Zu Jacques Derridas letzten Denk- und Schreibprojekten gehörte eine großangelegte Philosophie des Tiers, genauer: des Tierseins, noch genauer: des Tierwerdens des Menschen und damit auch seiner selbst. Eingespurt hat er dieses Projekt im Sommer 1997 mit einem mehrtägigen Seminar über Das autobiographische Tier, zu dem er eine illustre Kollegenrunde ins Schloss von Cerisy-la-Salle einberief. Dort hielt er als Hauptreferent einen knapp zehnstündigen Monstervortrag, den er nachfolgend, auf Wunsch des geneigten Publikums, durch eine Improvisation über das Tierthema bei Martin Heidegger ergänzte und damit zu einem vorläufigen Abschluss brachte. Nach diversen Vorabdrucken erschien 2006 ein umfangreiches Textkonvolut, das Derridas Auslassungen postum – zwei Jahre waren seit seinem Tod vergangen – unter dem Titel L‘animal que donc je suis in Buchform verlässlich und vollständig darbot.
Seit kurzem liegen diese Texte, von Markus Sedlaczek kundig eingedeutscht und ausgiebig kommentiert, auch hierzulande vor. Die übersetzerischen Schwierigkeiten und Defizite, mit denen bei Derrida durchwegs zu rechnen ist, manifestieren sich gleich schon in der Titelzeile: Das Tier, das ich also bin. Der doppelsinnige Gleichklang der französischen Verbform „suis“ (bin / folge) lässt sich im Deutschen nicht nachbilden, weshalb denn auch die alternative Lesart – „Das Tier, dem ich also folge“ – nicht zum Tragen kommt. Da eben diese Formulierung in Derridas Skripten vielfach wiederholt und variiert wird, muss der Übersetzer an jeder entsprechenden Stelle auf deren Doppelbedeutung verweisen und explizit machen, wie sie zu verstehen ist: ob es dem Autor-als-Menschen darum geht, sich in seinem Tiersein zu begreifen oder als einen (Menschen), der dem Tier folgt, ohne es zu verfolgen, der’s dem Tier gleichtut, sich dem Tier gewaltlos annähert, um in dessen Nachfolge seinerseits zum Tier zu werden. Zwischensprachliche Vermittlungsprobleme dieser Art gibt es hier zuhauf, selbst – und gerade – Derridas Kernaussagen sind davon betroffen, weil sie mit innersprachlichen, zumeist klanglichen Entsprechungen operieren, die in der Zielsprache wohl erklärt, nicht aber in sie eingebracht werden können. Dazu weiter unten mehr.
Grundriss einer Tierphilosophie
Der Spur des Tiers – etwa der Seidenraupe, der Ameise, des Pferds, des Igels, der Schlange – ist Jacques Derrida auch in früheren Werken umsichtig und mit bemerkenswertem Erkenntnisgewinn nachgegangen. In seiner jüngsten Schrift nun, die durch seinen Tod zum Vermächtnis geworden ist, skizziert er mit großer Geste den Grundriss einer Tierphilosophie, die nicht bloß „das Tier“ oder das Tierische besprechen, es dem Logos unterwerfen soll, die vielmehr von den Tieren her für die Tiere zu sprechen versucht, auf vielerlei Art zu sprechen versucht angesichts der vielen Tierarten, die es – noch vor dem kollektiven begrifflichen „Tier“ – neben und mit den Menschen gibt.
Statt das Tier als Mangelwesen vom Menschen kategorial abzusetzen und es somit als Nichtmensch zu disqualifizieren, nimmt Derrida – darin Noah folgend – die Tiere (d.h. alle Tiere in ihrer jeweiligen Eigenheit) hinein ins menschliche Dasein, überschreitet also oder verflüssigt jedenfalls die seit alters – von Aristoteles über Descartes und Kant bis hin zu Lacan und Levinas – befestigte Grenzlinie zwischen Menschenwelt und Tierreich, die bald als Schutzwall, bald als Abgrund das eine vom andern trennt. Derrida versucht diese Linie ausfransen zu lassen, sie zu verfalten und zu vervielfachen, sie also in die Fläche auszudehnen und solcherart einen Interferenzbezirk zwischen Tier- und Menschenwelt zu eröffnen.
