I.
In den Tagen nach der Pleite der amerikanischen Bank Lehman Brothers saß ich in der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main und schrieb. Von Zeit zu Zeit stand ich auf, von einer gewissen Nervosität getrieben, und schaute auf einem der Bibliotheksrechner nach den aktuellen Börsenkursen. Eine rätselhafte Macht schien sie zum unteren Rand des Bildschirms zu ziehen. Eine konzertierte Zinsaktion, ein Rettungsplan nach dem nächsten verpuffte ohne sichtbare Folgen. Es handelte sich ganz eindeutig um eine große Katastrophe; um ein Ereignis, dessen Folgen uns noch über Jahre hinweg beschäftigen würden. Doch wenn ich über den Bildschirm hinweg in den Lesesaal schaute, war dort alles beim Alten. Konzentrierte Stille, raschelnde Seiten. Auch am Abend, auf den Straßen, in den Geschäften und Lokalen (außer vielleicht im Bankenviertel) war alles wie immer. Die Arbeit ging weiter.
Was war auch geschehen? Irgendwo verschwanden Geldsummen, die sich ohnehin niemand vorstellen konnte, platzten Geschäfte, von deren Existenz die wenigsten von uns bislang etwas wussten. Ging „uns“ das was an? Bis in die Weihnachtstage 2008 hinein wunderten sich die Wirtschaftsredakteure über die nicht nachlassende Kauflust und den anhaltenden Optimismus, über eine gewisse Unwilligkeit der Bürger und Konsumenten, den Ereignissen übermäßige Aufmerksamkeit zu schenken. Die Vorgänge waren so unverständlich, die Summen so unvorstellbar, dass sie mit dem alltäglichen Leben einfach nicht kompatibel schienen. Erst allmählich sickern die Folgen des Zusammenbruchs in dieses „alltägliche Leben“ ein – wie die rätselhaften Wirkungen einer zunächst nicht wahrnehmbaren, leisen Naturkatastrophe. Langsam erst stellt es sich als wahr und wirklich heraus, was vorhergesagt wurde: dass die Arbeit einer ganzen Gesellschaft von dem Zusammenbruch des Kreditsystems affiziert wird, dass die Arbeit schlechthin sich ändern, weniger werden und an vielen Orten verschwinden würde.
Am Anfang dieser Krise steht, wie man weiß, der Kredit. In den USA boomt der Häusermarkt, und so kommen findige Banken auf die Idee, Immobilienkredite auch an Menschen ohne Besitz und Einkommen zu vergeben: Durch die prognostizierte Wertsteigerung des so finanzierten Hauses würde sich der Kredit, so die Annahme, letztlich irgendwie von selbst zurückzahlen. Zur Sicherheit wird das Risiko noch weiter minimiert: Die Kredite werden zu Derivaten gebündelt (z.B. zu jenen berüchtigten collateralized debt obligations) und im Paket weiterverkauft. Anleger, die scheinbar über eine ungeheure Liquidität verfügen, erwerben diese Papiere, denn sie sehen sich durch neue Probabilitätsrechnungen in der Lage, ihr Risiko präzise abschätzen und absichern zu können. Drei Voraussetzungen, so scheint es, stehen also am Anfang der Krise: Menschen ohne Einkommen, die dennoch ein Haus bewohnen möchten – also Arbeitslose, die mit Förderung durch halbstaatliche Immobilienfinanzierer einen festen Ort zugewiesen bekommen sollen; Anleger mit nahezu unendlicher Liquidität, also, um es etwas altmodisch zu sagen, mit einer Menge akkumulierten, freigesetzten Kapitals, das irgendwo hinfließen muss; und ein komplexes, auf Kybernetik und Probabilistik beruhendes System der Minimierung von Risiken und der Zukunftsvorhersage, eine Alchemie, die glaubt, die Zukunft berechnen zu können.
Offenbar hatte jedoch niemand wirklich vorhergesagt, dass die Kreditnehmer ohne Einkommen ihre Kredite nicht bedienen können; dass die Nachfrage an Immobilien in einem übersättigten Markt irgendwann nachlässt und ihr Preis verfällt; und dass die aus den gebündelten Krediten hergestellten Wertpapiere unter diesen Umständen plötzlich wertlos werden. Doch so geschah es. Bankaktien brachen ein, Hedge-Fonds – benannt nach ihrer Gabe, Risiken einzuhegen – schlossen. Es begann die nächste Stufe, die wir etwa seit dem vergangenen Herbst erleben: Die Banken geraten in Schwierigkeiten; sie beginnen, einander zu misstrauen und vergeben einander keine Kredite mehr. Doch in den Tresorräumen der Banken lagern schon lange keine Fantastillionen an Goldtalern mehr, sondern nur die Schuldscheine anderer Banken – und auch jene lagern natürlich in keinem Tresor, sondern existieren einzig als Datensätze, als Einsen und Nullen. Wenn also die Banken einander keine Kredite mehr vergeben, dann können sie auch den Unternehmen kein Geld mehr leihen. So geraten die „produzierenden“ Unternehmen in Zahlungsschwierigkeiten; sie reduzieren die Produktion, stellen auf Kurzarbeit um, entlassen Arbeiter. Die „Finanzkrise“ oder „Kreditkrise“ wird zur „Wirtschaftskrise“; ein Geschäft, das zunächst einzig auf Glauben beruhte (oder präziser noch auf der Idee, die Zukunft berechnen zu können), affiziert nun die Produktion von Autos, Stahl, Laptops und Kühlschränken. Der naheliegende Reflex von Menschen, die Autos, Stahl, Laptops und Kühlschränke herstellen, ist Unverständnis. Im Radio hörte ich Arbeiter bei Opel, die sicher waren, dass ihnen nichts passieren könne (oder zumindest sollte), da sie doch „gute Autos“ herstellten. Warum sollte diese Arbeit – das Herstellen von Autos – davon beeinflusst werden, dass Banken irgendwo Kredite an zahlungsunfähige Gläubiger vergeben haben? Warum sollte das Kreditsystem auf einmal in das tägliche Leben aller eindringen, in die harten, wirklichen Tätigkeiten, in ihre Arbeit? Dies schien zunächst unglaublich; und es wirkt jetzt, da eben dies geschieht, noch immer merkwürdig und rätselhaft.
Einige der tödlichsten Rhetoriken der politischen Moderne sind direkt aus dieser Gegenüberstellung von Arbeit und Spekulation erwachsen.
