Die Zivilgesellschaft hat, was ihr Verhältnis zum Frieden anbetrifft sowie ihre Bereitschaft und Fähigkeit zur Verhinderung von Kriegen, einen sehr guten Ruf, einen viel zu guten Ruf – vermute ich. Zwei Gründe dürften dafür ausschlaggebend sein: Zunächst ein Verständnis des Zivilen als Gegensatz des Militärischen und sodann die assoziative Verbindung mit Immanuel Kants Schrift Zum ewigen Frieden, wo es nach landläufigem Verständnis die bürgerliche Gesellschaft ist, die den politisch-militärischen Eliten in den Arm fallen wird, wenn diese wieder einmal darauf aus sind, einen Krieg anzufangen. Die Republikanisierung der politischen Ordnung im Sinne Kants – wir würden heute von Demokratisierung sprechen – soll danach zum allmählichen Verschwinden des Krieges aus dem Arsenal der Politik führen. Dieser Gedanke hat in den Formeln des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson beim Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg programmatische Konturen angenommen: „a war to end all wars“ und „to make the world safe for democracy“. Im Gefolge von Kants Friedensschrift steht die in der Politikwissenschaft zeitweilig sehr prominente Theorie des demokratischen Friedens, der zufolge Demokratien keine Kriege gegeneinander führen, weswegen die Demokratisierung der Staaten auf die Durchsetzung des Friedens im globalen Maßstab hinauslaufen würde. Das sind, soweit ich sehe, die beiden Hauptgründe, warum die Zivilgesellschaft zumeist als erster Kandidat genannt wird, wenn man nach Akteuren Ausschau hält, die den als säbelrasselnd beschriebenen politisch-militärischen Eliten in den Arm fallen könnten. Aber stimmt das wirklich?
Zunächst einmal steht „zivil“ im Begriff Zivilgesellschaft in keinem strikten Gegensatz zum Militärischen oder gar Bellizistischen, sondern es handelt sich um den über das englische civil society ins Deutsche zurückgekehrten Begriff der Bürgergesellschaft, und dass diese grundsätzlich auf Frieden gepolt ist, lässt sich seit der Französischen Revolution, den napoleonischen Kriegen und dem bewaffneten Widerstand gegen Napoleon nicht sagen: Die antinapoleonische Kleinkriegführung in Spanien – guerilla – wurde wesentlich von der Zivilgesellschaft getragen, der „Vaterländische Krieg“ von 1812 in Russland war dadurch gekennzeichnet, dass nicht nur die Armee gegen Napoleon kämpfte, sondern auch die Bauern und die Städter Widerstand leisteten, und in den Befreiungskrieg von 1813 strömten die jungen Männer freiwillig zu den Fahnen. – Daran mag vieles nachträgliche Mythisierung sein, aber es ist unbestreitbar, dass im Gefolge der Französischen Revolution die vom absolutistischen Militärstaat strikt gezogene Trennlinie zwischen der Armee des Herrschers und der bürgerlichen Gesellschaft aufgehoben wurde. Die bürgerliche Gesellschaft wurde von einem Geist des Patriotismus ergriffen, der dafür sorgte, dass die Gesellschaft nicht länger bloß durch Steuerzahlung die Kriegskasse des Souveräns füllte, während der Krieg von der Berufsarmee geführt wurde, sondern die bürgerliche Gesellschaft mischte sich nunmehr selbst in die Frage von Krieg und Frieden ein – und das zumeist in bellizistischer Absicht. Im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert macht sich die Zivilgesellschaft politisch dadurch bemerkbar, dass sie die politische Freund-Feind-Unterscheidung an sich zog und gegen den Feind mobil machte.
Postheroische Gesellschaften sparen das Blut ihrer Bürger und setzen auf überlegene Militärtechnologie.