Nicht mehr durch Ausschluss, sondern umgekehrt durch Einbezug soll das Fremde (wenn nicht gar das Böse), das „das Tier“ in der vom Menschen unterworfenen Natur ist beziehungsweise geworden ist, seinen eigenen Status erhalten; dadurch nämlich, dass es in seiner Fremdheit und Befremdlichkeit als das Andere des Menschen wahr-, ernstgenommen wird – ein Anspruch, den Derrida beispielsweise gegen Emmanuel Levinas durchsetzen muss, welcher seine Lehre von der Würde und Unantastbarkeit des Andern auf den Menschen beschränkt, der sich durch sein „Antlitz“ uneinholbar vom „Tier“ abhebe.
Keine Seele, keine Sprache, keine Scham
Derrida auferlegt sich einen herkulischen philosophischen Kraftakt, wenn er „das Tier“ und vollends die Tiere je einzeln – die Zikade wie den Elefanten – als Mangelwesen gegenüber weithin üblichen skeptischen Vorbehalten rehabilitieren will mit dem schlichten Argument, Tiere wie Menschen könnten sich gattungsintern ebenso unähnlich und einander ebenso fremd sein wie Mensch und Tier, was doch darauf schließen lasse, dass diese Fremdheit durch Gradunterschiede, und nicht durch Wesensunterschiede bestimmt sei. Doch Mängel und Makel sind die durchwegs negativen Unterscheidungskriterien, mit denen der Mensch das Tier als minderwertig abwehrt und ausschließt, selbst dort, wo er es zur Nutzung domestiziert. Das Tier wird gemeinhin nicht „als solches“ erkannt, es wird verkannt im Negativbezug zum Menschen, verkannt als etwas … als eine Sache, die kein Selbst- und Weltbewusstsein hat, keine Seele, keine Sprache, keine Scham, keinen Traum, kein Mitleid, etwas, das keine Kleidung, keinen Spiegel, nicht einmal das Sterben kennt. Aus Defiziten ergibt sich die Definition.
Das Tier wird gemeinhin nicht „als solches“ erkannt, es wird verkannt im Negativbezug zum Menschen.
Und aus der Definition folgt die Nutzanwendung. Diese erweist sich in aller Regel als gewalthafte Vernutzung (euphemistisch ausgedrückt: als „Verwertung“) – ein Faktum, das Derrida mehrfach anführt und durch lange Listen von Übergriffen exemplifiziert, wie sie bei Opferungen, auf der Jagd, bei der Züchtung oder Dressur, bei Tiertransporten und Tierversuchen, bei der industriellen Tierhaltung und -schlachtung gang und gäbe sind. Während Jahrhunderten habe man das „beispiellose Ausmaß dieser Unterwerfung des Tiers“ nicht zur Kenntnis genommen, da all dies „im Dienst eines bestimmten menschlichen Seins und mutmaßlichen Wohlseins des Menschen“ geschah.
Zu oft hat dem Menschen, meint Derrida, jenes Mitleid für die gequälte und missbrauchte Kreatur gefehlt, das er seinerseits beim Tier als Mangel ausmachte. Wenn er dann aber Schlachthäuser, Versuchslabors, Legebatterien und andere Orte der Massenvernutzung und -vernichtung von Tieren mit den Gaskammern, den Krematorien und Lagerbaracken der NS-Zeit auf „ein und dieselbe“ Ebene stellt, erbringt dies kaum einen Erkenntnisgewinn, eröffnet jedoch provokativ die vergleichende Frage nach dem Status „des Tiers“ und „des Juden“ im „menschlichen“ Bewusstsein wie auch in der Alltagswelt des Menschen. Derrida geht darauf ebenso wenig ein wie auf die Tatsache, dass Kinder zu Tieren oftmals ein besonderes – ein gleichermaßen spielerisches und hegendes – Verhältnis entwickeln, das frei ist von Unterwerfung, Nutzung, Gewalt.
Und noch ein in diesem Zusammenhang bemerkenswertes Phänomen bleibt bei ihm unreflektiert, die paradoxale Tatsache nämlich, dass das Tier vielerlei Defizite aufweist, die ihm – stets nach menschlichem Ermessen – nicht vorzuwerfen, sondern im Gegenteil gutzuschreiben sind. Denn das Tierreich kennt keine Lüge, keine Rache, keine Folter, keine Attentate, keinen Terror, es kennt keine körperexternen Waffen, deshalb auch keine Massenvernichtung, keinen Krieg – lauter positive Mängel, die dem Menschen als Krieger, Henker, Mörder, Amokläufer u.ä.m. abgehen; und mehr als das: wo der Mensch zum Quäler oder Totschläger oder Bombenwerfer wird, nennt man ihn (nennt er sich) „unmenschlich“, was gleichbedeutend ist mit „tierisch“, mit „bestialisch“, wiewohl doch gerade diese seine Eigenschaften insofern typisch menschlich sind, als sie dem Tier durchwegs fehlen. Also wird hier selbst das typisch Menschliche abgewehrt und ausgeblendet dadurch, dass man es als tierisch qualifiziert.
