Mitteleuropa. Dekonstruktion einer Apotheose

Aus Gesprächen mit Jacques Le Rider zusammengefasst von Christian Reder.

Online seit: 05. September 2019

Neu belebt wurde der Begriff ‚Mitteleuropa‘ im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands und der Emanzipation der Völker Osteuropas von der zerfallenden Sowjetunion. Mit Geografie hat er wenig zu tun. Es gibt keine akzeptierte Mitte Europas. Mitteleuropa ist eine politische Raumvorstellung, für die Unfestes, Wandelbares, Achtloses charakteristisch ist. Dennoch hieß es unvermutet, das ehemalige Mitteleuropa kehre zurück nach Europa – vor allem auf Seiten jener, die behaupten, dessen Standards zu verteidigen, und ein Definitionsmonopol reklamieren, das sich auf eine bewertbare Skala des Europäischen beruft. Diese Kluft-Mentalität des EU-Europa macht die Auseinandersetzung mit der Kulturgeschichte Mitteleuropas, mit dessen vielfach idealisierten interkulturellen Traditionen diffizil. Die Einstellung dazu verdeutlicht, wie sehr ein Europagefühl eine Frage der Generationen und kultureller Prägung ist. Nicht korrekt übersetzbar, ist dieser belastete Begriff in Frankreich, in Großbritannien schwer verständlich. Europe centrale, Central Europe bedeuten etwas ganz anderes. Deswegen ist einerseits ‚Zentraleuropa‘, andererseits ‚Donauraum‘ gebräuchlicher geworden. Inwieweit Deutschland Mitteleuropa repräsentiert, blieb ein strittiges Thema, auch was Österreich dazu leistet oder leisten könnte. Wegen seines Konnexes mit den Ideen von 1914 und der Politik der Mittelmächte und der Achsenmächte in beiden Weltkriegen hat ein Mitte-Denken sogar etwas Gespenstisches an sich. Seine politische Brisanz stammt aus Friedrich Naumanns Buch Mitteleuropa. Die von ihm beeinflussten deutschen Militärs haben bekanntlich weit über das darin angedachte – Ostpreußen, Polen, das Baltikum einschließende und von Hamburg in Richtung Konstantinopel, als Zugang nach Bagdad, nach Suez auszuweitende – Mitteleuropa hinausgeplant, obwohl Naumann selbst als Gemäßigter in der Tradition des Nationalliberalismus stand. Bulgarien hat er erst zu Mitteleuropa gezählt, als es zum Bündnispartner geworden war. Die Ukraine hat längst schon als Kornkammer und Kolonisierungsgebiet im Blickfeld der Begehrlichkeiten gestanden. Dieser historische Konnex der preußischen Mitteleuropa-Konzeption verschwimmt latent mit der habsburgischen für den Donauraum in Richtung Schwarzes Meer, der Region, in der Österreich so lange mit dem Osmanischen Reich und dann mit Russland um seine Vormachtstellung gerungen hat. Selbst in der deutschen und österreichischen Geschichte ist ‚Mitteleuropa‘ somit ein schwieriger, komplexe Zusammenhänge komprimierender Begriff. Friedrich Naumanns 1915 propagierte, die Interessen des Zweibundes zusammenführende Vermischung dieser beiden Mitteleuropatraditionen erhellt seine Geschichte, wäre aber eine höchst problematische Leitlinie. Grenzen werden zwar kaum noch offensiv in Frage gestellt, Kapitalhegemonie ist aber durchaus ein Thema. Worauf nördliche Versionen angeblich integrativer, mitteleuropäischer Nachbarschaft hinauslaufen sollten, als sich das Bildungsbürgertum nach deutscher Reinheit sehnte, machte früh Gustav Freytags Soll und Haben anschaulich. Als Ausdruck dessen antislawischer, antisemitischer Tendenz ist immer wieder abfällig von „polnischer Wirtschaft“ die Rede. Theodor Fontane, der das Feinste ist, was man sich unter preußischem Geist vorstellen kann, hatte damit keine Probleme. In seinem Kommentar zum Buch heißt es: „Die Polenwirtschaft ist durch sich selbst dem Untergange geweiht. Preußen ist der Staat der Zukunft, weil er, solange es einen Protestantismus gibt, immer einem tief gefühlten Bedürfnis entsprechen wird und das Bürgertum ist unbestritten die sicherste Stütze jedes Staates und der eigentliche Träger aller Kultur und allen Fortschritts.“ Solche deutschen Vorstellungen von kulturellem, politischem, wirtschaftlichem Messianismus machen den Begriff ‚Mitteleuropa‘ im historischen Kontext so unerträglich, so unheimlich, auch so gefährlich. Für den deutschen Imperialismus bezeichnete er nichts anderes als Kolonialismus in Richtung Osten. Der nach 1848 im Zuge der Debatten pro und kontra Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation – das weder sprachlicher noch ethnischer Begründung bedurfte – kursierende Traum von Vereinigten Staaten von Mitteleuropa war nach dem Krieg zwischen Preußen und Habsburg und der Ausrufung des Deutschen Kaiserreiches zerbrochen. Mit diesem radikalen Traditionsbruch reklamierte das protestantische Preußen die Semantik des Reiches unter Ausschluss des katholischen Österreichs für sich – als Teilung, nicht als Vereinigung und als Beginn des deutschen Sonderweges, der schließlich so negativ eskalierte.