Was im Gefolge der Französischen Revolution in Europa entstand, war eine heroische, zumindest eine heroisierbare Gesellschaft, was heißt, dass die Idee eines heldenhaften Einstehens für die politische Sache nicht länger eine Spezialangelegenheit der Militärkaste war, sondern dass dazu die gesamte männliche Bevölkerung aufgerufen war. Die allgemeine Wehrpflicht war der Ausdruck dessen, und mit ihr verbreitete sich ein bestimmtes Ideal von Männlichkeit, nach dessen Vorgaben von nun an die jungen Männer erzogen wurden. Man hat dies als Militarisierung der Gesellschaft bezeichnet; ich würde eher davon sprechen, dass die Zivilgesellschaft von heroischen, mitunter bellizistischen Ideen durchzogen wurde und dass mit dieser Selbstheroisierung der Gesellschaft Anspruch auf die politische Partizipation der Bürger geltend gemacht wurde. Nicht nur das räsonnierende Publikum erhob Anspruch auf politisches Gehör, sondern auch die jungen Männer machten politische Partizipationsansprüche geltend, indem sie sich zu Vaterlandsverteidigern erklärten, ohne deswegen Berufssoldaten werden zu wollen.
Es waren diese heroischen bzw. heroisierten Gesellschaften Europas, die im Sommer 1914 in den Krieg zogen – und vier Jahre später desillusioniert aus ihm herauskamen. Für die Zeit danach möchte ich von den postheroischen Gesellschaften Europas sprechen, ausdrücklich von Gesellschaften, denn heroische Gemeinschaften gab es nach wie vor, und nicht zuletzt sie haben dann den Zweiten Weltkrieg geführt. Lassen Sie mich das kurz erläutern: Die Franzosen, die von 1914 bis 1918 heroisch gekämpft und die relativ höchsten Verluste der am Krieg beteiligten Großmächte erlitten hatten, kapitulierten 1940 nach wenigen Wochen und zu einem Zeitpunkt, als das Gros ihrer Armee noch gar nicht ins Gefecht gekommen war. Das Ideal des Heroischen griff bei ihnen nicht mehr, jedenfalls nicht in der Breite der Gesellschaft, und auch später wurde es in der Résistance nur bei einigen Wenigen wirksam. Auch die Briten, die sich 1940 sehr schnell vom Kontinent zurückgezogen hatten, agierten im weiteren Verlauf des Krieges sehr viel vorsichtiger als von 1914 bis 1918. Marine und Luftwaffe, also eine relativ kleine Anzahl von Soldaten, trug lange Zeit die Hauptlast des Krieges, was Churchill in die Formel fasste, nie hätten so viele so wenigen so viel zu verdanken gehabt. Postheroische Gesellschaften sparen das Blut ihrer Bürger und setzen auf überlegene Militärtechnologie. Ausdruck dessen sind die seegestützte Handelsblockade und der strategische Bombenkrieg. Heute stehen Kampfdrohnen in der Nachfolge dessen. Aber die heroischen Gemeinschaften, die der italienische Faschismus, der Nationalsozialismus in Deutschland, das kaiserliche Japan und der Bolschewismus in der UdSSR hervorgebracht haben, sind politisch keineswegs sympathischer – im Gegenteil. Alle vier misstrauten den gesellschaftlichen Potenzialen zur heroischen Selbstmobilisierung und setzten stattdessen auf ideologische Programme, die der Formung heroischer Gemeinschaften dienen sollten. Diese totalitären Regime kompensierten materielle Defizite und technologische Unterlegenheit durch eine gesteigerte Abrufung des Heroischen. Das war den zumeist demokratisch verfassten postheroischen Gesellschaften verwehrt.
Nationale Hochstimmung
Wenn wir das ins Auge fassen, dann ist auch klar, dass der große Unterschied zwischen 1914 und 2014 nicht unbedingt in der Interventionskompetenz der Zivilgesellschaften als solche liegt, sondern in der Frage, ob diese Gesellschaften dezidiert unheroisch sind oder aber Heroisierungspotenziale aufweisen, die von der offiziellen Politik in Schwingung versetzt werden können. Die Diagnose des ersten Blicks lautet: Die Gesellschaften West- und Mitteleuropas sind zutiefst postheroisch, weswegen sie politischen Druck nicht durch die Drohung mit militärischer Macht aufbauen, sondern dazu auf wirtschaftliche und finanzielle Sanktionen setzen. Die Gesellschaften Ostmitteleuropas hingegen lassen sich über nationale Ressentiments in eine Stimmung versetzen, in der Opferbereitschaft abrufbar ist. In Russland ist das die erkennbare Bereitschaft, die nationale Hochstimmung nach der „Rückgewinnung“ der Krim notfalls auch mit Einschränkungen des materiellen Lebensstandards zu begleichen, die im Gefolge westlicher Wirtschaftssanktionen eintreten werden; in der Ukraine ist es die von Aktivisten geäußerte Vorstellung, die Unversehrtheit des Staates und der Nation mit Leib und Leben verteidigen zu wollen.
