Das Buch Der Schatten des Fotografen beobachtet Gestalten, die in hellen und finsteren Situationen durch das Spektrum der Medien und Kulturwissenschaften wandern. Es ist ein flackerndes Buch, weil ständig die Beleuchtungsanlagen verschiedener Theorien, die die Figuren bescheinen, an- und ausgeknipst werden.
So erscheinen im ersten Kapitel die nackte Marina Abramović und ihr Partner Ulay 1977 im Türrahmen des städtischen Museums in Bologna. Der Abstand zwischen beiden beträgt ca. 25 Zentimeter. Diese Passage muss gemeistert werden. Die Performance ist nicht unbekannt, man kann sich Ausschnitte daraus bei YouTube ansehen. Ich beleuchte die Szene mit Kategorien der Soziologie der Scham.
Im letzten Kapitel beschreibe ich die Ausstellung Der nackte Mann im Lentos Kunstmuseum in Linz im Jahre 2012. Die Kuratorinnen haben zur Begrüßung das großformatige Bild Der Bodybuilder von Zelko Wiener ins Treppenhaus gehängt. Das Genital fehlt. Es erscheint, schwarz-weiß auf einem Fernsehschirm.
Man kann sich nach dieser Skizze des Anfangs- und Schlusskapitels des Eindrucks nicht erwehren, dass das Buch um die Attraktionen des „Netzhautsexes“ kreist.
Ansonsten bilden die Gegenstände des Buchs keinen Grund zur Heiterkeit. Man sieht im Kapitel Robert Capas Landung im Labor das berühmte Invasionsfoto, auf dem der Sozialarbeiter Edward aus Atlanta im aufgepeitschten Salzwasser vor der Küste der Normandie ums Überleben kämpft.
Ein anderes Kapitel dreht sich um den Schrei eines verlassenen Kindes in Rosselinis neorealistischem Film Paisá im Licht von Siegfried Kracauers Filmtheorie.
Danach lenke ich die Aufmerksamkeit auf die Farbdias von Kleiderbündeln auf weißem Sand, die ein Propagandafotograf der deutschen Wehrmacht in einer Schlucht in der Nähe von Kiew nach der Mordnacht machte. Dann ein Schnitt, den ich als makaber empfinde: Im 10. Kapitel die Beschreibung einer Ausstellung über sowjetische Unterwäsche, die 2003 im Wiener Volkskundemuseum zu sehen war.
Auffällig an diesem Buch: Der abrupte Wechsel der Beschreibung von hellen Fotooberflächen zu dunklen Schriftarchiven. Dieser Wechsel gibt dem Cover des Buchs eine Dramatik, die dem Augenschein verborgen bleiben muss.
Eine Flusslandschaft an einem sonnigen Tag. Eine Frau mit hellem Kopftuch und gerafftem Rock watet dem nahen Ufer zu. Die Bewegung der Watenden hat einen leichten Wellengang hervorgerufen. Fast grelles, seitlich einfallendes Sonnenlicht wirft einen scharfen Schlagschatten. Eine idyllische Situation, ein Malersujet. Nach Art der Kunsthistoriker können wir die Diagonalen der Bewegungsrichtung der Frau und ihres Schattens beschreiben. Auch als Unterlage für Meditationsübungen taugt das Bild. Ein junger Philosoph betrachtete es und erzählte mir von der antiken Erzählung des Hyginus, der im zweiten Jahrhundert nach Christus in seinen Fabulae griechische Mythen für die Römer ins Lateinische übersetzte. Darunter einen mit dem Titel: Die Sorge geht über den Fluss. Heidegger habe in Sein und Zeit daran erinnert und Hans Blumenberg habe sie wieder aufgegriffen. Die Sorge geht über den Fluss, um auf ein Stück tonhaltigen Lehms zu stoßen, aus dem sich Leben formen lässt. Sie könnte doch, wirft Blumenberg ein, um auf Lehm zu stoßen, genauso gut am Fluss entlanggehen. Aber die Heldin tut es nicht. Warum steigt sie ins Wasser? Weil sie ihr Spiegelbild im Wasser sehen will.
Die Betrachtung der Flusslandschaft kann also in gelehrte Assoziationen münden. Kommt sie darin zur Ruhe?