Polyglott im Einheitscafé

Auf den ersten Blick viel friedlicher stellte sich die Lage in Österreich-Ungarn dar. Baedeker-Reiseführer der Zeit schildern das habsburgische Mitteleuropa als kulturellen Raum, in dem es keinen Passzwang und auch sonst kaum noch Barrieren gab: „Die Kenntnis der deutschen Sprache ist in den slawischen und italienischen Gebieten bei den Gebildeten fast überall verbreitet“, selbst „Zollbeamte, Gendarmen und Schutzleute, Hotelbedienstete und Kutscher sind fast durchwegs der deutschen Sprache mächtig“, „die Speisehäuser haben in der ganzen Monarchie die gleiche Einrichtung“. Das war auch bei Cafés von Wien bis Lemberg oder Czernowitz so, selbst deren Mehlspeisen unterschieden sich kaum. Die Architektur der Provinzstädte repräsentierte Wien in kleinem Format. Dieses homogenisierende Gesamtstaatsdenken prägte die mitteleuropäische Realität, obgleich es sich im Osten und Südosten um ein Quasi-Kolonialreich gehandelt hat, um eine Kompensation für die Kolonialreiche Englands und Frankreichs. Das deutschnationale Bürgertum konnte dort andere kultivieren und kolonisieren, im Namen deutschsprachiger Bildungswerte, deutscher Arbeit, deutschen Kapitals. Somit kann kaum von einem nichtdeutschen Mitteleuropa gesprochen werden. Mitteleuropa blieb, und das ist die große Schwäche und Ambivalenz dieser Zugehörigkeitsbehauptung, bis heute primär eine Vorstellung von Deutschen und Österreichern bezogen auf Regionen östlich von Berlin und östlich von Wien, wo das ‚Zwischeneuropa‘ von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer – zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland liegend – den damaligen Großmächten Expansionsmöglichkeiten bot.

Es gibt keine akzeptierte Mitte Europas.

Gleichzeitig ist es eine Tatsache, dass es seit dem Ausgleich mit Ungarn 1867 zu einem Zusammenwachsen der Länder, zum Entstehen eines Kultur-, Wirtschafts- und Verkehrsraumes gekommen war, der nicht mehr bloß ein dynastischer Herrschaftsverbund gewesen ist. Die 24 Bände Österreichischungarische Monarchie in Wort und Bild präsentieren die Pluralität der erträumten Mitteleuropa-Monarchie unter beachtlicher Analyse der Multikulturalität und Verschiedenheit. Generell wird unterstellt, dass Kultur verbinde. Die stärkere Erfahrung, dass Kultur – nach den Kriterien Herders definiert als Sprache, Brauchtum, Religion – trennt, blieb illusionistisch ausgespart. Die Kultur- und Wirtschaftsgemeinschaft Mitteleuropa war zugleich Verbindung und Trennung. Für Polen etwa gab es nie ein Mitteleuropa. Sein Zusammenhang mit dem deutschen und dem österreichischen Mitteleuropa resultierte aus seiner Aufteilung, von der Preußen, Österreich und Russland profitiert hatten. Tschechen wurden permanent als zweitklassig brüskiert. Auch Serben, Bosnier, Italiener entwickelten kaum Zugehörigkeitsgefühle für Mitteleuropa. Solche konnte es nur bei Nutznießern wie in Ungarn geben, als Partizipation an der Hegemonie.