Totalitäre Regime kompensierten materielle Defizite und technologische Unterlegenheit durch eine gesteigerte Abrufung des Heroischen.
Bevor ich diese Befunde im Lichte von Kants Friedensschrift genauer beleuchten will, sollten wir zunächst einen genaueren Blick auf die dezidiert pazifistischen Strömungen innerhalb der Zivilgesellschaften werfen, wobei festzuhalten ist, dass pazifistisch und postheroisch keineswegs dasselbe ist. Postheroische Gesellschaften sind auf Distanz zu Opfererwartungen bzw. lassen sich umso eher darauf ein, je weniger sie Leib und Leben betreffen und sich auf materielle Güter beschränken; pazifistische Akteure dagegen lehnen den Gebrauch militärischer Gewalt prinzipiell ab, und das auch als Mittel der Friedenssicherung bzw. Friedenserzwingung. Während postheroische Gesellschaften der militärischen Gewalt in mürrischer Indifferenz gegenüberstehen, wird sie von pazifistischen Gruppen dezidiert zurückgewiesen. Bertha von Suttner, die berühmteste Pazifistin des 19. und 20. Jahrhunderts, hat vor 1914 energisch vor einer Militarisierung des Luftraums gewarnt, der zu dieser Zeit gerade erst flugtechnisch erschlossen wurde. Sie hatte eine klare Vorstellung davon, dass die Ausweitung des Kriegsgeschehens vom Boden auf den Luftraum zur Entgrenzung des Krieges führen musste; das eigentliche Kriegsgeschehen wäre dann nicht mehr auf bestimmte „Kriegsschauplätze“ begrenzbar. Die Militarisierung des Luftraums würde die Gewalt im Kriegsfall omnipräsent machen, und genau so ist es nach 1914 gekommen. Der Haltung Bertha von Suttners steht entgegen, dass gerade postheroische Gesellschaften den Luftraum (inzwischen auch den Weltraum) bevorzugt für die Führung von Kriegen nutzen, weil sie hier über die größten Möglichkeiten verfügen, ihre durch erhöhten Kapitalaufwand hergestellte waffentechnische Überlegenheit zur Geltung zu bringen. Postheroische Gesellschaften sind durchaus bereit Kriege zu führen, wenn sie das in einer Weise tun können, dass der Einsatz von Menschenleben begrenzt bleibt. Sie weisen militärischer Macht einen sehr viel geringeren Stellenwert zu als heroische Gesellschaften, aber sie wollen diese nicht grundsätzlich aus dem Spiel nehmen, wie dies bei Pazifisten der Fall ist.
Diese Beobachtung ist nicht ohne Bedeutung für die Friedensbemühungen zivilgesellschaftlicher Akteure heute, vor allem dann, wenn es bei den Friedensbemühungen nicht um die Interessen des eigenen Landes geht, sondern um die Interessen der Menschen in Kriegsgebieten, zumal in Gebieten, wo Bürgerkrieg herrscht und man den Eindruck hat, dass die diffuse, auch gegen Zivilpersonen ausgeübte Gewalt nur durch eine Militärintervention von außen beendet werden könne. Diese Intervention unterbleibt, wenn dabei mit größeren Opfern zu rechnen ist, und umgekehrt wächst ihre Wahrscheinlichkeit in dem Maße, wie sie mit Hilfe der Luftwaffe oder der Marine erfolgversprechend durchgeführt werden kann und man sich nicht auf den vergleichsweise riskanten Einsatz von Bodentruppen einlassen muss. Die Interventionen der Nato in die jugoslawischen Zerfallskriege und die der Franzosen und Briten in Libyen sind Beispiele dafür. Diese Beispiele sind auch darum interessant, weil in beiden Fällen die offizielle Politik lange gezögert hat, mit militärischen Mitteln in den Gewaltkonflikt einzugreifen und es Akteure aus der Zivilgesellschaft waren, Nichtregierungsorganisationen oder Intellektuelle mit dem Anspruch, das Gewissen einer Gesellschaft zu sein, die unter Nutzung der Medien einen Militäreinsatz forderten und diesen als Friedensbemühung darstellten.