Zu oft hat dem Menschen jenes Mitleid für die gequälte und missbrauchte Kreatur gefehlt, das er seinerseits beim Tier als Mangel ausmachte.
Indem Jacques Derrida in beharrlicher Gedankenarbeit, ständig schwankend zwischen Trauer und Zorn, die menschlichen Abwehrstrategien und Repressionstaktiken gegenüber der Tierwelt aufzeigt, legt er einen langen – den längstmöglichen – Parcours durch die Menschheitsgeschichte und die Menschheitsmythen zurück. Immer noch einmal beginnt er beim Paradies, bei Adam, bei Eva und der Schlange, um stets von neuem zu erkennen, dass menschliche Schuld, Scham, Geworfen- und Verworfenheit schon „im Anfang“ durch das Tier besiegelt wurden, mithin auch dem Tier als dem menschenfeindlichen Bösen anzulasten sind. In einem meisterlichen Exkurs zu Paul Valérys versifiziertem Entwurf einer Schlange (Ébauche d‘un serpent, 1915-1921), einer großen paratheologischen Dichtung, die den Satan-als-Schlange dingfest zu machen sucht, führt Derrida genauer aus, wie und zu welchem Ende „das Tier“ wider den Menschen instrumentalisiert worden ist.
Bestimmung des Grenzverlaufs zwischen Tier- und Menschenwelt
Der Bibel entstammen bekanntlich auch die Episoden mit Abel und Kain, mit Abraham und Isaak – zwei weitere „tierliche“ Urszenen, in denen das Tier nun aber in Opferstellung gebracht und als Opfer definitiv sanktioniert wird: Abel überbietet mit seinem Tieropfer im Angesicht Gottes seinen Bruder Kain, der dem Allmächtigen seine frugalen Gaben nicht beliebt machen kann und in Reaktion darauf, aus Eifersucht, das Tieropfer Abels durch dessen Ermordung – durch ein Menschenopfer also – überbietet; und umgekehrt bei Abraham, der das von Gott geforderte Menschenopfer zuletzt durch einen (von selbigem Gott offerierten) Hammel substituiert.
Zahllos sind im übrigen die Mythen, Legenden, Märchen, in denen das Tier mit dem Bösen gleichgesetzt, als menschenfeindlich vorgeführt, der Massakrierung ausgeliefert wird. Derrida befasst sich eingehend mit den Sagen von Prometheus und dem Adler sowie von Bellerophon und dem hybriden Fabelwesen der Chimaira, die als Tier gleich mehrere Tiere (Löwe-Ziege-Schlange) in sich vereint und später, als Chimäre, generell ein Mischwesen darstellen soll. Man kann nur bedauern, dass bei Derrida die interessantesten dieser Mischwesen – Kentauren, Nixen, Flugpferde, Flughunde, auch Engel – nicht aufgerufen werden zur präziseren Bestimmung des Grenzverlaufs zwischen Tier- und Menschenwelt, jene Wesen also, in denen Tierisches und Menschliches organisch ineinander verschränkt sind. Auch der Sonderfall der imaginären Tiere, etwa des Einhorns, findet hier keine Beachtung.
Doch zurück nun zum Tier als dem bald bösartigen, bald harmlosen, oft nützlichen und meist unterlegenen Widerpart des Menschen. Derrida weiß, dass gegen die „unerschütterliche Logik“ dieser Dichothomie, „die prometheisch und adamitisch, griechisch und abrahamitisch (jüdisch-christlich-islamisch) zugleich ist“, schwerlich angegangen werden kann; dass die Richtigstellung der verfehlten Defizitgarantie des Menschen an „das Tier“ nicht mit Begriffen zu beglaubigen ist; dass es dazu – noch vor dem Wort – einen „Griff“ braucht, um das solcherart negativ und privativ bestimmte Tier endlich in seiner Eigenart, statt nur in seiner Abweichung von der Eigenart des Menschen, wahrnehmbar zu machen.