Abzüge des Flussfotos fanden sich in verschiedenen Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, die von der Kunsthistorikerin Petra Bopp gefunden wurden. Das idyllische Motiv, berichtet sie, sei derart aus der Serie der üblichen Landserfotos an der Ostfront herausgefallen, dass es ihr unheimlich geworden sei. Bis sie das Foto aus einem Einsteckalbum herausnehmen konnte und – welch geniale Geste der Forscherin – die Rückseite inspizierte. Dort wird das Geheimnis gelüftet. „Die Minenprobe. Vom Donez zum Don 1942“. Die knipsenden Landser standen auf der Brücke und warteten. Suspense pur, wahrscheinlich. Die Frau war als Minensuchgerät ausgewählt. Der Kommandeur des Armeegebiets hatte, wie die Forscherin entdeckte, angeordnet „Juden oder gefangene Bandenangehörige“ als lebende Detektoren vorangehen zu lassen.
Keiner der im Foto aufgefangenen Lichtstrahlen übermittelt die Todesbotschaft. Der Schrecken kommt aus dem rückwärtigen Schriftraum. Ist er einmal an die Fotooberfläche getreten, sind wir unfähig, das Foto noch einmal unschuldig anzuschauen.
Medien sind vom Verdacht umgeben, sie würden Dinge verbergen. Ein Großteil der Medienwissenschaften lebt von diesem Verdacht.
Dennoch gilt Roland Barthes Satz: Von einem realen Objekt, das einmal vom Objektiv einer Kamera eingefangen wurde, sind Strahlen ausgegangen, die mich erreichen, der ich hier bin. „Die Fotografie des verschwundenen Wesens berührt mich wie das Licht eines Sterns. Eine Art Nabelschnur verbindet den Körper des photographierten Gegenstandes mit meinem Blick: das Licht ist hier, obschon ungreifbar, doch ein körperliches Medium, eine Haut, die ich mit diesem oder jener teile, die einmal photographiert worden sind“. Da ist die Magie des Fotos.
Barthes‘ Satz hat eine zauberhafte Wirkung auf unsere Wahrnehmung der Frau in der Flusslandschaft. Im Visier der Soldateska und im Hintergrundwissen des Armeebefehls war sie als Individuum im Reich des Feindbilds und der statistischen Zahlen der Mordpraktiken der Wehrmacht ausgelöscht worden. Der Schrecken, in dem sie verschwand, bleibt, aber die Magie des Fotos ermöglicht es, die Frau im Fluss zu gewärtigen, so dass uns die vergangene Gegenwart dieser namenlosen Gestalt in ihrer Individualität „wie das Licht eines Sterns“ berührt, obwohl wir ihr keinen Namen geben können.
Bilder und ihre Wirklichkeit
Medien sind vom Verdacht umgeben, sie würden Dinge verbergen. Was immer auf der Bildfläche erscheint, es stellt sich die Skepsis ein, ob das, was man sieht, nicht nur Fake, Konstruktion oder zumindest eine manipulierte Form der Wirklichkeit sei. Ein Großteil der Medienwissenschaften lebt von diesem Verdacht. Manchmal und vor allem in Kriegszeiten werden die Skeptiker schwach. Sogar willensschwache Fernsehkonsumenten und abgefeimte Medienzyniker wollen plötzlich wieder ‚die Wahrheit‘ wissen.“1 Plötzlich traut man den „Bildern der eingespannten Journalisten, verwackelt und unscharf wie diejenigen der dänischen Dogma-Filme, zu, was man den Medien generell abgesprochen hat: Bilder der Wirklichkeit zu sein. Nicht die klinischen Bilder des ersten Golfkriegs, sondern schwitzende Soldaten, erschöpfte Reporterinnen, Staub und Tränen lassen sehen, dass das Kriegshandwerk eine mörderische Strapaze ist.“
Das Portal
1977 wird das kunstinteressierte Publikum in Bologna zu einer Performance von Marina Abramović in der Galleria Comunale d’Arte Moderna eingeladen.2 Diesmal erwartet die Besucher eine befremdliche Situation. Die Eingangstür des Museums ist verschmälert worden. Marina Abramović und ihr Partner Ulay stehen sich splitternackt im Portal der Galleria gegenüber, dazwischen nur ein kleiner Spalt. Ein ungehinderter Zugang zu dem Ereignis, das man im Inneren des Museums vermutet, ist nicht möglich. Die Besucher sehen sich vor der Aufgabe, eine heikle Passage zu meistern.
Leicht vorzustellen, was nun geschieht: Vor dem Portal entsteht ein Stau, die zögernden Besucher ordnen sich halbkreisförmig davor an. Mut ist gefordert. Es gilt, sich aus dem sicheren Ring der Beobachtung zu lösen, um, nun selbst Objekt fremder Blicke, beim Passieren der beiden nackten Körper eine gute Figur zu machen. Die Beschämung durch fremde Blicke bedroht das Selbstwertgefühl.