Die Stimmung von Opferbereitschaft, Opfermut und Siegeszuversicht blieb weithin auf die großen Städte beschränkt.
Werfen wir zunächst aber einen genaueren Blick auf Immanuel Kants Friedensschrift, um zu klären, wie es sich mit Demokratie und Frieden verhält, und welche Rolle dabei der Zivilgesellschaft zukommt. Zunächst nämlich müssen wir konstatieren, dass Demokratien zwar gegeneinander so gut wie keine Kriege geführt haben (was auch daran liegen kann, dass sie nach 1945 in einem Bündnissystem zusammengeschlossen waren bzw. die Angehörigen dieses Bündnisses die Neigung zu einem exklusiven Demokratiebegriff haben), dass diese Demokratien aber relativ viele Kriege führen gegen Akteure oder Systeme, die sie als undemokratisch klassifizieren. Das passt eigentlich nicht mit Kants Vorstellung zusammen, dass, wenn diejenigen über Kriege entscheiden, die hinterher auch deren Lasten und Folgekosten zu tragen haben, sie sich „gar wohl besinnen werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen“. Für Kant ging es um das Verschwinden des Krieges überhaupt und keineswegs nur darum, dass republikanisch verfasste politische Systeme gegeneinander keine Kriege führen. Aber inwieweit hatte Kant überhaupt die Zivilgesellschaft im Auge, wenn er auf die friedensfördernden Effekte einer breiten politischen Partizipation setzte? Und waren seine Überlegungen nicht eigentlich zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung bereits widerlegt, weil die französische Republik, die sich zunächst gegen die Interventionsarmeen der europäischen Monarchien verteidigt hatte, nun zunehmend zur Führung von Angriffskriegen überging, und das auch dann, wenn sie nicht durch Gruppen in anderen Ländern um eine solche Intervention gebeten wurde? Die Armeen der Revolution befreiten schon bald auch ungefragt und ungebeten, und die französische Bevölkerung akzeptierte das, weil die Kosten dieser Kriege wesentlich von den vorgeblich Befreiten getragen werden mussten. Hat sich Kant also geirrt?
In Kants Argumentationsgang wird zumeist jene Passage übersehen, wonach es der Handelsgeist sei, der mit dem Geist des Krieges nicht zusammen bestehen könne. Kant spielt also diejenigen, die mit Steuern und Sonderabgaben den Krieg bezahlen müssen, gegen jene aus, für die er, wie Kant sagt, ein Spiel um die Akkumulation von Ruhm und Ehre ist. Letztere sind diejenigen, die mit kalkuliertem Risiko in den Krieg gehen: Sie können darin den Tod finden, aber sie setzen natürlich auf das Prestige, das sie zu erwerben trachten und das ihnen eine gesellschaftlich herausgehobene Stellung verschaffen soll. Sie sind Spieler, die auf Gewinn setzen. Die Kalkulation der Produzenten und Händler dagegen sieht anders aus, denn sie haben in jedem Fall die Kosten für das Spiel der anderen zu tragen. Für sie, so Kants Annahme, gibt es nichts zu gewinnen. Es ist bei Kant also nicht die Zivil-, sondern die Marktgesellschaft, die sich dem Spiel mit dem Krieg entgegenstellt. Das ist wichtig, denn die Imperative des Marktes sind andere als die einer politisierenden Bürgerschaft. Die Motive der Citoyens können emotional oder moralisch sein, in ihnen können nationale Identifikationen und Ressentiments eine Rolle spielen, vielleicht auch machtpolitische Erwägungen, während die der Gewerbetreibenden, der Bourgeois, sich auf Einnahmen und Ausgaben beziehen. Aus deren Bilanz speist sich Kants Vertrauen in den bürgerlichen Widerstand gegen eine aristokratische Kriegspolitik. Die citoyens, die er im Auge hat, sind politisierte Bourgeois.
Die Gesellschaften Ostmitteleuropas lassen sich über nationale Ressentiments in eine Stimmung versetzen, in der Opferbereitschaft abrufbar ist.