Der erforderliche „Griff“ setzt zunächst, gemäß Derrida, eine strenge Abrechnung mit der überkommenen Tierphilosophie voraus, welche kritisch „umgriffen“ und „verstanden“ werden müsse (französisch homophon: comprendre). Ziemlich genau in der Mitte des Buchs, auf Seite 139, verdeutlicht Derrida auf durchaus ungewöhnliche, ja irritierende, dann aber doch überzeugende, letztlich gar anrührende Weise, wie er die tierphilosophische Begrifflichkeit in den „Griff“ bekommen und ins Positive wenden will; er schreibt an dieser Stelle:
Wenn ich Descartes, Kant, Heidegger, Levinas und Lacan in einem einzigen Umgriff als einen einzigen lebendigen Körper, ja im Grunde ein einziges Corpus delicti, als das bewegliche System ein und derselben diskursiven Organisation mit mehreren Tentakeln nehme beziehungsweise zusammennehme / begreife, habe ich den Eindruck, als würde ich wie beim Catchen, beim Angeln oder auf der Jagd nach einem Griff suchen, der erfahren oder gelehrt genug wäre, um an das Nervenzentrum eines einzigen Tierkörpers zu rühren.
Nur wo die Philosophie, wie hier, mit einem kühnen „Griff“ gleichsam um den Begriff gebracht wird; wo rationale Erkenntnis durch sinnliche Wahrnehmung ergänzt, wenn nicht überboten wird, kann ein schwaches, das heißt ein begriffsstutziges, dabei bildstarkes Denken und kann auch ein gewaltloses Sprechen zum Zug kommen, das seinem Gegenstand jegliche Eigenart belässt, darunter Fehler und Gebrechen, ohne ihn wertend beziehungsweise abwertend darauf festzulegen.
Zu den Prämissen solchen Denkens und Sprechens, das nicht mehr transitives Be-denken und Be-sprechen, sondern permanente Frage- und Infragestellung sein soll, die ihren Gegenstand nicht definitiv begreifen, sich ihm lediglich annähern will, bis er selbst, unter welchem Gesichtspunkt auch immer, sich zu erkennen gibt.
Kurzum: Ich träumte davon, eine unerhörte Grammatik und eine unerhörte Musik zu erfinden, um eine Szene zu machen, die weder menschlich noch göttlich, noch tierlich wäre, um all die Diskurse über das besagte Tier, all die anthropo-theomorphen oder anthropo-theozentrischen Logiken oder Axiomatiken, die Philosophie, die Religion, die Politik, das Recht, die Ethik anzuprangern, um in ihnen, just im menschlichen Sinne des Wortes, animalische Strategien zu erkennen, Strategeme, Listen und Kriegsmaschinen, Verteidigungs- oder Angriffsmanöver, Operationen des Jagens, Beutemachens oder Verführens, ja der Auslöschung in einem unerbittlichen Kampf zwischen vorausgesetzten Arten. Als ob ich, in aller Unschuld, von einem Tier träumte, das dem Tier nichts Böses wollen würde.
Derridas „Griff“ muss, wenn er die konventionelle Begrifflichkeit suspendieren soll, aus der Linearität und Progressivität diskursiver Rede ausbrechen, muss zurück- oder ausgreifen auf eine Rhetorik, zu der eher die Dichtung denn die Wissenschaft das Vorbild abgibt; eine Rhetorik, die lieber mit Assoziationen operiert als mit Argumenten, die lieber Hypothesen als Thesen bildet und die weder Recht haben noch Gesetze begründen will; eine Rhetorik zuletzt, die nicht im Namen des Autors sich ausspricht, sondern im Interesse der Sache, um die es dem Autor vorrangig geht.
Staunenswert bleibt, mit welch diskreter Aufmerksamkeit Derrida dem Tier in seiner sprach- und antwortlosen Lebenswelt zu folgen vermag.
Jacques Derridas Sache ist hier nun eben „das Tier“, sind vorab – in ihrer disparaten Vielfalt – die Tiere, denen er folgt, auf die er hinhört und hinsieht, die er in ihrer phänomenalen Eigenart wahrzunehmen und zur Sprache zu bringen versucht, indem er sie in seiner Sprache sich aussprechen lässt. Wie dieses Verfahren – oder sollte es ein Ereignis sein? – abläuft, vermag er nur vage und ex negativo zu erläutern:
Es würde nicht darum gehen, den Tieren „das Wort zurückzugeben (rendre la parole)“, sondern vielleicht darum, zu einem Denken zu gelangen, das, so chimärisch oder fabulös es auch sein mag, die Abwesenheit des Namens oder des Wortes anders denkt, und anders denn als ein Entbehren / eine Beraubung (privation).
