Philosophy 171 – das war der Kurs, den John Rawls von den 60er Jahren bis zu seiner Emeritierung 1995 an der Harvard University regelmäßig hielt. Die Herausgabe der Vorlesungen zur „Politischen Philosophie der Neuzeit“ erlaubt, sich in den Hörsaal zurückzuversetzen, in dem der Großtheoretiker des politischen Liberalismus und Proponent einer – von einer Art Gesellschaftsvertrag ausgehenden – umfassenden Gerechtigkeitstheorie vornehm und maßvoll zu Werke geht: In Auseinandersetzung mit den Wegbereitern der Gesellschaftsvertragstheorie Thomas Hobbes (1588–1679), John Locke (1632–1704) und Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), den utilitaristischen Denkern David Hume (1711–1776) und John Stuart Mill (1806–1873) sowie Karl Marx (1818–1883) als maßgeblichem Kritiker des Liberalismus entwickelt Rawls seine eigenen Positionen, die er schließlich in seiner Theory of Justice (erstmals 1971) sowie im Spätwerk Justice as Fairness (2001) niedergelegt hat.
Dass diese Vorlesungen nun auf Deutsch erscheinen, gibt Anlass, eines politischen Philosophen zu gedenken, der wie kaum ein anderer die Werte des politischen Liberalismus im Vor-9/11-Amerika des 20. Jahrhunderts repräsentiert, eines Vertreters der konstitutionellen Demokratie, der auf Public Reason setzt, eines Kämpfers für die Normenkontrolle zum Schutz von Grundrechten, vor allem auch jenen von Minderheiten gegen eine reine Mehrheitsdemokratie. Das Zu-Endegehen der Bush-Regierung und der mittlerweile wieder besonnener werdende Diskurs über Rechtfertigungen grundrechtsrelevanter staatlicher Eingriffe im „Kampf gegen den Terrorismus“ lässt die Publikation der Rawls’schen Vorlesungen höchst aktuell erscheinen. Der gediegene Ton des Harvard-Professors steht dabei durchaus in einem reizvollen Spannungsverhältnis zur Brisanz der von ihm aufgeworfenen grundlegenden Fragen der Herrschaftslegitimation und ihrer Grenzen. Rawls gilt bekanntlich als einer der einflussreichsten Theoretiker der Gerechtigkeit des vergangenen Jahrhunderts. Als er von Präsident Bill Clinton 1999 die National Humanities Medal überreicht erhielt, würdigte ihn dieser als einen Denker, „der einer ganzen Generation von gebildeten Amerikanern half, ihren Glauben an die Demokratie wiederzuerlangen“.
Bill Clinton würdigte Rawls als einen Denker, „der einer ganzen Generation von gebildeten Amerikanern half, ihren Glauben an die Demokratie wiederzuerlangen“.
Tatsächlich liefert Rawls’ Theorie den Versuch, über die Vorstellung des Schleiers des Nichtwissens (veil of ignorance) der Mitspieler im Zeitpunkt der Festlegung der für eine Gesellschaft maßgeblichen Spielregeln die Dominanz von Partikularinteressen zugunsten fairer, allseits akzeptierter Normen auszuschalten. Dementsprechend erscheint für ihn eine Praxis dann als gerecht, wenn „alle daran Beteiligten sie einander vorschlagen oder anerkennen, sofern sie sich in gleichen Umständen befinden und im voraus eine feste Verpflichtung eingehen sollen, ohne zu wissen, in welcher besonderen Lage sie sich befinden werden“. Dem Problem des Wertepluralismus begegnet Rawls mit seiner Vorstellung der öffentlichen Rechtfertigung der Regeln, welche eine gemeinsame Basis im Sinne eines „overlapping consensus“ bildet und mithilfe derer die Bürger ihre politischen Urteile voreinander rechtfertigen können. Als Ergebnis einer Gegenüberstellung bereits vorher bestehender „wohlüberlegter Urteile“ der Beteiligten einerseits und der unter Abstrahierung der eigenen Sonderinteressen ermittelten Regeln andererseits soll nach Rawls ein „Überlegungsgleichgewicht“ ermöglicht werden, welches gerechtfertigte Grundsätze erzeugt.
Das führt nach Rawls zu zwei (abstrakt formulierten) Prinzipien der Gerechtigkeit: Erstens soll jedermann das gleiche Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist (Gleichheitsprinzip). Und zweitens seien soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten so zu gestalten, dass vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sie zu jedermanns Vorteil sind, den sozial am wenigsten Begünstigten womöglich die größten Vorteile verschaffen, sowie im Sinne einer Chancengleichheit mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen (Differenzprinzip).