Einer der Besucher, so stelle ich mir den weiteren Ablauf vor, muss den Anfang machen. Er oder sie muss sich vom Distanzsinn des Sehens, der den restlichen Zuschauern noch eine Sicherheitszone verbürgt, trennen, um in die Zone des Tastsinns vorzudringen. Der Dunstkreis zweier Körper muss durchquert werden, dabei streift man – notwendigerweise und so flüchtig wie eben möglich – deren Haut. Vielleicht hilft die Aktentasche (man kommt direkt vom Büro), das Ding ließe sich am langen Arm voranschicken – wie ein Minensuchgerät.
Ist es schicklicher, der Diva der Performance die kalte Schulter zu zeigen und sich Ulay zuzudrehen, dem man aufgrund seiner Körpergröße nicht in die Augen blicken muss? Oder ist andersherum ein mutiger Blick zumindest auf den Hals von Marina Abramović angemessen?
Heute werden die originalen Nitrofilme aus den Kameras der PK-Fotografen in Kühlcontainern verwahrt.
Was folgt, kann den Medienfreak der späten siebziger Jahre nicht überraschen. Im Inneren des Museums treffen die Prüflinge auf einen Kreis von Besuchern, die die Passage bereits heil überstanden und sich inzwischen zwei Videobildschirmen zugewandt haben. Der erste Bildschirm zeigt mit leichter Zeitverzögerung das Eintauchen der Besucher ins Portal, der zweite ihr Auftauchen aus der Passage. Der Kreis schließt sich. Hinter der Passage warten Bilder der Passage. Im Innenraum flimmern die Medien.
Nichts dahinter – außer Medien als letzter Instanz?
Erst recht spät sah ich auf YouTube einen längeren Ausschnitt der Performance in Bologna, der mir zu denken gab. Keine Isolation der Einzelnen bei der Passage; stattdessen Gedrängel. In schneller Abfolge, geradezu miteinander verkettet, den Kleiderkontakt mit dem Vorgänger suchend, die Berührung der nackten Körper auf einen kurzen Augenblick beschränkend, traten die Kunstfreaks die Flucht nach vorn an. Das Konzept der Künstler ging dabei baden.
Robert Capas Landung im Labor
Am 6. Juni 1994 veröffentlichte die New York Times ein Foto, das Robert Capa fünfzig Jahre zuvor, am frühen Morgen des D-Day, dem Beginn der Invasion der alliierten Streitkräfte an der Küste der Normandie, vor Omaha Beach aufgenommen hatte. Die Redaktion der New York Times hatte Alan Trachtenberg, Professor für American Studies und Anglistik in Yale und durch sein Buch Reading American Photographs – Images as History (1990) einem größeren Leserkreis bekannt, gebeten, Capas Foto zu kommentieren.
Trachtenberg stellt in seinem Kommentar die Frage, wie ein Foto von so miserabler technischer Qualität überhaupt solche Prominenz erlangen konnte.
Als das Foto fünfzig Jahre zuvor, 13 Tage nach der Aufnahme, am 19. Juni 1944, erstmalig im Life Magazine veröffentlicht wurde, hatte es eine polemische Qualität. Im Widerspruch zu den ersten offiziellen Verlautbarungen über die Leichtigkeit des Landungsmanövers dokumentiert Capas Aufnahme die physische Erfahrung des Chaos vor Ort. Capa, der mit der ersten Landungswelle ins Meerwasser stieg, erinnert sich in seinen Memoiren Slightly out of Focus (1947): Das Licht der Morgendämmerung sei so grau gewesen, dass er die Konturen der Soldaten kaum von dem durch die Einschläge gepunkteten Wasser habe unterscheiden können. Optisch sei nur das „surrealistisch“ anmutende Design von Hitlers Anti-Invasions-Brain-Trust ins Auge gefallen, die grotesken Stahlhindernisse, die aus dem Wasser ragten. Er selbst habe, hin- und hergerissen zwischen Fluchtreflex und dem professionellen Impuls, die Situation mit seiner Contax-Kamera festzuhalten, vor allem die Qualität des Lichts taxiert.3
Optisch sei nur das „surrealistisch“ anmutende Design von Hitlers Anti-Invasions-Brain-Trust ins Auge gefallen, die grotesken Stahlhindernisse, die aus dem Wasser ragten.