Dieser riskante „Griff“ ist nur als Kunstgriff realisierbar, und stets läuft der Autor dabei Gefahr, sich ins Tier, in die Tiere „versetzen“ zu wollen, sich vorstellen zu wollen, was in deren „Kopf“ vor sich geht, welches ihre Bedürfnisse und Befindlichkeiten sind. Offenkundig ist sich Derrida dieser anthropozentrischen Versuchung bewusst, nicht immer kann er ihr allerdings widerstehen, nicht immer bleibt seine Sympathie für die Tierwelt frei von allzu menschlicher Empathie, durch die er sich dann eben doch zum Vormund (Vor-Mund) der sprachlosen Kreatur macht.
Staunenswert bleibt aber insgesamt, mit welch diskreter Aufmerksamkeit Derrida dem Tier in seiner sprach- und antwortlosen Lebenswelt zu folgen vermag. Von daher würde man sich die Übersetzung des zweideutigen Buchtitels eher andersherum wünschen; denn nicht „das Tier, das ich also bin“, hat für Derrida Priorität, sondern die Tierwerdung des Menschen und die notwendigerweise damit einhergehende „Verdummung“ (devenir-bête), mithin die Nachfolge des Tiers, und demnach wäre der Titel passender eben doch zu fassen als „Das Tier, dem ich also folge“. Nur so weit, wie Derrida dem Tier „folgen“ kann, kann er auch zum Tier werden – ohne freilich jemals Tier geworden zu „sein“.
In Übereinstimmung mit dem Tagungsthema von Cerisy-la-Salle – „Das autobiographische Tier“ – ist Derrida bemüht, seine Tierwerdung autobiographisch zu beglaubigen, sie im Vortrag mitvollziehbar, im Text nachvollziehbar zu machen als eine dekonstruktive „Autobiographogenese“. Dieses Verfahren, nämlich das eigene Leben, genauer: die eigene Biographie am Leitfaden vielfältiger und weitverzweigter Spuren nachzulesen und gleichzeitig zu entwerfen, sie überhaupt erst zu schaffen, bezeichnet Derrida mit Bezug auf sein Projekt reichlich hochgestochen als „Zooautobiobibliographismus“, glaubt in ihm jedoch eine Übereinstimmung mit den stummen Lebensregungen des Tiers zu erkennen, die er zur Rechtfertigung jenes Projekts wie folgt beschreibt:
Was heißt „folgen“ (suivre), zu folgen haben / weiterzuverfolgen / Fortsetzung folgt“ (à suivre), „verfolgen“ (poursuivre), ja „durch Verfolgung bedrängen“ (persécuter)? Was tut man, wenn man folgt (on suit)? Was tue ich, wenn ich folge / bin (suis)? […] Dieses folgerichtig fortgesetzte Vorgehen wird wohl dem eines Tiers ähneln, das [etwas] zu finden sucht oder das zu entkommen sucht. Ähnelt es nicht dem Lauf eines Tiers, das sich mittels Witterung und Gehör orientiert und mehr als einmal den Weg abläuft, um Spuren zu sichern / aufzuheben, sei es um die Spur anderer zu wittern, sei es um die eigene zu verwischen, indem es sie vervielfacht, just wie die eines anderen, auf diese Weise witternd, was an dieser Fährte ihm beweisen könnte, dass die Spur stets von einem anderen ist …
Mit anderen Worten: So wie das Tier, sprachlos, seine Fährten setzt und vernetzt, um damit einen Quasi-„Text“ anzulegen, der als seine Biographie rekonstruiert werden könnte, so legt nun Jacques Derrida seine autobiographische Schrift an, welche seine Tierwerdung – seine Zoogenese – dokumentieren soll, das Werden eines Autors und die Entstehung einer privaten Geisteswelt aus dem Ungeist beziehungsweise der Nichtgeistigkeit des Tiers. Monströses Unterfangen! Denn Naivität wird man Derrida nicht zugestehen wollen, und die Vorstellung, dass er seine „Autobiographogenese“ zu bewerkstelligen vermöchte nach Maßgabe seiner Tierwerdung (oder von deren Ansatz her), ist eher fabulös denn seriös.