Als Kant seinen Text schrieb, hatte er keine angemessene Vorstellung von den Heroisierungspotenzialen der bürgerlichen Gesellschaft. Er setzte darauf, dass sich das Wirtschaftsbürgertum als dominante Größe der Bürgerschaft erweisen würde. Wenige Jahre später, mit Beginn der antinapoleonischen Befreiungskriege, hätte er beobachten können, dass dem keineswegs so war und dass die Akteure der Zivilgesellschaft ihr Verhalten keineswegs an den Imperativen des Marktes und der wirtschaftlichen Bilanz ausrichteten. Man könnte auch sagen, dass der republikanische über den liberalen Strang bürgerschaftlichen Denkens die Oberhand gewonnen hatte. Schematisch formuliert, lassen sich beide so gegeneinander konturieren: Während der Liberalismus die politischen Partizipationsrechte der Bürger von der Verfügung über Eigentum, also wirtschaftlicher Selbstständigkeit, abhängig machte – eine Vorstellung, die Kant sich in seiner Metaphysik der Sitten im Wesentlichen zu eigen gemacht hat –, hebt der Republikanismus auf die Bereitschaft ab, mit Leib und Leben für das politische Projekt der Unabhängigkeit von äußeren Mächten und der Selbstregierung des Gemeinwesens einzutreten.
Liberal versus republikanisch
Man kann die politische Ideengeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts als eine verschlungene Kontroverse zwischen der liberalen und der republikanischen Vorstellung von Bürgerschaft lesen, und bei der Friedensschrift, um auf sie zurückzukommen, ist Kant im weiteren Gang der Geschichte der Republikanismus „dazwischengekommen“: Er ging davon aus, dass die Bürgerschaft als Aggregation der Eigentümer, die durch Steuern und Kontributionen die Kosten von Kriegen wie auch der Rüstung zum Krieg zu tragen hatten, politisch auf den Frieden setzen und eine internationale Friedensordnung durchsetzen würde. Aber im Verlauf der Revolutionskriege machte sich zunehmend eine republikanische Sicht der Bürgerschaft geltend, und die Gruppe derer, die kein Eigentum hatten, aber bereit waren, für die politischen Errungenschaften der Revolution zu kämpfen, setzte sich gegen die engere liberale Bürgerschaftskonzeption durch. Wenn es um politische Partizipationsrechte ging, präferierte das Kleinbürgertum mit Grund die republikanische und nicht die liberale Variante der Bürgerschaftsvorstellung.
Entgegen der verbreiteten kapitalismuskritischen Sicht, derzufolge die großen Wirtschaftsakteure für den Krieg und gegen den Frieden seien, weil sie vom Krieg mehr profitieren würden als vom Frieden, legt die Gegenüberstellung eines auf die Marktgesellschaft bezogenen liberalen Strangs bürgerschaftliches Denken mit einem auf die Zivilgesellschaft bezogenen republikanischen Strang nahe, dass politische Interventionen zugunsten eines friedlichen Ausgleichs konträrer Interessen eher aus der Marktgesellschaft als aus der Zivilgesellschaft zu erwarten sind, jedenfalls dann, wenn wir es mit rational agierenden Nutzenmaximierern auf der einen und heroischen Gesellschaften auf der andren Seite zu tun haben.
Die Gruppe derer, die kein Eigentum hatten, aber bereit waren, für die politischen Errungenschaften der Revolution zu kämpfen, setzte sich gegen die engere liberale Bürgerschaftskonzeption durch.
Die Vorgänge im späten Juli/frühen August 1914 in fast allen europäischen Hauptstädten bestätigen dies: Eine Tausende, wenn nicht Zehntausende zählende Menge junger Männer (und auch Frauen) zog durch die Straßen und bejubelte zunächst die Mobilmachung und dann die Kriegserklärung, und selbst die politischen Organisationen, die wenige Tage zuvor noch entschieden gegen den Krieg gewesen waren und Friedensdemonstrationen organisiert hatten, wie die sozialistischen Parteien, vollzogen nun einen politischen Schwenk und erklärten ihre Bereitschaft zur Verteidigung des Vaterlands. Das war so in Berlin, Hamburg und München, aber auch in St. Petersburg und Wien, in Paris und London. Es waren nicht die materiellen Interessen, für die diese Menschen demonstrierten, sondern sie bekundeten öffentlich ihre Opferbereitschaft für das Vaterland, für dessen Verteidigung, für dessen Prestige, nicht selten auch für dessen Vergrößerung. Im Sommer 1914 gab es aus der Zivilgesellschaft keine Friedensbemühungen, sondern es wurde die Kriegspolitik der Regierung unterstützt, und nicht selten wurde die Regierung gar gedrängt, einen schärferen Kriegskurs zu steuern. Kann man das erklären? Oder genauer: Kann man erklären, warum die kriegsbereiten Gruppen der Zivilgesellschaft die Oberhand bekamen und das Sagen hatten, und nicht die Gruppe derer, die dem Kriegskurs skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden?