Dieses Unverständnis beruht auf einer hartnäckigen Gegenüberstellung: jener von Arbeit und Spekulation. Wenn allenthalben davon die Rede ist, dass die „Finanzkrise“ nun zur „Wirtschaftskrise“ geworden sei, dann ist damit gesagt, dass die Spekulation nun offenbar – und wieder einmal irgendwie unerwartet – die Arbeit affiziert; die „Arbeit“ selbst. Dies ist alles andere als neu: Arbeit und Spekulation wurden in der politischen Moderne immer wieder einander entgegengestellt; und eigentlich fast immer im Namen der „Arbeit“. Die Arbeit, so hieß es, schaffe wirkliche Werte; der Spekulant aber spiele nur verantwortungslos mit ihnen. Die im Innersten moderne Idee einer Selbstschöpfung des Menschen durch die Arbeit wurde immer wieder der unproduktiven Spekulation gegenübergestellt; das Schaffen und Erzeugen dem Kredit und dem Schacher. Nicht zuletzt einige der tödlichsten Rhetoriken der politischen Moderne sind direkt aus dieser Gegenüberstellung erwachsen.1
Ich möchte dagegen im Folgenden aufzeigen, dass es in der Moderne von Beginn an keinen Gegensatz von Arbeit und Spekulation gibt. Die moderne Arbeit ist immer schon spekulativ; sie arbeitet schon immer einen Kredit ab, der auf sie gegeben wurde und den sie nie tilgen kann. Um es mit Karl Marx zu sagen: Die moderne Arbeit existiert als „Arbeit“ – als jene entfesselte, maßlose, bestimmungslose Produktivkraft der kapitalistischen Gesellschaft – erst, indem sie zu Kapital werden oder geworden sein kann; oder verkürzt: indem sie Kapital ist. In der Arbeit arbeitet das Kapital an sich selbst, das heißt an seiner Vermehrung. Die Spekulation, das Erzeugen aus dem Kredit, ist somit nicht das Andere der modernen Arbeit, sondern ihr Wesen.
Wenn aber das Kapital an seiner Vermehrung arbeitet, dann arbeitet es eigentlich an der Vermehrung der Schulden und des Kredits. Denn Kapital ist seinem Wesen nach Kredit. Es kann gar nicht anders entstehen als durch Kredit, nur so wird es von Geld zu Kapital und nur so entsteht die moderne „Arbeit“, die etwas ganz anderes ist als die Arbeit anderer Zeiten. Die Arbeit arbeitet – oder besser: das Kapital arbeitet als Arbeit, weil es den Kredit, der es ist, tilgen will; aber weil das Kapital sich vermehrt, indem es arbeitet, erarbeitet es nur immer einen noch größeren Kredit und somit eine noch größere Schuld.
Denn was ist ein Kredit? Er ist eine Verschuldung und der Glaube an die irgendwann erfolgende Rückzahlung. Das Entstehen der modernen Arbeit ist ein Umbuchungsprozess, durch den das Christentum nicht allein, wie oft analysiert wurde, in das Juridische, sondern wirkungsmächtiger noch in das Ökonomische verwandelt wird. In diesem Prozess wird die „Schuld“ des Menschen vor „Gott“ in die Immanenz der Welt hineingezogen; aus der Schuld vor Gott wird die Schuld vor dem Kapital oder die Schuld als Kapital und aus dem Glauben an die Erlösung wird die Berechnung des Risikos und der Glaube an die Tilgung und Rückzahlung. Durch diese Umbuchung aber verändert sich das Verhältnis von Schuld und Arbeit. Arbeit wird unmittelbar in die Schuld-ökonomie eingezogen. Zwar war Arbeit in der jüdisch-christlichen Tradition schon immer mit der Ur-Schuld der Erbsünde verbunden. Doch die moderne Arbeit ist in ihrem Verhältnis zur Schuld paradox: Sie selbst soll Rechtfertigung spenden und erlösen; zugleich aber vermehrt sie die Schuld und die Schulden, indem sie arbeitet; sie erzeugt nur, indem sie sich verschuldet.
Wenn man nach einem „Anderen“ dieser Arbeit sucht, nach einer „Nicht-Arbeit“, dann ist jene sicher nicht in der Spekulation zu finden, aber auch nicht im bloßen Nichts-Tun. Will man die „Nicht-Arbeit“ positiv definieren – als etwas, was sich nicht in Bezug auf die moderne Arbeit versteht –, dann könnte sie sogar eine Tätigkeit sein. Sie würde aber mit der Schuld brechen. Oder, genauer, sich gar nicht auf die Schuld beziehen, etwas anderes sein als Schuld.
Es war Karl Marx, der das Entstehen der modernen Schuld-Arbeit im vorletzten Kapitel des Kapitals beschrieben hat. Dies hat bereits Werner Hamacher in seinem Artikel „Schuldgeschichte. Walter Benjamins Fragment Kapitalismus als Religion“ präzise festgestellt und – in Verbindung zu Benjamin – ausgedeutet.2 Marx bezeichnet den Vorgang, den er beschreibt, als „die sog. ursprüngliche Akkumulation“. Es handelt sich bei diesem Kapitel sozusagen um eine Erzählung vom Entstehen des Kapitals selbst, um seine Genesis. Die Akkumulation des Kapitals ist „sog. ursprünglich“ – zum einen, weil Marx zeigen will, dass sie eigentlich gewaltsam und geschichtlich war; aber auch, weil es um die Setzung von Recht geht, um jenes Wort, das etwas erzeugt, indem es es so nennt: „Fiat lux“. Am Ursprung stehen gewaltsame, rechtsetzende Worte und sie schaffen eine ganze Welt aus dem Nichts; die Welt der modernen Arbeit, der Spekulation und des Kredits – der heutzutage oft in „sogenannter“ fiat money gegeben wird, in Geld, das durch Kreditgeschäfte zwischen Banken erst entsteht.
Im Verlauf der Darstellung seines Buches setzt Marx mit dem Kapitel über die „sog. ursprüngliche Akkumulation“ noch einmal neu an. Denn die Bestimmungen von Ware, Geld und Kapital, die gleichsam synchron vom ersten Kapitel an entfaltet werden, ergeben sich aus der Warenform als „Elementarform“ der kapitalistischen Gesellschaft.3 Nun aber erzählt Marx diachron die Genesis dieser Form. Er bestimmt diese als einen „Formwechsel“: „Der Ausgangspunkt der Entwicklung, die sowohl den Lohnarbeiter wie den Kapitalisten erzeugt, war die Knechtschaft des Arbeiters. Der Fortgang bestand in einem Formwechsel dieser Knechtung, in der Verwandlung der feudalen in kapitalistische Exploitation.“ Dieser Formwechsel markiert für Marx den Beginn einer Gesellschaftsordnung, die bis zu seiner Zeit Bestand hat. Was sich hier formt, ist die moderne Arbeit und mit ihr das Kapital, als das sie sich akkumuliert und als das sie verspekuliert werden kann. Die „Arbeit“ entsteht durch die Freisetzung und Expropriierung der Landbevölkerung und ihre Disziplinierung durch drakonische Polizeigesetze. Zugleich beginnt sie sich durch die Kolonialisierung weltweit auszubreiten. Und zum Dritten entsteht sie gemeinsam mit einem System des Kredits, der „öffentlichen Schuld“ – und somit der Spekulation.