Für Derrida ist das rund 200 Druckseiten starke Skript nach eigenem Bekunden nichts anderes als „eine autobiographische Übung“, der er sich „ungeniert hingegeben“ habe, ausgehend von einer Primärszene, die ihn, als er nackt aus dem Bad kam, mit seiner Katze konfrontierte. Die Katze habe ihn stumm angeschaut „von Angesicht zu Angesicht“, und er, der Mensch, der Mann, habe Scham empfunden dabei, habe sich für seine Nacktheit vor dem Tier geschämt und sei sich gleichzeitig seiner unabtragbaren Schuld vor ihm bewusst geworden. Das Tier, das einen „ansieht“ (von regarder), ist im Französischen immer auch das, was einen „angeht“, was einen „betrifft“, „verantwortlich“ macht (ebenfalls regarder).
Die zufällige alltagsweltliche Szene wird für Derrida in der Folge zu einer philosophischen Permanentszene, von ihr geht er aus, auf sie kommt er immer wieder zurück, aus ihr entwickelt er – wie das Tier mit seinem Spurengeflecht – seine autobiographische Erzählung, die ihm einerseits zur philosophischen Parabel gerät, andererseits zu einer wortreichen Fürsprache für das sprachlose Tier, dem er sich, für es sprechend und es befürwortend, äußerst vorsichtig annähert, um gleichzeitig seine eigene Tierwerdung voranzutreiben.
Schon immer, sagt Derrida, sei er unterwegs zum Tier gewesen, sei er insofern ein autobiographisches Tier gewesen, als er sich der Tierwerdung anheimgegeben habe, das Tier in sich freigegeben habe, hoffend, er könne und würde in dessen Nachfolge schließlich zu sich selbst gelangen; und schon immer habe er sich dadurch von „denen“ unterschieden und abgesetzt, „die“ sich dem Tier, dem Tierischen in sich verschlossen hätten; „denen“, die alles daran gesetzt hätten, die Differenzen, die Grenzen zwischen Mensch und Tier herauszuarbeiten, sie zu verfestigen, um die Singularität und die Unantastbarkeit des Humanen aufzuzeigen.
Ich sage „sie“ – „was sie ein Tier nennen“ –, um deutlich zu markieren, dass ich mich insgeheim stets von jener Welt [der akademischen Philosophie] ausgenommen habe, und dass meine ganze Geschichte, die ganze Genealogie meiner Fragen, in Wahrheit alles, was ich bin, denke, schreibe, spurend bahne, ja lösche, mir aus dieser Ausnahme heraus geboren und von diesem Gefühl der Erwählung ermutigt zu sein scheint. Als ob ich der heimliche Erwählte dessen wäre, was sie die Tiere nennen. Von dieser Insel der Ausnahme mit ihrem unendlichen Küstenstreifen her werde ich sprechen, von ihr ausgehend und von ihr.
Schon immer, sagt Derrida, sei er unterwegs zum Tier gewesen.
Von aller Schulphilosophie, von aller philosophischen Systematik, selbst von den terminologischen und diskursiven Konventionen philosophischer Rhetorik macht sich Jacques Derrida, solcherart sprechend, frei. Statt sein Denken logisch und argumentativ zu disziplinieren, lässt er es gleichsam nomadisch sich ausleben, lässt es wuchern, lässt es allseits expandieren und öffnet es damit für immer wieder neue Ein- oder Ausflüsse. Was er zum Tier und für das Tier – auch für das „autobiographische Tier“, das er selber ist – zu sagen hat, ergibt denn auch keine Tierphilosophie, ist schulphilosophisch gesehen eigentlich ein Skandal, bestenfalls ein „Schwachsinn“; es ist vielmehr eine spontane, ganz persönliche, deshalb auch unverwechselbare Art zu philosophieren und philosophisch zu handeln, und dies ohne jeden Anspruch, der Philosophie als Disziplin oder System genügen zu wollen. Vielleicht darf … sollte man in Derrida einen Denker erkennen, der philosophierend die Philosophie austrickst, sie de(kon)struiert.
„Ich philosophiere“ kann bedeuten: Als Mensch bin ich eine Zikade, ich rufe mir in Erinnerung, was ich bin, eine Zikade, die sich daran erinnert, ein Mensch gewesen zu sein: Mich selbst mir selbst wieder in Erinnerung zu bringen, heißt, mich zum Gesang und zur Musik zurückzurufen … Mich lesend, mich zitierend, meine Spuren entziffernd.