Während sich deutsche Emigranten des Mittelalters und der frühen Neuzeit, abgesehen von Enklaven, assimilierten, zu Polen, Balten, Russen oder Ungarn geworden sind, waren später, nach klassischer Reichspolitik – wie seit Alexander dem Großen – Verwalter, Militärs, Handwerker und Bauern angesiedelt und Steuern eingetrieben worden, mit ganz anderer Signifikanz für ein Zusammenleben. Sie sollten sich nicht mehr integrieren, sondern als lokale Eliten deutsche und österreichische Besonderheiten repräsentieren, den Staat, bestimmte Wirtschaftsweisen, um zivilisierend zu wirken. Wichtig für das Verständnis ist auch der Effekt zunehmend nationsbezogener Aufklärung, Unterschiede zu überzeichnen, zu vergrößern, überzubewerten, die davor Jahrhunderte lang eine quantité négligable waren. Historische Rekonstruktionen sollten essenzielle Differenzen deutlich machen. Gerade in Mitteleuropa hat die Bevölkerung zunehmend die Hypostasierung der kleinen Unterschiede einem Zusammengehen, einer Annäherung vorgezogen.

Zu beachten ist, dass sich unter dem österreichisch-ungarischen Dualismus Zisleithanien, also dem Bogen von Venedig bis nach Czernowitz, und Transleithanien, die Gebiete der Stephanskrone, ganz anders entwickelt haben. Das Nord- und Südslawen trennende Ungarn bezog sich auf das Großungarn von Matthias Corvinus vor der türkischen Invasion, verfolgte ganz andere Auffassungen von Multikulturalität und Pluralität. Sein einziger Ausgleich, jener mit Kroatien und Slawonien, wurde permanent durch Magyarisierung und Zentralismus ausgehöhlt. Verstreut lebende Serben oder die Rumänen in Siebenbürgen und im Banat wurden in Ungarn viel rigoroser behandelt als früher von den Habsburgern, als die ethnisch gemischten Bewohner der „Militärgrenze“ gegen das Osmanische Reich einen Sonderstatus hatten, durchaus ähnlich wie die Kosaken in Russland, nur dass durch eine heterogene Siedlungspolitik dafür gesorgt wurde, dass unter dieser Grenzbevölkerung keine Solidarität entstand.

Hexenkessel des Rassenkampfes

Das Modell, die Utopie eines mitteleuropäischen Pluralismus und Liberalismus ist höchstens in Zisleithanien vorstellbar und in Ansätzen real gewesen. In Ungarn lief das anders, gleichsam im Rücken der Monarchie in Affinität zur französischen politischen Kultur mit ihrer Vorstellung einer demokratisch aufgebauten und integrativ offenen Nation, in der ethnic und linguistic communities keinen legitimen Sonderstatus haben. In Verfassungsrealität und Tagespolitik ist davon allerdings wenig sichtbar geworden. Bemühungen, zumindest den Slawen einen gleichberechtigten Status zu verschaffen, kamen bekanntlich zu spät. Gegenüber Deutschen (24%) und Ungarn (20%) blieb die Mehrheit der in zwölf anerkannte Nationen gegliederten Bevölkerung Österreich-Ungarns von einer wirksamen politischen Repräsentation ausgeschlossen, die Tschechen (13%), die Polen (10%), die Ruthenen, also die ‚österreichischen‘ Ukrainer (8%), die Rumänen (6%), Kroaten (5%), Slowaken (4%), Serben (4%), Slowenen (3%), Italiener (2%) und Bosnier (1%). Auch in den Nachfolgestaaten ist die Minoritätenpolitik spannungsreich, ob bezogen auf die Ungarn in der Slowakei und in Rumänien, auf Albaner im Kosovo, Türken in Bulgarien, Roma und Sinti. In aller Regel gelten ansässige Juden weiterhin nicht als Teil der eigenen Nation. Selbst die Grenze zum orthodoxen, kyrillischen, ‚byzantinischen‘ Europa als Linie Kroatien–Slowenien–Österreich–Slowakei–Polen–Baltikum spielt in mehr oder minder verdeckter Form immer wieder eine Rolle.