An der von Samuel Freeman veranstalteten Herausgabe der Vorlesungen hat der 2002 verstorbene Rawls noch selbst mitgearbeitet. Sympathisch bescheiden skizziert er sein Anliegen: Die alten Meister werden quellennah exegetisch analysiert, es wird versucht zu verstehen, welchen Problemen sie jeweils mit ihrer Theorie begegnen wollten. Wo Rawls von seiner eigenen Position abweicht, räumt er a priori ein, dass dies (auch) an geänderten Fragestellungen liegen mag. Keine Frage: Auch er selbst würde sich eine solche behutsame Annäherung an seine Theorien gewünscht haben. So wird auch gleich zu Beginn der etwa von Benjamin Barber formulierte Vorwurf, der politische Liberalismus beanspruche eine besondere Autorität und sei bestrebt, die „eigentlichen“ politischen Akteure des demokratischen Geschehens zu verdrängen, von Rawls bestritten. Die Auseinandersetzung mit politischen Theorien trage vielmehr zur notwendigen Bildung eines Bürgerbewusstseins bei; dass die Mehrheit allein nicht immer triumphiere, sei auch schon im Normenkontrollsystem der amerikanischen Verfassung und der spezifischen Rolle des Supreme Court angelegt (dass dies nicht von Anfang an so gesehen wurde, verschweigt Rawls allerdings).
Wohlgesonnene Interpretationen
In seiner Präsentation der Autoren geht es Rawls darum, die jeweiligen Theorien in ihrem spezifischen historischen Kontext darzustellen und dabei auch durch die Historiographie tradierte Klischees zu bekämpfen. So leitet er etwa seine Behandlung des Leviathan von Hobbes mit den Worten ein, man müsse einen solchen Text „bei der Interpretation so stark und so interessant wie möglich machen. Widerlegungsversuche haben ebenso wenig Sinn wie der Nachweis, dass sich der Autor irgendwie geirrt hat … Man sollte das Bestmögliche daraus machen und ein Gefühl dafür entwickeln, in welche Richtung das Ganze gehen könnte, wenn man es möglichst überzeugend wiedergibt.“ Als geglücktes Beispiel für diese Rawlsche Technik der benevolent interpretation kann man seine Rousseau-Vorlesungen anführen, in denen er in überzeugender Weise darlegt, dass nicht nur der amour de soi (die ursprüngliche, nur auf die individuelle Existenz ausgerichtete Selbsterfahrung), sondern auch der amour propre (die aus den sozialen Beziehungen resultierende Selbstwahrnehmung) potenziell positiv besetzt sein kann und dass es Rousseau gerade darum geht, politische Institutionen zu schaffen, die diese nicht durch Eitelkeit, Herrschsucht und Entfremdung charakterisierte Entfaltung des Ich innerhalb der durch den Gesellschaftsvertrag etablierten Ordnung ermöglichen.
Ursprünglich waren auch Bemerkungen zu Rawls’ eigener Theorie der Gerechtigkeit integraler Bestandteil der Vorlesungen. Da mittlerweile seine Auffassungen in Form der oben genannten Monographien greifbar sind, wurden im vorliegenden Band die Referenzen nur in eingeschränkter Form stehen gelassen. Aber auch so lassen sich für den kundigen Leser zahlreiche Punkte erkennen, in denen die von Rawls in der Vorlesung behandelten Autoren sein Denken geprägt haben. Dies reicht vom Gesichtspunkt der Rechtfertigbarkeit im Lichte des gedachten Gesellschaftsvertrages bei Locke bis hin zur Vorstellung der Gleichheit und dem Korrektiv des Gemeinwillens (volonté générale) bei Rousseau.
Neben dem zum Teil auf der Transkription von Tonbandmitschnitten basierenden Text der Vorlesungen selbst enthält der Band aber auch den Text diverser Handouts, Zusammenfassungen, als Anhang weitere Vorlesungen zu Sidgwick und Butler sowie ganz am Schluss den „Syllabus“ der Vorlesung, d. h. die Vorankündigung der Lehrveranstaltung für die Studierenden: „Vorlesungen Montag und Freitag. Eine Abschlußprüfung muß abgelegt werden, und zu schreiben ist eine Seminararbeit (Umfang ca. 3000 Wörter).“ Wir hätten also wirklich fast dabei sein können.