Mit diesem und ähnlichen Geständnissen verabschiedet sich Derrida faktisch von der universitären Philosophie; er verabschiedet sich und er verabschiedet sie. Und so, wie er sein Philosophieren von deren Philosophie freimacht, so, wie er Menschsein und Tierwerden versöhnt, so öffnet er auch sein philosophisches Reden zur Belletristik hin, zur Erzählung, zur Dichtung, und er findet dadurch zu einer Essayistik von ganz eigener Art, zu einer Schreibweise, die unentwegt fluktuiert zwischen Erhabenheit und Trivialität, zwischen Behauptung, Mutmaßung und Zitat, zwischen kühner Metaphorik und artistischem Wortspiel, einer Schreibweise auch, die nicht davor zurückschreckt, sogar darauf angelegt ist, die übliche, also erwartete Ordnung des Diskurses zu unterlaufen dadurch, dass sie ganz selbstverständlich auch den Widerspruch, die Wiederholung, die Paraphrase, das Paradoxon und selbst den blanken Nonsense zum Zug kommen lässt.
Buchstaben- und Wortmagie
Derridas begriffsschwaches Denken verbindet sich adäquat mit einer vagen, besser noch: einer vagierenden Rhetorik, die das Ja-ja und das Nein-nein ebenso meidet wie das Weder-noch und das Entweder-oder; die statt dessen dem Sowohl-als-auch, dem Einerseits-andererseits, dem Vielleicht zuneigt und die vorab bestimmt ist durch das Und als grammatisches Scharnier der Gleichstellung. Sein lockeres, da und dort löchriges Textgefüge verdichtet sich zumindest punktuell dort, wo er mit eigenwilligen Wortbildungen und eigensinnigen Etymologien aufwartet, um zu seinem Denken wie auch zu dem von ihm Gedachten eine adäquate Entsprechung zu schaffen. Die Aussage oder auch bloß das Sagen soll sich in der Klang- und Sinngestalt des Worts konkretisieren, soll vergegenwärtigen, wovon – jetzt und hier – die Rede ist.
Rein formale Sprachähnlichkeiten stehen hier für „Wahrheit“ oder „Authentizität“, im Anfang ist bei Derrida immer das Wort, und vorzugsweise vom Wort her – egal in welcher Sprache – entfaltet er seine ausufernden assoziativen Reflexionen. In der vorliegenden Abhandlung geht er, einerseits, pragmatisch von sich selbst aus (d.h. von der Episode mit seiner Katze), andererseits verwendet er das französische Wort für „Tier“, animal oder bête, als Impulsgeber für die komplexen Fragestellungen, die im Wesentlichen seine Denkleistung ausmachen.
Redend, schreibend bewegt sich Jacques Derrida also gewissermaßen „im Wald [seiner] eigenen Zeichen“ und legt auch deren Bedeutung fest. Obwohl er die adamitische Geste der Namensgebung und damit der symbolischen Unterwerfung zurückweist, scheut er sich nicht, gerade „das Tier“, Hauptgegenstand seines Nachdenkens, vom Begriff der Animalität her begreiflich zu machen. Dies tut er auf zweierlei Art.
Was Derrida zum Tier und für das Tier zu sagen hat, ergibt denn auch keine Tierphilosophie, ist schulphilosophisch gesehen eigentlich ein Skandal, bestenfalls ein „Schwachsinn“.
Erstens führt er einen Neologismus ein, der deutlich machen soll, dass „die Tiere“ (animaux) in ihrer naturgegebenen Vielfalt nicht pauschal mit dem Kollektivbegriff „das Tier“ (animal) zu erfassen sind, dass es vielmehr geboten ist, „das Tier“ und „die Tiere“ begrifflich in dem neuen Ausdruck animot zu vereinen, der als Einzahlform in seiner französischen Lautung mit der Mehrzahl animaux identisch ist, mithin „das Tier“ und „die Tiere“ gleichermaßen bezeichnen kann. (Im Deutschen ist dieses Wort- und Lautspiel nicht praktikabel, weshalb der Übersetzer als unschöne Notlösung den Zwitterbegriff „TierWort“ einführt.) Stillschweigend wird dabei die schlichte Tatsache übergangen, dass ja auch „die Menschen“ mit größter Selbstverständlichkeit mit dem singulären Kollektivbegriff „der Mensch“ belegt und somit der Unifizierung unterworfen werden.