Was Capa beim Erscheinen seines Fotos im Life Magazine nicht wusste, war, welches Schicksal seine Negative im Londoner Labor ereilt hatte. Von zweiundsiebzig Aufnahmen hatten nur elf die Hektik der Dunkelkammer überlebt. Ein Laborassistent hatte die Negative während des Trocknens überhitzt. Hitzeblasen, die Spuren geschmolzener Emulsion, überlagerten flächendeckend die Bilder. Das „Fenster“ zu Omaha Beach war teilweise überzogen und getrübt von einem Ereignis, das aus einer vollkommen anderen Raum- und Zeitdimension stammte. Die berühmte Nr. 4 der Serie, eben jenes zum Jahrestag der Invasion in der New York Times reproduzierte Bild, ist ein vom Debakel der Dunkelkammer besonders malträtiertes Foto – was sich allerdings bald als Vorteil herausstellen sollte: Die technischen Mängel, der unübersehbare Defekt in der chemischen Trägerschicht, verstärkten den Eindruck der Unmittelbarkeit. Und so machte die Londoner Redaktion des Life Magazine aus der Not eine Tugend: Sie versah das am 19. Juni veröffentlichte Foto mit einer Bildunterschrift, in der seine Unschärfe auf die „immense Erregung des Augenblicks“ zurückgeführt wird, die der Fotograf im Chaos der Invasion erfasst habe und die nun auch im Foto zu spüren sei. Die Redaktion verheimlichte das Missgeschick im Labor dem Fotografen noch lange Zeit. Sie teilte ihm mit, dass Meerwasser in die Kamera eingedrungen sei und den Film teilweise zerstört habe.
Die hohe Horizontlinie deutet auf die niedrige Position des Fotografen hin, der sich mitten im Inferno der Landung befindet. Man erkennt den auf ein unbekanntes Ziel gerichteten Blick des Soldaten, den Winkel des Kopfes, die Stellung seines Unterkiefers und die nutzlos neben dem Körper treibende Schwimmweste. Seine Gesichtszüge künden vom konzentrierten Versuch, Grund unter die Füße zu bekommen. Lakonisch heißt es: Das Foto ermögliche die Imagination einer Person, die an einem unmöglichen Ort mit ihrer Kamera die Erfahrung anderer teilen will.
Kurz nach dem Krieg stieß eine Frau in einem kleinen Ort in Pennsylvania bei der Lektüre einer Illustrierten auf Capas Foto und erkannte im abgelichteten Soldaten ihren zweiundzwanzigjährigen Sohn Edward. Er hatte die Landung überlebt und arbeitete seit 1946 als Mitarbeiter verschiedener Sozialhilfeorganisationen in Atlanta. Noch heute wundere sich Edward darüber, dass ein Fotograf es riskierte habe, den heiklen Augenblick der im Abwehrfeuer stagnierenden Landung am Strand der Normandie festzuhalten.
Barthes Punctum
Für Roland Barthes Fototheorie in der Hellen Kammer beginnt das Abenteuer der Bildbetrachtung erst, wenn das Foto aus den Kontexten von „‚Technik‘, ‚Realität‘, ‚Reportage‘, ‚Kunst‘ und so weiter“4 herausgerissen wird und etwas Unvorhergesehenes passiert: Ein einzelner Punkt der Fotooberfläche durchbricht wie ein „Stich“ die Oberfläche und trifft den Betrachter. Mitten in der Analyse der Struktur des Fotos überfällt ihn ein punctum. Es muss nicht spontan geschehen; es kann während des aufwändigen Studiums des Bilds passieren. Aber wenn das punctum einen einmal getroffen hat, kann es durch keinerlei Begriffe des Studiums mehr ausgehebelt werden.
Der junge Mann mit seinem ausgestreckten Arm ist an den rechten Bildrand versetzt, nur halb zu sehen. Es hätte nahegelegen, den Torso des Jünglings studienhalber in die Tradition der Kreuzigungsfiguren zu rücken. Auch die Assoziation mit der Kreuzigungsszene in Monty Python’s Life of Brian scheint mir nicht an den Haaren herbeigezogen: Always look on the bright side of life. Barthes interessiert jedoch etwas anderes.