Ein entscheidender Punkt für Reflexionen zu Mitteleuropa sind für mich die frühen Ansätze einer Konfliktanalyse von Ludwig Gumplowicz, der, selbst assimilierter Jude aus Galizien, als Anthropologe und Soziologe an der Universität Graz gelehrt hat und die Geschichte Mitteleuropas hellsichtig unter dem Titel Der Rassenkampf (1883) beschrieb: Mitteleuropa als Hexenkessel des Rassenkampfes, als Nährboden der bösartigsten Formen des Nationalismus und ethnischer Säuberungen, als brodelndes Potenzial einander feindselig gegenüberstehender sozialer Gruppen. Gumplowicz machte die Furie des habsburgischen Mythos kenntlich. Es gibt also diese Polaritäten im österreichischen Erbe. Harmonisierende Darstellungen verschließen die Augen davor, welche Vorgeschichte zur Eskalation nationaler Chauvinismen und zur exzessiven Radikalisierung des Antisemitismus geführt hat.

Praktisch jede sich in der Donauregion formierende Gesellschaft hatte und hat Raumvorstellungen, die nicht mit aktuellen Grenzen übereinstimmen.

Die Situation der Juden, im Grunde genommen die einzig lebendige, greifbare Realität Ost-Mitteleuropas, ist dafür der zentrale Punkt. Gerade von jüdischen Eliten ist ein Mitteleuropadenken wach gehalten und in eine erlebbare Kulturgemeinschaft verwandelt worden. Assimilierte Juden haben nach der Revolution von 1848 den Liberalismus und den habsburgischen Föderalismus mitgeprägt. Joseph Samuel Bloch, Vertreter des heute ukrainischen Kolomyja (Kolomea) im Reichsrat, hat in Der nationale Zwist und die Juden in Österreich (1886) diese mitteleuropäische Kulturgemeinschaft am schönsten zum Ausdruck gebracht. In den urbanen Inseln des mitteleuropäischen Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg waren Juden die Basis dieser Wirklichkeit gewordenen Völkergemeinschaft und Interkulturalität, man möchte fast sagen einer mitteleuropäischen Supranationalität. Zugleich wurden das Wien Karl Luegers und die Konkurrenzmetropole Budapest parallel zu den dort erbrachten eindrucksvollen künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen bekanntlich Zentren eines rabiaten Antisemitismus, der sich in der Zwischenkriegszeit in Ungarn durch frühe antijüdische Gesetze weiter verschärfte und in beiden Ländern zur bereitwilligen Kooperation mit der Nazimacht geführt hat. Was punktuell in Ostmitteleuropa als emanzipiert-jüdische Kultur experimentiert und vorgeführt worden war, entsprach Ansätzen europäischer Identität. Emigration und Vernichtung haben einem daran orientierten – unreflektiert wieder geläufigen – Vorbilddenken jede Basis entzogen.

Nach 1945 war Mitteleuropa ein halbes Jahrhundert lang verschwunden – ein bloßer Erinnerungsort. Mitteleuropa-Konjunkturen und -Diskontinuitäten verlagerten sich auf unterschwellige Diskurse, unter Berufung auf die Schicksalsgemeinschaft jener Länder, die unter ihrem hausgemachten Faschismus, dem Nationalsozialismus, dem Stalinismus und Post-Stalinismus gelitten haben. Mit dem Vordringen Russlands nach Mitteleuropa war dessen seit jeher argwöhnisch verfolgter ‚Drang nach Westen‘ Realität geworden, verschärft durch Kommunismusfurcht. Der unterbrochene West-Ost-Bezug war noch allgemein geläufig, weil viele aus dem Osten zugewandert oder im Osten gewesen waren, vielleicht dort hatten kämpfen müssen. Von ‚außen‘ betrachtet, ist die Mitte Europas als Ausgangspunkt der Aggression durchwegs mit Misstrauen betrachtet worden. Im Zuge der Debatten um die Millionen deutschen Heimatvertriebenen geriet die Betonung von Mitteleuropa oft genug in Verdacht, Stichwort für Revanchisten zu sein. Semantische Zurückhaltung schien geboten. Die gespenstische Präsenz von Mitteleuropa im wichtigen Buch von István Bibó über Die Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei ist zu nennen. Bei Czeslaw Milosz, Milan Kundera, György Konrád und anderen namhaften Intellektuellen bekam Mitteleuropa als rückwärtsgewandte Utopie, als Projektionsfläche schönerer Zeiten neu gefasste Konturen, vielfach als Ermutigung, sich überhaupt eine Zukunft für Europa vorstellen zu können – unter Bezug auf Situationen, als in kultureller Hinsicht die Peripherie im Zentrum lag, der Rand Europas dessen Mitte gewesen ist. Für deutschsprachige Intellektuelle gab es bei diesem Thema die alles weiter verkomplizierende Schwierigkeit, mit den Dissidenten des Ostblocks umgehen zu können, ohne in die Nähe der Kalten Krieger zu geraten. Es galt, direkte Vergleiche der Schrecken der Nazizeit mit den Schrecken des Stalinismus zu vermeiden, um ein Bewusstsein für beides wachzuhalten, ohne Relativierung und ohne das Unvergleichliche am nazistischen Mitteleuropa zu verwischen. Für Teile der Nachkriegsgeneration – sagen wir die 68er – waren das vielfach existenzielle Fragen der eigenen Orientierung angesichts der damals erst rudimentär aufgearbeiteten Umstände, Dimensionen, Zusammenhänge. Oswald Wieners die verbesserung von mitteleuropa (1969) ist als verzweifelte, skeptische Auflehnung gegen das reale Mitteleuropa der 1960er Jahre zu lesen. Sinkt bei jüngeren Generationen, denen Informationen längst zugänglicher sind, mit dem zeitlichen Abstand auch das Interesse, dann um den Preis eines gewissen Verlustes an historischem Bewusstsein. Die Rollenverteilung zwischen Deutschland und Österreich wirft ein weiteres Licht auf diese Prozesse: einerseits das – zumindest tendenziell und offiziell – eher vornehme Deutschland mit seiner beispielhaften, geopolitisch zurückhaltenden Vergangenheitsbewältigung, andererseits Österreich, das unbekümmert Mitteleuropa-Nostalgien reaktivieren konnte, als im Vergleich dazu halbe Sache, wie auch sonst bei der Aufarbeitung seiner Vergangenheit.