Marx selbst schreibt dieser „sog. ursprünglichen Akkumulation“ einen „christliche[n] Charakter“ zu. Man kann diese Bemerkung bloß als einen polemischen Seitenhieb auf ihre ständige Berufung auf die Religion lesen: Die „ursprüngliche Akkumulation“ wäre demnach gar nicht christlich, gar nicht gewaltlos, sondern vielmehr grausam und blutig. Die Aussage scheint mir jedoch bedeutsamer zu sein: Man kann sie wörtlich verstehen. Denn die „sog. ursprüngliche Akkumulation“ ist eine Verwandlung des Christentums; sie ist eine Neuerzählung der Genesis, wie Marx zu Beginn des Kapitels klar macht: „Adam biß in den Apfel, und damit kam über das Menschengeschlecht die Sünde. Ihr Ursprung wird erklärt, indem er als Anekdote der Vergangenheit erzählt wird. In einer längst verfloßnen Zeit gab es auf der einen Seite eine fleißige, intelligente und vor allem sparsame Elite und auf der andren faulenzende, ihr alles und mehr verjubelnde Lumpen. Die Legende vom theologischen Sündenfall erzählt uns allerdings, wie der Mensch dazu verdammt worden sei, sein Brot im Schweiß seines Angesichts zu essen; die Historie vom ökonomischen Sündenfall aber enthüllt uns, wieso es Leute gibt, die das keineswegs nötig haben. Einerlei.“
Doch in den hier noch spöttisch angebrachten Vergleich kehrt im Folgenden die Ernsthaftigkeit ein; die ursprüngliche Akkumulation wird zum „ökonomischen Sündenfall“, der den „theologischen Sündenfall“ parodistisch wiederholt, aber dennoch nicht ohne sehr reale Folgen bleibt: Denn jener „ökonomische Sündenfall“ ist selbst Ursprung einer spezifischen Schuld, die den „Kapitalismus“ ganz elementar ausmacht. Sie ist, wie ich zeigen werde, nicht nur „öffentliche Schuld“ als Staatskredit, sondern zugleich Schuld in einem ganz archaischen Sinn: als Zerstörung von Leben, als Ausplünderung und Vernichtung anderer Völker, als Unterwerfung der Erde. Beide Konzepte hängen zusammen und sind untrennbar mit der modernen Arbeit verbunden. Dem „Formwechsel der Knechtung“ entspricht so gleichsam ein „Formwechsel der Schuld“. Die Natur dieser Bewegung ist tatsächlich „christlich“; nur dass das Christentum selbst in diesem Prozess die Form wechselt. „Das Christentum zur Reformationszeit hat nicht das Aufkommen des Kapitalismus begünstigt, sondern es hat sich in den Kapitalismus umgewandelt“4: Dies ist die Diagnose, die Walter Benjamin in seinem Fragment Kapitalismus als Religion gestellt hat. Auf dieses Fragment und seine Lektüren durch Werner Hamacher und Samuel Weber möchte ich am Ende noch knapp eingehen.
II.
Im Kapitel über die „sog. ursprüngliche Akkumulation“ beschreibt Marx die Genesis des Kapitalismus als Neuschaffung der ganzen Ordnung der Welt. „Die ökonomische Struktur der kapitalistischen Gesellschaft ist hervorgegangen aus der ökonomischen Struktur der feudalen Gesellschaft. Die Auflösung dieser hat die Elemente jener freigesetzt.“ Modernität ist also Auflösung und Freisetzung: Der Grund der Modernität besteht darin, sich von jedem Grund zu lösen, grundlos zu sein. Es ist auch bereits dies ein urchristlicher Gedanke, denn „der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege“. Zur Zeit der „sog. ursprünglichen Akkumulation“ heißt dies sehr konkret: Bauern werden von ihren Landflächen vertrieben, die sie, so Marx, im englischen 14. und 15. Jahrhundert als „freie, selbstwirtschaftende Bauern“ bestellten. Das Titulareigentum ihres obersten Souveräns, der Königin von England, wird in Privateigentum umgewandelt. Oft wird der Boden den Feudalherren entrissen und Günstlingen der Krone zugesprochen. Hinter all diesen Vorgängen steht neben der Entfesselung des Geldhandels zugleich das Entstehen einer flächenstaatlichen Souveränität und ihres zentralisierten Steuerungswissens. Die gesetzgebende Macht dieses Staates und die ökonomischen Prozesse, die ihn ermöglichen, spielen zusammen. Die Partikularität der Feudalordnung wird dabei in die abstrakte Allgemeinheit der modernen Staatsordnung und Ökonomie umgewandelt, partikulare Privilegien in ein allgemeines Recht – und die einzelnen, partikularen produktiven Praktiken in die allgemeine und, wie Marx es an anderer Stelle nennt, „abstrakte“ Arbeit.
Das Christentum zur Reformationszeit hat nicht das Aufkommen des Kapitalismus begünstigt, sondern es hat sich in den Kapitalismus umgewandelt.
Diese neue Arbeit ist „freigesetzt“. Sie ist ganz wörtlich freigesetzt, denn die zukünftige Arbeiterklasse, die Landbevölkerung, die profitableren Viehweiden Platz machen musste, hat nun ganz einfach keinen Ort mehr, auf dem sie sich aufhalten könnte. So beginnt sie durch das Land zu vagabundieren. Eine ganze Welle an Gesetzen, die Marx detailliert zitiert, zielt darauf ab, diese Ortlosen wieder zu verorten: Sie sollen in Arbeitshäusern eingesperrt, Besitzern zugewiesen, gebrandmarkt oder bei wiederholter Landstreicherei hingerichtet werden. Sie sollen arbeiten. Für Marx ist die Entstehung der modernen Arbeit also in sich gedoppelt: Die Menschen werden heimatlos und ihre partikularen Beziehungen zur Erde, zu den Dingen und den Menschen werden zerstört – und zugleich sollen sie diszipliniert und geformt werden. Durch Arbeit sollen die Landstreicher wieder verortet und kontrollierbar werden. Die soziale Arbeit – denn sie wird durch die Expropriationen entfesselt – löst eine alte Ordnung auf und setzt dabei enorme Kräfte frei, die Marx schon im Manifest der Kommunistischen Partei nahezu hymnisch besungen hat. Doch soll sie selbst diese Kräfte sofort wieder binden oder einhegen, sie zur Formierung eines neuen Menschen nutzen, der sich restlos selbst erzeugen oder erarbeiten muss. Denn die neue, vom Boden gelöste Arbeit ist für Marx in einem weiteren Sinne Schöpfung des Menschen aus sich selbst oder „Produktion des Lebens“. Sie ist vollkommen bestimmungslos, ihre einzige Bestimmung gibt sie sich selbst.5 Aber gerade dadurch schafft diese Arbeit eine neuartige, spezifische Form der Untätigkeit, die Arbeitslosigkeit, welche indes zugleich immer wieder in Arbeit verwandelt werden soll. In der Feudalordnung gab es durchaus Untätigkeit und Faulheit, vor allem im Einklang mit den Rhythmen des ländlichen Lebens. Doch es gab nicht jenes spezifisch Andere der modernen Arbeit: jene Leere oder Bestimmungslosigkeit, die sie – als Arbeit, die einzig sich selbst hervorbringt – voraussetzt und erzeugt, die sie aber zugleich immer wieder abzuarbeiten, wegzuarbeiten versucht.