Der Fotograf hat, und darin besteht seine Kunst, die Hand des Jungen „genau im richtigen Grad des Sich-Öffnens, in der Intensität der Hingabe festgehalten: ein paar Millimeter mehr oder weniger, und der Körper, den man erahnt, hätte sich nicht mehr wohlwollend dargeboten“5, sondern pornographisch. Das punctum wäre verfehlt worden. Schließlich stellt die Pornographie „gewöhnlich das Geschlecht dar, sie macht ein unbewegtes Objekt (einen Fetisch) daraus, beweihräuchert wie ein Gott, der seine Nische nicht verlässt; im pornographischen Bild finde ich kein punctum; bestenfalls amüsiert es mich (doch selbst dann stellt sich rasch Langeweile ein). Die erotische Photographie hingegen macht das Geschlecht nicht zum zentralen Gegenstand […] Das punctum ist mithin eine Art von subtilem Abseits, als führe das Bild das Verlangen über das hinaus, was es erkennen lässt: nicht nur dem ‚Rest‘ der Nacktheit, nicht nur einer imaginären Praxis entgegen, sondern hin zur abstrakten Vollkommenheit eines Wesens, dessen Seele und Körper verschmolzen sind. Dieser junge Mann mit ausgestrecktem Arm und strahlendem Lächeln verkörpert eine Art heiterer Erotik.“6
Mapplethorpes bildnerisches Verfahren kann im studium begriffen werden: auffallend vor allem der raffinierte Schnitt durch Haarschopf, Augenbrauen, Backenknochen, Brustkorb und den Fingernagel des Zeigefingers, der den Kontakt zum Michelangelo-Finger abfängt. Aber nur in der Hand konzentriert sich für Barthes die Gewissheit, die besticht. Wer – wie er – getroffen werden will, sollte Barthes zufolge „ein Wilder, ein Kind – oder ein Verrückter“ sein, einer, „der alles Wissen, alle Kultur hinter sich lässt“.
Nun steht im Brennpunkt der Zeichenpraktiken, die Barthes interessieren, immer die Hand. Die Zeichen, die ihn in Bann halten, lösen sich nie von der Rhythmik und der Motorik des Zeichnens.7 Es ist die Bewegung der Linien zeichnenden Hand, die sich im Graphischen manifestiert, einen schwarz-weißen Raum öffnet, ohne sich in den Graustufen einer Fläche zu verlieren. Mapplethorpes Foto hebt den Fluss – das Auf- und Abschwellen der Linien in den Armpartien – wie in einer künstlerischen Handzeichnung hervor. Der Nagel des Zeigefingers berührt den Rahmen, eine Geste, die besagen mag: Ich bin ein Bild.8 Vielleicht weist der Zeigefinger auch aus dem Bild hinaus, die Wirklichkeit des dargestellten Körpers wäre andernorts zu haben. Beide Beobachtungen widersprechen Barthes’ Beschreibung, in der Mappelthorpes Zeigefinger nicht zeigt, sondern verhalten zwischen einer Geste nach außen und nach innen stillhält.
Die Madonna des New Deal
Am 3. Oktober 2008 macht zu meiner Überraschung ein anderes berühmtes Bild der Fotogeschichte wieder Schlagzeilen. Unter den Meldungen „A collapse in stock market prices“ und „Millions defaulting on mortgage repayments“ fragt die Redaktion des Guardian auf dem Titelblatt: „Is history repeating itself?“ Sie veranschaulicht die Krise des Finanzmarkts und die Angst vor einer Wiederholung der Geschichte mit einem weltbekannten Foto: Dorothea Langes Migrant Mother.
Die Redaktion des Guardian räumt dem Foto Steuerungsfunktion ein. Es geht nicht darum, die spezifische Situation einer Wanderarbeiterin im Jahr 1936, dem Zeitpunkt der Aufnahme, zu vergegenwärtigen; vielmehr ruft das Bild die Regulierungsmaßnahmen des New Deal in Erinnerung. „Another provider is called to step into the husband’s place“, heißt es in einer Studie zu Langes Foto.9 Der Versorger (provider), von dem hier die Rede ist, soll der Staat sein: Er ist aufgerufen, in das außer Kontrolle geratene Wirtschaftsgefüge einzugreifen.
Die Karriere des Fotos mit dem offiziellen Titel Migrant Mother, Nipomo, California, 1936 verläuft rasant.10 Bereits vier Tage nach den Aufnahmen am 6. März 1936 werden zwei Varianten im Rahmen einer Reportage über ein Lager von Wanderarbeitern in den San Francisco News publiziert, woraufhin die Bundesregierung unverzüglich Nahrungsmittellieferungen in die betroffene Region veranlasst. Ein Ausschnitt des Fotos erscheint im August in der New York Times, in der Septemberausgabe der Zeitschrift Survey Graphic mit dem Titel Draggin’ Around People füllt es schon eine ganze Seite. Gerahmt wird diese Geschichte von Artikeln des Ökonomieprofessors Paul Schuster Taylor, für den Fotografien den gleichen Rang wie statistische Daten und Befunde der empirischen Feldforschung haben. Er hat sich bereits 1934 Dorothea Lange angeschlossen und wird sich in den kommenden Jahren auf ihre professionelle Ausrüstung (Graflex und Rolleiflex) verlassen.11
Nur aufgrund zweier Abstraktionsschritte kann Langes Foto so schnell eine zentrale Rolle in der Kampagne der New Deal Farm Security Administration (FSA) spielen: Das Bild ist zunächst ein Beitrag einer empirischen Fallstudie und wird zudem Impulsgeber einer staatlichen Kampagne.