Friedensverträge, Kriegsverträge

Dennoch schien im Zuge der Neuordnung Europas nach 1989 der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn als Modell wieder Zukunft zu haben, bestärkt etwa vom französischen Germanisten und Historiker Pierre Béhar durch sein Buch L’Autriche-Hongrie, idée d’avenir – Permanences géopolitiques de l’Europe centrale et balkanique (1991) (auf deutsch: „Österreich-Ungarn als Zukunftsidee geopolitischer Permanenz von Zentral- und Balkaneuropa“). Als eine Art Verheißung für die Osterweiterung der EU sollte vom preußischen – in der Folge nazistischen –, mit Nationalismus, Imperialismus, Antisemitismus, Antislawismus belasteten Mitteleuropa neuerlich die idealisierte Vorstellung eines an österreichisch-habsburgischen Traditionen orientierten multikulturellen Mitteleuropas abgespaltet werden. In bestimmten konservativen österreichischen Kreisen war diese Version höchst willkommen; man freute sich über die Aufwertung des eigenen Erbes, des eigenen Stellenwerts. Im Zuge des EU-Beitritts wurde ständig Österreichs Mitteleuropa-Kompetenz betont, seine Brückenfunktion im Donauraum, die sich die EU nutzbar machen könne. Heute, fast zwei Jahrzehnte später, ist absehbar, inwieweit das Realität wurde oder Illusion beziehungsweise bloße Propaganda gewesen ist. Abgesehen von sich anbietenden Investitionen ist nicht zu sehen, wo diese Phrasen demokratiepolitisch gegriffen hätten. Hauptproblem ist die in Eruptionen kulminierende Tendenz vom Nebeneinander zum Gegeneinander geblieben. Sie eine Zeit lang unter Kontrolle zu halten, war der Kreativität des habsburgischen Mitteleuropa nur während kurzer Phasen gelungen, bevor es unter dem Druck der Nationalitätenkämpfe auseinander gebrochen ist. Praktisch jede sich in der Donauregion formierende Gesellschaft hatte und hat Raumvorstellungen, die nicht mit aktuellen Grenzen übereinstimmen. Das ist das Verhängnis Mitteleuropas, das die Friedensverträge von Versailles und Saint-Germain, die Kriegsverträge gewesen sind, noch verschärft und perpetuiert hatten. Außerhalb nationaler Grenzen lebende Deutsche, Ungarn, Serben, Kroaten, Rumänen, Bulgaren, Albaner wurden – wenn es die Lage zuließ – zum Sprengstoff, wie sich am Zerfall Jugoslawiens gezeigt hat. Ein solidarisches Miteinander, einerseits die Aufnahme ungarischer und tschechoslowakischer Flüchtlinge in Österreich, andererseits die Vorreiterrolle Jugoslawiens und dann Ungarns bei der Liberalisierung des Grenzverkehrs, blieben solitäre Situationen. Selbst bessere Verkehrsverbindungen von Wien nach Prag oder Bratislava sind erst zwanzig Jahre nach der Wende in konkreterem Realisierungsstadium.