Auf jene freigesetzten Individuen bezieht sich eine neue Form von Gewalt, die nicht mehr nur die Überschreitung straft, sondern formiert und dressiert, also: diszipliniert – auch wenn sich diese beiden Regime natürlich in einer langen Übergangszeit miteinander vermischen (vgl. dazu Michel Foucault, Überwachen und Strafen). Erst durch diese Disziplinierung entsteht die moderne Arbeit; und es entsteht ihr Träger, die „Arbeiterklasse“ mit ihren Traditionen. Marx macht dies sehr deutlich: „So wurde das von Grund und Boden gewaltsam expropriierte, verjagte und zum Vagabunden gemachte Landvolk durch grotesk-terroristische Gesetze in eine dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepeitscht, gebrandmarkt, gefoltert.“ Mit diesem Lohnarbeiter, der sich nun nicht mehr selbst versorgen kann, zudem der innere Markt, also der Konsument, dessen Bedürfnisse, ganz so wie seine Arbeit, immer wieder neu aus der absoluten Bestimmungslosigkeit erzeugt werden müssen.
Der „Formwechsel der Knechtung“ also besteht darin, dass die Arbeit nun nicht mehr partikular ist, sondern allgemein, dass sie nicht mehr in konkreten und überschaubaren Verhältnissen stattfindet, sondern in unüberschaubaren Verhältnissen zwischen Marktteilnehmern. Die „abstrakte Arbeit“ wird zu jener „sozialen Substanz“ der kapitalistischen Gesellschaft. Als solche hatte Marx sie in den ersten Kapiteln des Kapitals untersucht. Arbeit, die sich aus der Partikularität gelöst hat, unterliegt nunmehr dem Prinzip der allgemeinen Äquivalenz. Damit ist nicht etwa eine Aneinanderreihung von jeweiligen Tauschakten gemeint, sondern die prinzipielle Austauschbarkeit jeder Arbeit mit jeder anderen Arbeit, da Arbeit schlechthin, „Arbeit ‚sans phrase‘“6 einzig in der formlosen, immer wieder neu zu formierenden Verausgabung von Energie besteht und somit potenziell jede Tätigkeit in sich begreift – sei es Töpfern, Schreiben, Holzfällen oder Schauspielern. Diese fundamental bestimmungslose Arbeit ist nicht mehr eine genau definierte Handlung eines Menschen für einen anderen – z.B. als Frondienst –, sondern eine allgemeine Tätigkeit, deren Formierung der Disziplin bedarf, welche allmählich die souveräne Strafe ablösen wird. Arbeit muss sich immer selbst bestimmen. Aufgrund der Bestimmungslosigkeit aber wird sie sich immer selbst fehlen; wird sie sich eine Bestimmung zu geben versuchen, die sie selbst immer wieder aufgelöst haben wird; so wird jede Verausgabung stets von einem Mangel begleitet; Arbeit wird dasjenige sein, was nicht nur aus Mangel entsteht, sondern vor allem den Mangel immer neu erzeugt.7
Die entfesselte Produktivkraft der modernen Arbeit löst die partikularen Ordnungen nicht nur in Europa auf, sie verbreitet sich durch das Prinzip der allgemeinen Äquivalenz weltweit. Ihr Zugriff ist grenzenlos. Daher beschreibt Marx, nachdem er das Entstehen dieser „Arbeit“ analysiert hat, den Kolonialismus als zweites Element der „ursprünglichen Akkumulation“: „Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation.“ Die Kolonialisierung setzt den Prozess der Landnahme und Parzellierung fort, der mit den Expropriierungen in Europa begonnen hatte. Das kolonialisierte Land wird bekanntlich als res nulla behandelt; als Land, das, wie das Meer, niemandem gehört und vollkommen frei von jeder Bestimmung ist und durch Rechtsetzung angeeignet werden kann, so dass Kapital aus dem Nichts entsteht: „Große Vermögen sprangen wie Pilze an einem Tage auf, die ursprüngliche Akkumulation ging vonstatten ohne Vorschuß eines Schillings.“ – „Der außerhalb Europas direkt durch Plünderung, Versklavung und Raubmord erbeutete Schatz floß ins Mutterland zurück und verwandelte sich hier in Kapital.“ Besonders in diesen Passagen verliert die Rede von der „ökonomischen Erbsünde“ jeden ironischen Klang. Marx beschreibt die Kolonialisierung ganz unmittelbar als Sünde, als Vernichtung und Unterwerfung von Leben. Und in eben jenem Abschnitt spricht Marx auch vom „christliche[n] Charakter der ursprünglichen Akkumulation“: Die Kolonialisierung erscheint zum einen als grausam-parodistische Version der Heidenmission, die sie stets begleitet; zum anderen als Globalisierung einer spezifisch christlichen, weltimmanent werdenden Schuld.
Diese Verbindung der modernen Arbeit mit der Schuld wird offensichtlich, wenn Marx – zunächst scheinbar recht unvermittelt – das Bankenwesen, das Kreditsystem und somit die Staatsschuld einführt. Jene gehören untrennbar ebenso zum Entstehen der modernen Arbeit wie der Kolonialismus. Denn die moderne Arbeit ist Arbeit, die Kapital werden kann: In den vorhergehenden Analysen des Kapitals entwickelt Marx aus der Warenform zunächst die abstrakte (bestimmungslose) Arbeit, dann das Geld, dann das Kapital. Dies geschieht jedoch nicht im Sinne einer chronologischen Entwicklung, sondern einer begrifflichen Entfaltung. Denn die „Arbeit“, die moderne Arbeit, sofern sie in die Warenform, also in die allgemeine Äquivalenz eingeht, ist immer schon dasjenige, was zu Wert, Geld und Kapital geworden sein wird. Die abstrakte Arbeit, die für Marx den Wert einer Ware und somit Geld und Kapital bildet, hat mit den jeweiligen „konkreten“ Praktiken der Produktion ja gar nichts zu tun; sie ist das unbestimmbare Medium, durch das erst die mannigfaltigen Praktiken in das System einer allgemeinen Ökonomie überführt werden können. Entgegen zahlreicher Fehllektüren – auch und vor allem von Seiten der „Marxisten“ – versucht Marx gerade nicht, mit dem Konzept der „Arbeit“ einen metaphysischen Grund des Tauschprozesses zu fundieren. Wenn einzig qua abstrakter Arbeit getauscht wird, dann qua etwas, was als „soziale Substanz“ selbst ohne Substanz ist, weil es sich einzig als Medium des Sozialen, als Medium des Tausches oder des Verkehrs erst „realisieren“ kann. „Arbeit“ ist der Name für eine fundamentale Bestimmungslosigkeit – und somit für einen sich stets je neu erzeugenden Mangel.