Die Wirkung des Bildes verdankt sich einem Paradox: „Migrant Mother allows to acknowledge paralyzing fear at the same time that it activates an impuls to do something about it.“
Damit erfüllt das Foto ein wichtiges Kriterium der Farm Security Administration: Es zeigt weder den „antriebslosen Abschaum“ der Armutswelle12 noch militante Zornige. Bilder von „würdigen Armen“ gehörten zur Rhetorik der FSA; Würde als Zeichen stoischen Gleichmuts, des geduldigen Wartens auf staatliche Fürsorge.
Nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt die zweite Karriere der Migrant Mother. Sie wird zum Prunkstück in der Ausstellung The Family of Man (1951) von Edward Steichen, von der aus das Foto seinen Siegeszug durch die Museen antritt.
1994 bemerkt die Kunsthistorikerin Paula Rabinowitz: „Whatever reality its subject first possessed has been drained away and the image became an icon.“13 Bald darauf erscheint Dorothea Langes Foto auf einer US-Briefmarke.
Das Blatt der Zeitlosigkeit wendet sich indessen schon 1978 mit einem Artikel der Associated Press in der Los Angeles Times abrupt. Recherchen eines Journalisten bringen plötzlich das zutage, was unsichtbar geworden ist. Es ist das Individuum, das dreiundvierzig Jahre zuvor abgelichtet wurde und jetzt wieder einen Namen hat: Florence Owen.
Die Madonna ist inzwischen fünfundsiebzig Jahre alt. Dreiundvierzig Jahre war sie eine stumme Ikone gewesen, jetzt spricht Florence Thompson, wie sie inzwischen heißt. Die Reportage trägt den Titel Can’t Get a Penny – Famed Photo’s Subject Feels She’s Exploited.14 Dazu ein Foto, das sie 1978 in ihrem trailer home zeigt. Florence Thompson zeigt sich verbittert. Während das Bild um die Welt reiste, blieb die Abgelichtete wie festgenagelt an ihrem sozialen Ort.
Das Foto im trailer home öffnet ein Fenster zu einer verborgenen Dimension des Opfers: die Scham der Armen, in ihrer Armut ausgestellt zu sein, und die Gewissheit, dass es den Betrachtern des Fotos immer noch besser geht als ihr.
Eine neue Wendung nimmt die Geschichte, als Florence Thompson nach einem Herzinfarkt wieder in die bewährte Sprachlosigkeit der Ikone verfällt.15 Sie hat keine Krankenversicherung; nun gelingt es ihren erwachsenen Kindern, mit dem Hinweis auf das berühmte Abbild Spenden in Höhe von 35.000 Dollar aufzutreiben. Das hilft eine Weile. Florence Thompson erliegt dennoch bald einem Krebsleiden. Ihre Kinder posieren noch zu ihren Lebzeiten in bescheidenem Wohlstand.
Dorothea Lange ist 1936 offiziell Photograph Investigator der Resettlement Administration.16 Ihr Auftrag ist es, Aspekte der Agrarkrise – erodierte Böden, Migranten-Camps, Frauen und Kinder im Elend – zu dokumentieren. Sie fotografiert Florence Owen, die sich nach einer Autopanne mit ihren acht Kindern provisorisch am Rande eines Erbsenleser-Camps im kalifornischen Nipomo niedergelassen hat, in sieben Einstellungen. Die Abgelichtete ist umgeben von einem zerschlissenen Zelt, leerem Geschirr, einem halb geöffneten Koffer, einer Gaslaterne und vier Kindern. Ihr Lebensgefährte hat sich soeben zu Fuß aufgemacht, um jemanden zu finden, der den Kühlventilator des Autos reparieren kann.17
Damit ist das Rätsel des „absent providers“ auf denkbar einfache Weise gelöst: Der fehlende Vater kümmert sich gerade um den Kühlventilator. Seine Rückkehr wird an der sozialen Situation, in der sich Frau und Kinder befinden, nichts ändern.