Generell wurde unterstellt, dass Kultur verbinde. Die stärkere Erfahrung, dass Kultur – nach den Kriterien Herders definiert als Sprache, Brauchtum, Religion – trennt, blieb illusionistisch ausgespart.

Während es nach französischer Tradition eine Selbstverständlichkeit ist, französisch sprechende Belgier oder Schweizer, auch wenn ihr Gebiet in alten Zeiten vielleicht zu Frankreich gehört hat, nach ihrer Nationsbildung nicht mehr als Franzosen anzusehen, hat gerade Österreich auf dem Balkan mitgewirkt, mit seinem kulturell-konfessionellen Verständnis von Nation eine strikt politische Auffassung von Nationalstaaten zu konterkarieren, obwohl es unmöglich ist, in dieser Region kulturelle Zugehörigkeit mit politischen Grenzen in Deckung zu bringen. Dieser furchtbare Bürgerkrieg, all diese Gemetzel waren eine unmittelbare Folge der überstürzten Nationalstaatsbildung. Abgesehen von Slowenien war Jugoslawien noch nicht bereit, diesen kurzen Übergang von einem autoritären Föderalismus zur Bildung von Nachfolgestaaten im Verhandlungsweg zu gehen. Frankreich hat lange versucht, einem südslawischen Bund ohne Abspaltung den Weg zu bereiten. Deutschland war dagegen, weil es darunter ein Groß-Serbien verstanden hat und ihm seine einstigen Protektorate Slowenien und Kroatien sichtlich näher standen … Solche mitteleuropäische Konfusionen halten in Erinnerung, wie sich historische Linien eines ursprünglich preußischen, ‚bösen‘, imperialistischen Mitteleuropa und eines habsburgischen, anscheinend ‚guten‘, zukunftsträchtigen Mitteleuropa vermischt haben. Das ehemals österreichisch-ungarische Mitteleuropa hat die Polarität von beidem in nachwirkender Weise internalisiert. Als überlegenes Projekt hat es sich nie erwiesen. Erst Brüche machen ein Ablösen von Vergangenem zur Chance, nicht Nostalgie. Mitteleuropa ist, wie Europa insgesamt, das Beste und das Übelste in einem, es ist zugleich mehr oder minder sublimierter Chauvinismus und Rassenkampf – was Ludwig Gumplowicz als das Destruktivste an ihm benannt hat – und auf Pragmatik angewiesene, permanent neu zu belebende Utopie.

Literatur

Jacques Le Rider: Mitteleuropa. Auf den Spuren eines Begriffes. Essay (Paris 1994), übersetzt von Robert Fleck, Wien 1994

Friedrich Naumann: Mitteleuropa. Berlin 1915

Ludwig Gumplowicz: Der Rassenkampf. Innsbruck 1883

Oswald Wiener: die verbesserung von mitteleuropa, roman. Reinbek bei Hamburg 1969

Joseph Samuel Bloch: Der nationale Zwist und die Juden in Österreich. Wien 1886

Pierre Béhar: L’Autriche-Hongrie, idée d’avenir – Permanences géopolitiques de l’Europe centrale et balkanique. Paris 1991

Jacques Le Rider ist Professor für deutsche Kulturgeschichte an der Ecole pratique des Hautes Études, Section des Sciences historiques et philologiques in Paris. In seinen Forschungen setzt er sich schwerpunktmäßig mit der Literatur beziehungsweise Kultur des Wiener Fin de Siècle auseinander. Zuletzt erschien die Studie Arthur Schnitzler oder Die Wiener Belle Epoque (Wien, Passagen Verlag 2007).

Christian Reder ist Professor an der Universität für angewandte Kunst Wien und Leiter des dortigen Zentrums für Kunst- und Wissenstransfer. Der hier abgedruckte Text ist Teil seines breit angelegten transdisziplinären Forschungs- und Kunstprojektes, das in dem eben erschienenen Buch Graue Donau, Schwarzes Meer seinen Niederschlag findet.

Quelle: Recherche 1/2008

Online seit: 05. September 2019

Aus: Christian Reder, Erich Klein (Hg.): Graue Donau, Schwarzes Meer. Wien – Sulina – Odessa – Jalta – Istanbul. Springer, Wien – New York 2008. 588 Seiten, € 39,95.