Wenig Kriegsbegeisterung im Dorf
Deutsche Historiker haben in den letzten Jahren in einer Fülle von Einzeluntersuchungen gezeigt, dass die Kriegsbegeisterung Anfang August in Deutschland gar nicht so groß und keineswegs so flächendeckend war, wie dies in der Erzählung vom „Augusterlebnis“ nahegelegt wird. Im Gegenteil: In den Mittelstädten, vor allem aber in den Kleinstädten und insbesondere in den Dörfern, nahm man die Ereignisse als ein mit Gewalt daherkommendes Schicksal hin: Voll Bangen wartete man auf neue Nachrichten aus der Hauptstadt; von patriotischer Begeisterung und nationaler Hochstimmung war hier wenig zu spüren. Die Menschen fühlten sich als Opfer eines übermächtigen Geschehens, also als Opfer im passiven Sinn, im Sinne eines hilflosen Ausgeliefertseins. Die Stimmung von Opferbereitschaft, Opfermut und Siegeszuversicht blieb weithin auf die großen Städte beschränkt, und auch hier waren es die jungen Männer der Mittelschicht, die singend durch die Straßen zogen oder lauthals jubelten, als die Mobilmachung verkündet wurde. Das war nicht nur in Deutschland so, sondern auch in Russland, in Frankreich, in Österreich-Ungarn usw.: Auf dem Land herrschte eine eher viktime Grundstimmung vor, während der Gestus des Sakrifiziellen zunahm, je näher man an die Entscheidungszentren der staatlichen Macht kam. Im August 1914 war die Zivilgesellschaft kein geschlossener Block, sondern zerfiel in die Gruppe derer, die sich als victima der großen Politik empfanden, und die jener, die durch die öffentliche Bekundung des Sakrifiziellen den Kriegskurs der Regierungen unterstützten. Dezidierte Friedensbekundungen, wie sie von Seiten der politischen Linken bis in den späten Juli hinein noch organisiert worden waren, gab es jetzt nicht mehr. Die Dynamik der politischen Konfrontation hatte dazu geführt, dass die Menschen nur noch eine Alternative hatten: sich viktim zu fühlen oder aber sich als sakrifiziell zu definieren. Ersteres war ein eher privates Empfinden, letzteres hingegen war öffentlich darstellbar. Ersteres lief auf Passivität hinaus, letzteres suggerierte zumindest, dass man am Geschehen aktiv beteiligt war. Das dürfte auch der Grund dafür sein, warum nach wenigen Wochen auch diejenigen, die sich bei Kriegsbeginn als hilflose Opfer erfahren hatten, von dem „Augusterlebnis“ sprachen, als hätten sie daran partizipiert.
Die postheroische Gesellschaft legt Wert darauf, dass die Helden systematisch entheroisiert werden, um die Akkumulation von Heldencharisma zu verhindern.