Der Kunsthistoriker dagegen wird eher fragen, welche Kompositionsprinzipien Dorothea Lange befolgt. Er wird schnell fündig: Wenn beide Augen der Porträtierten zu sehen sind, dann befindet sich in aller Regel eines auf einer vertikalen Achse, die genau durch die Bildmitte verläuft. Die Abgebildete blickt nicht nach rechts aus dem Bildraum hinaus; die Blickrichtung von rechts nach links sorgt dafür, dass die Aufmerksamkeit des Betrachters den Bildraum nicht verlässt.18 Lange wählt, Konventionen der Porträtmalerei folgend, den Ausschnitt extrem eng, damit sind alle zufälligen Objekte ausgesperrt. Sie isoliert die Mutter von konkreten raum-zeitlichen Bestimmungen, erst dieser Eingriff ermöglicht den appellativen Charakter des Bilds. Es zitiere, so befindet die Kunstkritik, das Bildmotiv der Mütterlichkeit in der Tradition christlicher Mariendarstellungen.19
Ein störendes Moment bleibt allerdings: Der Daumen rechts unten am Rand, der selbst auf der retuschierten Fassung noch schwach zu erkennen ist. Zwei Jahre nach Entstehung der Aufnahme hat die Fotografin gegen den Widerstand der Archiv-Verantwortlichen, die den dokumentarischen Status des Bilds gefährdet sahen, eine Retusche des Daumens vorgenommen.
Sally Stein macht auf eine Merkwürdigkeit der Rezeptionsgeschichte aufmerksam. Kunsthistoriker sprachen üblicherweise von einer „Pieta mit zwei verdrehten Assistenzfiguren“.20 Die Tradition der Marienmalerei hätte allerdings erwarten lassen, dass die Augen der Mutter auf ihre Kinder oder zumindest nach unten gerichtet sind, um einen Raum unverletzlicher Intimität zu beschreiben. Die Mutter hätte den Betrachter gleichsam taxierend wahrnehmen müssen, als gelte es, einen von außen kommenden Impuls abzuwehren, in die geschützte mütterliche Zone einzudringen. Die Migrant Mother dagegen scheine sich weder des Kinds auf ihrem Schoß noch seiner Geschwister um sie herum bewusst zu sein.21
Stein beobachtet, was jedem Betrachter ins Auge springen müsste: Es fehlen alle sentimentalen Indizien, die normalerweise eine harmonische Mutter-Kind-Beziehung verbürgen. Nun schlägt die amerikanische Forscherin ein weiteres Kapitel in der Karriere der Migrant Mother auf, indem sie eine neue Motivation enthüllt. Ihr fällt auf, dass Langes Archive zahlreiche Fotografien enthalten, auf denen Männer zu sehen sind, die sich mit Gesten mütterlicher Fürsorge um Kinder kümmern. Sie erkennt darin das Bestreben der Fotografin, die Stereotype der Mütterlichkeit und die Enge, die im Bildraum der Kernfamilie vorherrscht, zu sprengen. Langes Fotos zeigen Stein zufolge eine starke Ambivalenz gegenüber dem Kult der Mütterlichkeit.
Sechzig Jahre, nachdem Florence Owen fotografiert worden ist, gibt es eine weitere Entdeckung: Man stößt auf Owens ethnische Herkunft. Sie gehört zu den Native Americans, zu den Cherokesen. Das erklärt vielleicht, warum ihre Haltung oft als stoisch beschrieben wird. Es entspricht der konventionellen Wahrnehmung von Indianern; schon Edward Curtis hat in seinen Indianerfotos Ende des 19. Jahrhunderts deren stoischen Porträtblick kultiviert. Andererseits erscheint es vor diesem Hintergrund noch seltsamer, dass Kunsthistoriker der Migrant Mother „nordische“ Züge zugeschrieben haben. Der Katalog der Getty-Ausstellung spricht von „hübschen, androgynen“ Gesichtszügen, die – in Kombination mit dem stoisch-ernsten Gesichtsausdruck – die „universale“ Ausstrahlung der Ikone bewirken sollen.22 Ein weiterer Kommentator stellt eher lakonisch fest, dass die Porträtierte in jedem Country Club „eine glänzende Figur“ machen würde, weil sie der Inbegriff einer „hübschen Amerikanerin“ sei, gleichsam das Mädchen von nebenan.23 Sally Stein vermutet dahinter ein „kosmetisches Motiv“: Die Imagination eines Selbstbildnisses mit den höheren Wangenknochen der Indianerin nobilitiere diejenigen, die sich mit ihm identifizieren.24
Der Schatten des Fotografen
Der Fotograf Johannes Hähle führte von Mai 1941 bis zum Winter 1942/43 im Rang eines Offiziers der Wehrmacht einen Zug der Propagandakompanie 637. Unmittelbar nach der Erschießung von 33.771 jüdischen Einwohnern der Stadt Kiew am 29. und 30. September 1941 fährt der Berufsfotograf, nachdem er Fotos vom Jüdischen Friedhof, der Ecke Melnik-/Rownoer-Straße und der Markthalle gemacht hat, mit einem Krad (oder einem Pkw) direkt zur Schlucht von Babij Jar im Nordwesten der Stadt. Dort schießt er zunächst einige Schwarz-Weiß-Fotos, die die Weite der Schlucht zeigen, die von hellen Sandwänden eingerahmt wird. Zu sehen sind darauf auch Reihen von abgelegten Kleidern, die sich in einem Halbkreis bis zum Ende der Schlucht hinziehen, und drei Soldaten – wahrscheinlich auf der Suche nach Geld und Wertsachen.