III.
Die moderne Arbeit aber wird sich stets selbst mangeln, weil sie sich stets selbst schuldet. Sie wird arbeiten, um einen Kredit abzuarbeiten, den sie selbst auf sich aufgenommen hat. Sie schuldet sich, weil sie zu Kapital geworden ist und somit zu etwas, was nur, indem es abwesend ist, anwesend sein kann, was sich einzig realisiert, indem es noch nicht ist. Die öffentliche Schuld, also die Verschuldung des Staates und all seiner Bürger bei Privatfinanciers, nimmt in der Entstehung des modernen Kreditwesens, die das Entstehen der modernen Arbeit begleitet und supplementiert, eine Sonderrolle ein. „Der öffentliche Kredit wird zum Credo des Kapitals. Und mit dem Entstehen der Staatsverschuldung tritt an die Stelle der Sünde gegen den heiligen Geist, für die keine Verzeihung ist, der Treubruch an der Staatsschuld.“ (MEW 782) Denn durch die öffentliche Schuld, durch diesen Kredit und dieses Credo (durch diesen Akt des Glaubens), wird Geld zu Kapital. Geld verwandelt sich von einem Zeichen mit klarer Referenz im System partikularer Tauschhandlungen8 in ein Medium eines allgemeinen und bestimmungslosen Bezugs, indem es zu Schuld und Kredit wird. Und erst in diesem Prozess kann auch aus der Arbeit das Medium allgemeiner Äquivalenz werden: „Die öffentliche Schuld wird einer der energischsten Hebel der ursprünglichen Akkumulation. Wie mit dem Schlag der Wünschelrute begabt sie das unproduktive Geld mit Zeugungskraft und verwandelt es so in Kapital, ohne daß es dazu nötig hätte, sind der von industrieller und selbst wucherischer Anlage unzertrennlichen Mühwaltung und Gefahr auszusetzen.“
Dieser Akt der Magie ist die Geburtsstunde der Staatsanleihe und damit des Papiergeldes; er setzt einen Prozess in Gang, der letztlich zur Abschaffung des Goldstandards führen sollte. Gläubiger des Staates sind zunächst schlichtweg Privatspekulanten, die staatliche Unternehmungen wie Kriege oder Kolonialisierung finanzierten. Jene werden später zu Geschäftsbanken oder gar zu Nationalbanken, die das Recht bekommen, Geld zu drucken und zu münzen – eine merkwürdige Symbiose zwischen Staat und Privatwirtschaft, die alle bis vor kurzem modischen Theorien, nach denen beide ganz einfach zu trennen seien, schon in der Geburtsstunde des „Kapitalismus“ ad absurdum führt. Marx spielt in seiner Analyse der öffentlichen Schuld auf die Gründung der Bank of England an. Jene, zunächst eine Privatunternehmung des schottischen Kaufmanns William Paterson, lieh dem Staat England 1694 1,2 Millionen Pfund (in Gold, versteht sich) zu einem Zinssatz von 8%. Zugleich erhielt sie das staatliche Privileg, dieselbe Summe ihren Kunden in Schuldscheinen auszugeben, die Verschuldung des Staates also gleichsam wieder auf seine Bürger aufzuteilen. Die Bürger konnten nun mit diesen Schuldscheinen zahlen.
Denn was ist ein Kredit? Er ist eine Verschuldung und der Glaube an die irgendwann erfolgende Rückzahlung.
Das Papiergeld, das entsteht – nicht zum ersten Mal, aber mit weitreichenden Folgen – ist bereits hier beides: Es ist Kredit und Ad-hoc-Zahlungsmittel. Die Bezahlung mit Papiergeld ist die instantane Bezahlung mit einem Kredit, dessen Einlösung ins Unendliche verschoben wird. Denn schon bald überstieg die Summe der für den Krieg mit Frankreich notwendigen Kredite die Goldreserven; am 26.2.1797 befreite daher das englische Parlament die Bank of England – wenn auch zunächst nur temporär – von der Verpflichtung, ihre Schuldscheine mit Goldmünzen zu decken: Sie konnte dem Staat das Geld nun gleich in Schuldscheinen leihen, denen kein vermeintlich substanziell wertvolles Metall mehr entsprach. „Es dauerte nicht lange“, so Marx, „so wurde dies von ihr selbst fabrizierte Kreditgeld die Münze, worin die Bank von England dem Staat Anleihen machte und für Rechnung des Staats die Zinsen der öffentlichen Schuld bezahlte.“ Das Papier- oder Kreditgeld wurde referenzlos zum Medium des allgemeinen Handels. Mit dem Bezug auf die Deckung durch Münzgeld, dem zwischen 1931 und 1933 (bzw. abermals 1971) die Aufgabe des Goldstandards folgte, ging jede vermeintliche Referenz des Tauschprozesses ebenso verloren wie eine Referenz der Verschuldung in einem transzendenten „Gott“. Beide sind ausweglos immanent. Gezahlt wird fortan letztlich nur mehr mit Krediten; dies jedoch jederzeit und instantan. Joseph Vogl hat dieses Paradox in seiner großen Untersuchung zur „Poetik des ökonomischen Menschen“ beschrieben: „Sie [die Banknote] zeichnet sich darum durch eine paradoxale Struktur aus, sie ist ein Hybrid, für das um 1800 noch kein Begriff existiert: Sie umfasst die ökonomische Seite eines Kredits und die rechtliche Seite der Barzahlung; als Kreditpapier verlangt sie das Hinausschieben der Leistung, als Zahlungsmittel die sofortige Einlösung; als Geldersatz erfordert sie Volldeckung, als Kreditschein schließt sie diese aus. Sie ist Geld und Versprechen auf Geld zugleich, und ihre semiotische Struktur zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Verweis auf ein ,Da‘ wie auf ein ,Fort‘ in ein und demselben Akt umschließt; eine Paradoxie der Selbstreferenz, die sich in einer Einheit von Solvenz und Insolvenz verdichtet.“9
Geld ist als Kapital – seiner wesentlichen Bestimmung nach – Kredit. Es ist niemals präsent oder da, bzw. es ist da nur unter der Bedingung, dass es zugleich fort, dass es zugleich noch nicht da ist. Es ist die künftige, aber nur in der Abwesenheit vollzogene Präsenz, gleich der Parusie: „Er ist nicht hier, er ist auferstanden.“(Lk 24,6) Die Bargeldmenge kann weder in Münzen noch in Scheinen jemals der Menge aller Forderungen entsprechen; die Gegenwart, das Anwesende nie der Menge der Schuld und des erwarteten Künftigen. Geld ist dem Wesen nach eine Schuld, die nie auf einmal getilgt werden kann; eine Fiktion, die nur unter der Voraussetzung ihrer künftigen Aufrechterhaltung aufrechterhalten werden kann. Heute, da kaum noch Transaktionen in Bargeld – sei es gemünzt oder gedruckt – vorgenommen werden, ist zudem auch die Vormachtstellung der Zentral- oder Nationalbanken in Frage gestellt, deren wichtigstes Privileg gegenüber den Geschäftsbanken jenes auf den Gelddruck ist. Kredite kann jede Bank jeder anderen Bank geben – und sich für diesen Kredit bei noch einer Bank absichern. Somit kann jede Bank Geld erzeugen; es entsteht das fiat money genannte Geld: das Geld, das sich als Kredit selbst schöpft; Geld, das sich erzeugt, indem es sich verleiht, das mehr wird, indem es sich gibt.10 Das Kapital erschafft sich selbst dadurch, dass es sich im Moment seiner Schöpfung bereits unendlich und uneinholbar mangelt.