Zweitens zerlegt Derrida den Begriff animal nach volksetymologischer Art in seine angeblich bedeutungstragenden Elemente, die er überdies durch homophone Angleichungen mit zusätzlichen – durchwegs zufälligen – Bedeutungen dotiert. So kann er „das Tier“ (animal) mit anima (Seele), mit mâle (Mann, Männchen) oder auch mit mal (Übel) zusammendenken, und den alternativen Begriff bête (für Wildtier, Bestie) koppelt er bedenkenlos mit dem klanggleichen Eigenschaftswort bête („dumm“, zu bêtise). Wie unhaltbar dieses Verfahren ist, erweist sich schon darin, dass es sich einzig im Französischen (wenn auch dort nicht ganz unproblematisch) anwenden lässt; denn entsprechend würde man im Deutschen aus dem Wort Bestie durch anagrammatische Versetzung des Buchstabenbestands die Aussage „stiebe, Bestie, bist die Beste!“ und damit einen gänzlich anderen Sinn gewinnen können.
Auch vor zwischensprachlichen Kalauereien schreckt Derrida nicht zurück – an einer Stelle, wo es um die Chimären geht, führt er das griechische ichthys (Fisch) mit dem hebräischen isch (Mensch, Mann), dem deutschen ich zusammen und nennt als gemeinsamen Knotenpunkt (chiasmus) dieser durchaus chimärenhaften Konstruktion den griechischen Chi-Laut (x)… Weiter kann man die Buchstaben- und Wortmagie wohl nicht treiben, und gewiss sind esoterische Manipulationen dieser Art philosophisch irrelevant, wenn nicht obsolet. Doch Derrida, den man auch schon mal als „Derridada“ abgefertigt hat, führt mit viel Scharfsinn und Intuition vor, dass das formalistische Wortspiel wenn nicht für die Philosophie ergiebig, so doch für den Akt des Philosophierens höchst produktiv sein kann – eine Einsicht, die im Übrigen schon die Vorsokratiker gewonnen haben und die in Platons Kratylos auf scharfsinnige Weise problematisiert wird.
Der Denker als „autobiographisches Tier“
Jacques Derrida ist sich dieser Problematik durchaus bewusst. Wer die Sprache – sozusagen – selbst sprechen lässt, statt sie wie üblich „beherrschen“ und „gebrauchen“ zu wollen, entmächtigt sich als Sprecher. Das „autobiographische Tier“, als das Derrida sich geradezu exhibitionistisch präsentiert und bisweilen in komischer Verrenkung erprobt, kann naturgemäß weder Autorschaft noch Autorität beanspruchen – ein Mangel, der in diesem Fall eher als befreiend denn als einengend erfahren wird. In der Rolle des „autobiographischen Tiers“ tritt der Denker „völlig nackt“, deshalb auch schamhaft und schuldbewusst vor sein Publikum, zieht sich jedoch gleichzeitig hinter den Text seiner Rolle zurück und lehnt für dessen Wortlaut und Aussage „jede Verantwortung“ ab:
Ich antworte nicht mehr, ich übernehme keine Verantwortung mehr für das, was ich sage. Ich antworte, dass ich nicht mehr antworte. […] Demjenigen, der [als autobiographisches Tier] von sich spricht, [muss es erlaubt sein], hinter der künstlichen Autorität einer [Text-]Gattung, hinter dem Recht einer Gattung, deren Zugehörigkeit zur Literatur bekanntlich problematisch bleibt, Zuflucht zu suchen, um jede Verantwortung und jede Beweislast abzulehnen. […] Von jeder Beweislast entlastet, autorisiert die reine Autobiographie die Wahrhaftigkeit oder die Lüge, aber immer gemäß einer Szene der Zeugenschaft, das heißt eines „Ich sage Ihnen die Wahrheit“, ohne Scheu, nackt und schonungslos.
Nicht immer gelingt es Derrida, seine auktoriale Selbstentmächtigung von Eitelkeiten und Affektiertheiten freizuhalten. Auch als „autobiographisches Tier“ vermag er seinen großen Namen nicht abzulegen, kann er sich zur Anonymität, die bei seinem Tierwerdungsversuch eigentlich doch angezeigt wäre, nicht entschließen. Dort hingegen, wo er die Selbstentmächtigung als Selbstentäußerung praktiziert, wo er sich der Augenhöhe seiner Katze anzunähern und deren Wahrnehmungsperspektive einzunehmen versucht, findet er zu einer ungemein subtilen Redeweise, für die er tatsächlich keine Verantwortung mehr zu übernehmen braucht. Denn dann scheint alles für sich selbst zu sprechen.