Es ist ein Merkmal heroischer Gesellschaften, dass in ihnen, wenn die Menschen in die Opferrolle eintreten müssen, die Vorstellung des Sakrifiziellen über die des Viktimen dominiert. Das ist in postheroischen Gesellschaften anders, in denen, zumal wenn es einigermaßen wohlhabende Gesellschaften sind, die Position des Viktimen mit einer solchen Fülle von Entschädigungsansprüchen und Ausgleichszahlungen ausgestattet ist, dass sie an materieller Attraktivität gegenüber den Aktivitätssuggestionen des Sakrifiziellen gewinnt. Man mag sich selbst vielleicht anfangs in der Rolle des sacrificium gesehen haben, aber die Versorgungs- und Versicherungsmechanismen der Gesellschaft nötigen geradezu in die Rolle des victima hinein, der einen Schaden bzw. eine Beschädigung geltend macht, um dafür entschädigt zu werden. Die postheroische Gesellschaft legt Wert darauf, dass die Helden systematisch entheroisiert werden, um die Akkumulation von Heldencharisma zu verhindern, das im Widerspruch zu ihren Grundüberzeugungen steht. Die postheroische Gesellschaft begreift den Frieden nicht nur als Normalzustand, sondern auch als Norm und den Krieg dementsprechend als einen Unglücksfall, der, wenn er schon nicht vermeidbar ist, so gut wie möglich materiell entschädigt werden muss. Auf diese Weise hält sie die Heroisierungsimaginationen der jungen Männer in Grenzen bzw. stellt sicher, dass diese nicht auf das politische Geschehen einwirken, wie das 1914 der Fall gewesen ist. Darin unterscheidet sich die Grundgestimmtheit der Zivilgesellschaft heute grundsätzlich von der vor einhundert Jahren.
Man kann diese analytische Beschreibung auch etwas anders akzentuieren, um sie auf die augenblickliche Konfliktkonstellation in Osteuropa und die Reaktion der Gesellschaften Westeuropas anzuwenden. Osteuropa, würde das heißen, ist nicht wohlhabend genug, um den jungen Männern ihre Heroisierungspotenziale und Heldenimaginationen abzukaufen und sie auf diese Weise zu pazifizieren, und deswegen können sich hier Vorstellungen von kollektiver Ehre relativ ungehindert ausbreiten. Politiker können Reputationsgewinne erzielen, wenn sie diese Vorstellungen bedienen. Das macht die augenblickliche Lage so gefährlich und unkontrollierbar. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die politischen Hauptakteure nach rationalen Kriterien agieren, wird hier doch mit Dynamiken hantiert, die sich irgendwann nicht mehr kontrollieren lassen. Dass Friedensbemühungen aus den Zivilgesellschaften, in denen solche Dynamiken freigesetzt werden, stark genug sein können, um sie zu blockieren, möchte ich bezweifeln. Es fehlen schlichtweg die Ressourcen, um den verführerischen Reiz des Sakrifiziellen durch den Verweis aufs Viktime und die ihm verbundene Melancholie der Vergeblichkeit zu konterkarieren. Man muss dem Sakrifiziellen seinen Lauf lassen, weil man sich die materiellen Kosten einer Grundstimmung des Viktimen nicht leisten kann.
Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die politischen Hauptakteure nach rationalen Kriterien agieren, wird hier doch mit Dynamiken hantiert, die sich irgendwann nicht mehr kontrollieren lassen.
Das ist in den postheroischen Gesellschaften des Westens genau umgekehrt, wo man sich den Gedanken des Sakrifiziellen nicht leisten kann, weswegen sich jedes Spiel mit einer militärischen Gegendrohung verbietet. Unter den Machtsorten, die der Politik hier zur Verfügung stehen, ist die militärische Macht weit zurückgetreten, und die wirtschaftliche Macht steht dominant im Vordergrund. Man sichert denen, die dem Westen nahestehen oder eine von ihm präferierte Politik verfolgen, Gratifikationen zu und droht jenen mit Sanktionen, die das nicht tun. Angesichts der präsentischen Gewalt des Militärischen und der mit ihm kurzfristig zu erzielenden Ergebnisse wirkt das nicht selten schwächlich und unentschlossen. Aber es sind dies die Druckmittel postheroischer Gesellschaften, wenn gewaltsames Agieren infolge fehlender technischer Überlegenheit nicht ohne erhebliche Verluste und Schäden bleiben wird. Der Eindruck der westlichen Unentschlossenheit und Schwäche wird noch dadurch verstärkt, dass die Marktakteure auf die materiellen Kosten wirtschaftlicher Sanktionen schauen und diese in engen Grenzen halten wollen. Die republikanische Idee des Friedens unterscheidet sich einmal mehr von der liberalen des Marktes, und beide nehmen auf ihre Weise Einfluss auf die offizielle Politik. Wie die Politik des Westens gegenüber Russland mittel- und langfristig aussehen wird, hängt also davon ab, welche Friedensvorstellung sich hierzulande durchsetzt. Eine Friedensvorstellung freilich wird es in jedem Fall sein.