Eben auf diesem Paradox des Kapitals als Geld, das produktiv wird, indem es sich mangelt, gründete die große Angst der Politik vom vergangenen Herbst: vor Bürgern, die plötzlich vor den Banken stehen und ihr Geld in cash sehen und in der Hand halten wollen. Es wäre schlichtweg nicht da. Doch sind Innovationen wie die collateralized debt obligations, in denen Kredite nach Tageskurs als Wertpapiere gehandelt werden, letztlich allein ihrer komplizierten Struktur, jedoch keineswegs ihrer Idee nach eine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Sie sind in der Idee des Papiergeldes als instantan einlösbaren Schuldscheins bereits angelegt und somit gleichursprünglich mit der Idee der modernen Ökonomie und der modernen Arbeit.
Auch für Marx, der als Vergleich das zeichenhafte mittelalterliche Münzgeld im Kopf haben mag, wird Geld erst zu Kapital (und damit zu modernem Geld), indem es zu Schulden, genauer noch: zur „öffentlichen Schuld“ wird. Nur also, indem sich das Kapital verleiht und verschuldet, wird es zu Kapital; nur so kann es sich vermehren. Es ist, als Folge der Logik des Begehrens bei Romeo and Juliet, an die auch der Shakespeare-Fan Marx gedacht haben mag: „My bounty is as boundless as the sea, / My love as deep; the more I give to thee / The more I have, for both are infinite.“11 Für Marx drückt Julias Satz sich ökonomisch aus in der „moderne[n] Doktrin, daß ein Volk um so reicher wird, je tiefer es sich verschuldet.“ „Die Schuldmechanik“, so Werner Hamacher in seiner Lektüre des Marx’schen Kapitels, „[…] ist der Prozeß des sich selbst zu Mehrwert und so allererst zu Wert mausernden Werts: der Prozeß des Werdens eines Gottes aus dem, was nicht ist, Theologie aus Selbst-Verschuldung. Genauer: aus dem Kredit, der aus unbezahlter Arbeit, Ausbeutung, Kolonialisierung, Raub und Raubmord unter den sie legitimierenden Gesetzen der Bevorrechtigten gezogen wird.“12
Es ist genau jene paradoxe Einheit von Verschuldung und Reichtum, von Solvenz und Insolvenz, von Fort und Da, Später und Jetzt, die – nach dem eigentümlichen „Schlag mit der Wünschelrute“ – den Zustand der globalen kapitalistischen Gesellschaft kennzeichnet. In ihr wird indes auch Arbeit kreditförmig; auch sie wird zu etwas, was sich ununterbrochen sich selbst schuldet, was nur als Mangel schafft, nur als Schuld sühnt. Die Arbeit erzeugt eine neue Welt aus der absoluten Bestimmungslosigkeit, aber sie erzeugt sie als Mangel, als Schuld – als eine Welt, die sich ständig selbst fehlen wird. Doch die Arbeit muss immer weitergehen, denn das verliehene Kapital schuldet sich stets noch mehr Kapital, Kapital plus Zinsen oder Mehrwert, und somit letztlich mehr zu Kapital gewordene Arbeit, um den Kredit bei sich selbst zurückzahlen zu können.
Was Marx also letztlich als Genesis des Kapitalismus beschreibt, ist die unerhörte Bewegung einer Weltgesellschaft, die sich in ihrer Gänze von jedem vermeintlichen Ursprung und, wörtlich, von jedem Boden löst – und sich auch von einer partikularen Schuldökonomie, in der jeweilige Schuld durch partikulare Gesten, Bußrituale und gute Werke je gesühnt werden kann. Stattdessen verschuldet die Weltgesellschaft sich qua Kapital irreversibel und vollständig bei sich selbst – also bei einer Zukunft, die eben deswegen, in der stetigen Hoffnung auf eine Tilgung der Schuld, berechenbar und kalkulierbar werden soll. Sie nimmt bei sich selbst eine Schuld auf und muss diese Schuld nun immer wieder aufs Neue abtragen, abarbeiten. Die moderne Arbeit arbeitet immer schon einen Kredit ab, der auf sie gegeben wurde, den sie aber nie tilgen kann, weil alles, was sie hervorbringt, immer schon einzig Kapital ist, also immer größere Schuld.
Marx’ Schilderung beschreibt also nicht allein einen „Formwechsel der Knechtung“, sondern auch einen Formwechsel der Schuld. Nach der Erbsünde und der Vertreibung aus dem Paradies muss der Mensch, wie die Bibel mitteilt, sein Brot im Schweiße seines Angesichts essen; er ist aus Schuld, aus Ur-Schuld zur Arbeit verdammt. In diesem Sinne ist auch die vormoderne Arbeit immer Arbeit an einer Schuld oder aufgrund einer Schuld. Neu ist in der Moderne, dass die Arbeit nun die Schuld nicht verringert (als gutes Werk im Sinne der katholischen Rechtfertigungslehre) oder sie zumindest einfach nicht betrifft (indem Gott die Taten der Menschen schlicht nicht wahrnimmt wie in einem gnostischen Weltbild). Nein: Die Arbeit selbst erzeugt, produziert Schuld: als Arbeit, die Kapital ist, welches nur als Verschuldung bei sich selbst erst existieren kann. Arbeit ist Arbeit an der Schuld; an einer Schuld, die sie stets hervorbringt; und so ist es kein Wunder, dass die Arbeit immer wieder von der Spekulation affiziert wird, also von jenem Kredit, jenem Schuldschein auf die Zukunft, den abzuarbeiten ihr aufgegeben ist, auch wenn sie dabei nur immer weiteres Kapital, weitere Verschuldung, weitere Schuld erarbeiten wird. Wenn heute wieder Arbeiter entlassen werden, weil irgendwo Spekulanten mit Krediten sich verspekuliert haben, dann wäre ein kritisches Denken – bei allem Mitgefühl – schlecht beraten, der guten, ernsthaften Arbeit die windige und gewissenlose Spekulation gegenüberzustellen. Denn Spekulation und Arbeit gehören zur selben kapital-christlichen Schuldökonomie. Zu ihren Folgen zählt das rätselhafte, aber drängende Schuldbewusstsein derjenigen, die arbeitslos geworden sind. Oder der ernüchternde und ermüdende Aufruf, dass uns im Angesicht einer weiteren Implosion der globalen Schuld gar nichts anderes übrig bleibt, als wieder und jetzt erst recht mit der Arbeit zu beginnen – wie es der neue US-Präsident in seiner Rede forderte: „Starting today, we must pick ourselves up, dust ourselves off, and begin again the work of remaking America.“
IV.
