, in unserem Fall eine neue Philosophie, in den akademischen Diskurs einzuführen, ist nicht einfach: Eine Entscheidung für eine andere Philosophie ist immer auch eine Entscheidung für andere Probleme. Und es ist schwieriger neue Probleme attraktiv zu machen als neue Lösungen für alte Probleme vorzuschlagen. Unser Problembewusstsein lässt sich ja nicht beliebig erweitern – wer sich für neue Probleme entscheidet, wird bisherige Probleme aufgeben, zumindest werden sie einen geringeren Stellenwert einnehmen. Die Ansicht ist in der Philosophie weit verbreitet, dass der philosophische Nordpol längst entdeckt ist und dass wir uns also auf eine Diskussion der Routen beschränken sollen, die zu ihm führen. Überhaupt hätten wir auch so schon genügend und genügend große Probleme, es bestünde also kein Anlass uns neue an den Hals zu holen.

Das Spektrum der Ablehnung einer neuen Position kann natürlich sehr viel weiter gehen, bis hin zum Ausschluss aus dem akademischen Diskurs.

Franz Ofner, Katharina Neges und Stefan Weber danke ich für eine kritische Lektüre des Textes.

Josef Mitterer, Jahrgang 1948, ist Professor für Philosophie an der Universität Klagenfurt. Seine beiden Hauptwerke Das Jenseits der Philosophie und Die Flucht aus der Beliebigkeit erschienen 2011 in einer Neuauflage im Velbrück Verlag. Bei dem hier abgedruckten Text handelt es sich um einen Vorabdruck aus dem Buch Wie kommt Neues in die Welt? (Hrsg.: Hans Rudi Fischer), das 2013 bei Velbrück Wissenschaft erscheint.

Quelle: Recherche 2/2012

Online seit: 10. Dezember 2019

Die Online-Version unterscheidet sich geringfügig von der Print-Variante, Zeichensetzung und Tippfehler wurden korrigiert.