Es ist eben diese Dynamik des Kapitalismus als einer ausweglosen Verschuldung der Welt bei sich selbst, die Walter Benjamin in seinem Fragment Kapitalismus als Religion als Kennzeichen jener „historisch unerhörten“ Religion bezeichnet hat, in die sich „das Christentum zur Reformationszeit“ „umgewandelt“ habe. Der Kapitalismus ist, so Benjamin, eine Religion ohne die Möglichkeit der Umkehr; eine Religion, in der die Schuld nicht mehr gesühnt werden kann, sondern sich unabsehbar akkumuliert – in der geheimen Hoffnung, dass sie irgendwann mit Zins und Zinseszins ausgezahlt würde. In diesem Sinne rechnet Benjamin neben Nietzsche auch Marx unter die Priester dieser Religion: Denn während bei Nietzsche der Übermensch „ohne Umkehr“ aus der Immanenz der Verschuldung hervorwächst, soll für Marx der Sozialismus dann, wenn die Bücher geschlossen werden, die Zinsen einfahren: „Und ähnlich Marx: der nicht umkehrende Kapitalismus wird mit Zins und Zinseszins, als welche Funktionen der Schuld (siehe die dämonische Zweideutigkeit dieses Begriffs) sind, Sozialismus.“ Doch dieser große Zahltag erfolgt freilich nie. Auch Benjamin selbst scheint die Hoffnung auf ihn noch nicht ganz preisgegeben zu haben, wenn er zur Unmöglichkeit, die religiöse Struktur des Kapitalismus nachzuweisen, mit einer paulinischen Geste anmerkt: „Wir können das Netz in dem wir stehen nicht zuziehn. Später aber wird dies überblickt werden.“ Später – aber wann? „We are, to be sure, still waiting fot that ‚later‘. It may be a long wait“13, kommentiert Samuel Weber. Und er erkennt in der Bilanz die „säkularisierte“ Form jenes dies irae, des Zahltages, an dem Gott selbst „Staat macht“ und die Bücher schließt (Bücher, die er selbst übrigens schon seit dem 3. Jahrhundert nach dem Prinzip der doppelten Buchführung anlegt)14. Benjamin notiert: „die Bilanz als das erlösende und erledigende Wissen.“ Und Weber kommentiert: „The redemption of Schuld is inseperable from its reproduction; each bottom line is a new limit to be exceeded.“ Und weil Schuld und Sühne somit untrennbar geworden sind, sind in der globalen kapitalistischen Gesellschaft letztlich Apokalypse und Parusie auf Dauer gestellt. Auf die Krise folgt „Die Rettung“,15 dann wieder die neue, diesmal endgültige Krise; oder vielleicht ist die Krise gar selbst schon die Rettung als „Marktbereinigung“ und „Korrektur“.
Ein gewichtiger Unterschied zur Konzeption Marx’ fällt allerdings ins Auge: Benjamin spricht in seinem Fragment nicht von der Arbeit. Für ihn ist der Kapitalismus vielmehr „eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat“, die zudem „die permanente Dauer des Kultus“ kennzeichnet. Es gibt hier „keinen Wochentag“, also auch keine Arbeit. Doch entspricht jener Kultus, der „verschuldend“ ist, nicht demjenigen, was bei Marx mit dem Namen „abstrakte Arbeit“ bezeichnet wird? Ist jene nicht eine endlose, nie zur Ruhe kommende, die ganze Gesellschaft einschließende Tätigkeit, welche die Welt als Mangel an Welt, als Schuld und Kredit aus dem Nichts stets neu hervorbringt?
Was wäre dann also die Nicht-Arbeit? Gibt es eine Tätigkeit, einen Zustand, eine Wahrnehmung, die der Schuldökonomie entgehen kann? Samuel Weber sucht in der Hölderlinschen Dichtung und ihrer Lektüre durch Benjamin eine andere Antwort auf die Sorgen der modernen Epoche, als das „erlösende und erledigende Wissen der Bilanz“ sie geben könnte: Hölderlins Gedichte sagen eine unendliche Relationalität aus, die nur je balanciert, aber nicht bilanziert werden kann. Und aus ihnen spricht eine Geste der Schuldlosigkeit und der Sorglosigkeit: „Drum mein Genius, tritt nur / Baar in’s Leben, und sorge nicht!“16
Werner Hamacher indes stellt der Kapitalzeit als Schuldzusammenhang Benjamins Denken der Zeit als Verzeihung entgegen, wie es in einigen frühen Fragmenten skizziert wird: „Zeit verzeiht und ist nichts als Verzeihung.“17 Während die Kapitalzeit die Schulden der Vergangenheit akkumuliert und die Zukunft somit immer schon verrechnet hat, kommt die Zeit der Verzeihung aus einer offenen Zukunft. Als Aufschub, Unterbrechung und, wie es bei Hamacher an anderer Stelle heißt, afformativ wirkt diese Zeit der Schuldökonomie entgegen. Sie ist, nach Benjamin, der Zorn Gottes – sein Zorn auf das menschliche Recht und die Verschuldungslogik, die es impliziert: „Wie der reinigende Orkan von dem Gewitter dahinzieht, so braust Gottes Zorn im Sturm der Vergebung durch die Geschichte […].“19
Doch ist es überhaupt erstrebenswert, der Schuldökonomie zu entgehen? Warum sollten wir versuchen, ein Anderes der Schuld, der Spekulation, des Kredits zu denken? Jacques Derrida hat immer wieder auf den Ursprung des Wortes „Kredit“20 („er glaubt“) verwiesen und – gegen eine Metaphysik der Arbeit, die sie rein von Spekulation halten will – insistiert, dass eine Gesellschaft, in der niemand dem anderen Kredit gibt, eine Gesellschaft ohne Glauben also, schlichtweg nicht möglich sei. Und doch denke ich, dass sich beim Übergang vom „Credo“ zum „Kredit“ oder auch von der Schuld und Arbeit der Kreatur zur „öffentlichen Schuld“ des Staates und zur Ökonomie der modernen Arbeit etwas verschiebt. Ich glaube, dass diese Verschiebung vielleicht sogar etwas mit der gegenwärtigen „Krise“ zu tun hat; vor allem aber, weil es vielleicht dazu beitragen kann, zu verstehen, was im Angesicht all dessen „Nicht-Arbeit“ sein soll.
Was sich verschiebt, was seine Form bis zur Unkenntlichkeit wechselt, ist eben der Bezug auf die Zukunft. Ich möchte ihn hier mit dem Begriff der Gnade fassen. Die moderne Arbeit, die die Schuld, die sie tilgen will, immer nur vergrößert, kennt keine Gnade; sie ist gnadenlos. Ihre einzige Gnade ist die Bilanz, die nur zu neuer Arbeit und neuer Schuld den Anreiz gibt. Unter Gnade verstehe ich vor allem eine inkommensurable, unberechenbare Zukunft; eine Zukunft, die nicht erarbeitet werden kann oder muss und auf die kein Kredit aufgenommen werden kann, der mit Sicherheit zurückgezahlt wird. Denn soweit meine Kenntnis ausreicht, liegt der gegenwärtigen Krise nicht unbedingt nur die letztlich sogar irgendwie charmante Idee zugrunde, Immobilienkredite an Mittel- und Einkommenslose zu verteilen; sondern vielmehr die Vorstellung, die entstehenden Risiken könnten in den Portfolios von Investoren, die in diese wohlklingenden Schrottpapiere investiert haben, präzise und sicher gegengerechnet werden.
Das Fehlen einer Vorstellung von Gnade (oder Ungnade) bedeutet, dass eine Idee des absoluten, unverfügbaren Risikos fehlt. Es heißt aber auch, dass, nachdem das Unwahrscheinlichste eingetreten ist, weitergerechnet und weitergearbeitet wird wie zuvor, dass die nun kreditunwürdigen Kreditnehmer aus ihren Häusern gejagt werden oder ein insolventer ehemaliger Milliardär sich von Schuld und Schulden gepeinigt vor einen Nahverkehrszug wirft.
Um es positiv zu formulieren, glaube ich – und damit greife ich mit Hamacher Benjamins Idee der Zeit als Sturm der Vergebung auf, die er dem Schuldzusammenhang entgegenstellt –, dass Nicht-Arbeit ein wie auch immer geartetes Echo auf die Idee der Gnade in sich trägt. Gnade als Aussetzen der Schuld und der Verschuldungsökonomie; Gnade aber auch als grace, als unproduktiver Glanz eines unökonomischen Moments. Gnade auch in dem Sinne, dass man von jemandem, der etwas wirklich gut macht, sagt, dass er oder sie „begnadet“ sei. Nicht-Arbeit findet dann statt, wenn wir nichts und niemandem etwas schulden.
Diese Gnade können wir nicht für uns in Anspruch nehmen, um die Nicht-Arbeit zu definieren. Wir können sie überhaupt nicht in Anspruch nehmen; natürlich nicht. Wir können auch weniger als auf alles andere auf jemanden rechnen, der sie uns spendet. Sie fällt uns vielleicht zu oder auch nicht. Wir können – und sollten – einen Kredit auf die Gnade aufnehmen, wir sollten sogar mit ihr spekulieren – aber nicht in dem Sinne, dass wir dann arbeiten und weiter arbeiten müssen, um diesen Kredit, während er sich unabsehbar vergrößert, irgendwie abzustottern. Wir sollen sie vielleicht einfach nur zulassen, wartend und gelassen.
1 Vgl. Werner Hamacher: „Arbeiten Durcharbeiten“, in: Dirk Baecker (Hg.): Archäologie der Arbeit, Berlin: Kadmos 2002, S. 155-200.
2 Vgl. Werner Hamacher, „Schuldgeschichte. Benjamins Skizze ,Kapitalismus als Religion‘“, in: Dirk Baecker (Hg.): Kapitalismus als Religion, Berlin: Kadmos Kulturverlag 2003, S. 77-119.
3 Karl Marx: Das Kapital. Erster Band, Berlin: Dietz, S. 49. Mit der Bestimmung der Ware als „Elementarform“ beginnt bekanntlich das Kapital.
4 Walter Benjamin: „Kapitalismus als Religion“, in: Gesammelte Schriften, Bd. VI, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 100–103, hier: S. 102.
5 Vgl. Jean-Luc Nancy: „Das gemeinsame Erscheinen. Von der ,Existenz‘ des Kommunismus zur Gemeinschaftlichkeit der ,Existenz‘“, in: Joseph Vogl (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 167–204.
6 Karl Marx: Einleitung zu den ,Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie‘“, in: ders., Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA), Bd. II, 1.1, S. 17–45, hier: S. 39.
7 Vgl. Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft, Zürich, Berlin: diaphanes 2008, v.a. S. 335ff.
8 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 216: „Das Zeichen, das sie [die Golddukaten im 16. Jahrhunderts] tragen, ist nur die genaue und transparente Markierung des Maßes, das sie bilden.“
9 Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 276: Der Umgang mit Marx in dieser bahnbrechenden Studie ist dennoch überraschend – sehr oft wird er, fast immer zustimmend, kurz erwähnt, meist mit Formeln wie „auch“ oder „ebenso“. Eine direkte Auseinandersetzung findet jedoch nicht statt.
10 Vgl. zur Frage von fiat money und Goldstandard aus einer anderen Perspektive u.a.: Milton Friedman: „The Resource Cost of Irredeemable Paper Money“, in: The Journal of Political Economy, Vol. 94, No. 3, Part 1 (Jun., 1986), S. 642-647.
11 William Shakespeare: „Romeo and Juliet“, in: The Complete Works, New York, NY, Avernel, NJ: Gramercy Books o.J., 1010–1044, hier: S. 1021.
12 Hamacher: „Schuldgeschichte“, S. 97f.
13 Samuel Weber:, „The net and the carpets“, in: Targets of Opportunity. On the Militarization of Thinking, New York, NY: Fordham UP 2005, S. 109–133, hier: S. 124.
14 Vgl. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 26.
15 So titelte das Handelsblatt am 14.10.2008 in Großdruck nach dem im Stile eine Notstandsverordnung beschlossenen Gesetz über den „Rettungsschirm“ für das Bankenwesen. Genauer: „Die Rettung. Staaten greifen ein, Börsen jubeln.“
16 Friedrich Hölderlin: „Blödigkeit“, in: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, München: Hanser 1992, S. 443.
17 Hamacher: „Schuldgeschichte“, S. 119.
18 Vgl. Hamacher: „Afformativ, Streik“, in: Christiaan L. Hart-Nibbrig: Was heißt ‚Darstellen‘?, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 340-374.
19 Benjamin: „Die Bedeutung der Zeit in der moralischen Welt“, in: Gesammelte Schriften, Bd. VI, S. 97–98, hier: S. 98.
20 U.a. in: Jacques Derrida: Zeit geben 1: Falschgeld, München: Fink 1993.