Nun interessieren ihn einzelne Kleiderhaufen. Er beginnt Nahaufnahmen zu machen, es werden insgesamt zwölf Farbdias. Dabei lichtet er die vor ihm liegenden Gegenstände nicht einfach ab, er arrangiert sie. Findet er zwischen Wäschestücken, Jacken und Mänteln Fotografien der Ermordeten oder ihrer Liebsten, so steckt er sie sichtbar zwischen die Kleidung: ein junges Paar, ein Junge im Matrosenanzug, das Porträt einer jungen Frau. Nachdem er mit den Nahaufnahmen fertig ist, steigt der Fotograf auf das obere Plateau der Schlucht und macht von hier aus eine Überblicksaufnahme.
Der weiße Sand der Schlucht.
Der Weg des Fotografen durch Kiew wurde auf Grundlage der Bildfolge von Historikern des Instituts für Sozialforschung in Hamburg rekonstruiert. Meine Nacherzählung hat versucht, durch den grammatischen Kunstgriff des Präsens Gesten und Handlungsraum des Fotografen zu vergegenwärtigen. Im Grunde aber weiß man fast nichts über ihn. Meldungen der Propagandakompanie 637 verzeichnen nur, dass am 30. September 1941 188 Fotos von Hähle zum Thema „Einsatz im Osten“ und am 13. Oktober 1941 sieben seiner Bilder zur „Umfassungsschlacht ostw. Kiew“ eingingen.
Hähle fiel am 10. Juni 1944 in den Kämpfen gegen die alliierten Invasionstruppen. Die Dias wurden 1954 von der Witwe des Bildberichterstatters verkauft, standen als Schwarz-Weiß-Reproduktionen 1961 der Staatsanwaltschaft in Frankfurt am Main zur Verfügung und gelangten mit der Aktenabgabe der Staatsanwaltschaft in das Hessische Hauptarchiv.
Auf einem der Dias fällt auf das gemusterte Kleid eines jüdischen Mädchens ein Schatten. Der Schatten des Fotografen?25
Der Schatten des Fotografen gehört einer anderen Ordnung an als die abgelichteten Dinge. Er gehört nicht zu den Relikten der Toten. Der Schatten wird schwerelos weggleiten, wenn der Fotograf wieder auf sein Motorrad steigt. Er gehört nicht zur Ordnung der Familienfotos, die der Fotograf wie eine Grabbeigabe zwischen die Kleider steckt, ehe er den Schauplatz verlässt. Der Schatten des Fotografen ist keine schwarz ausgetuschte Fläche, die eine klare Silhouette des Mannes mit der Kamera erkennen ließe. Er legt sich nicht wie eine schwarze Decke über den Stoff der Kleider, er ist durchaus transparent. Seine Kontur ist durch die Falten der Textilien gebrochen. Mehr als diese Kontur, die nichts beweist, haben wir nicht.
Der Schatten des Fotografen gehört einer anderen Ordnung an als die abgelichteten Dinge.
Der Fotograf geht seinem Handwerk nach, als ob er nur noch das Leichentuch, das sich inzwischen über den Boden der Schlucht erstreckt, ablichten wolle. Die „Ereignismeldung UdSSR Nr. 106“ vom 7. Oktober 1941 lässt erahnen, was sich unter diesem Leichentuch verbirgt: „In Zusammenarbeit mit dem Gruppenstabe und 2 Kommandos des Polizei-Regiments Süd hat das Sonderkommando 4a am 29. und 30.9. 33.771 Juden exekutiert.“
Dieser Schreibmaschinentext ist entsetzlicher als jedes Bild? Die anonyme Dimension der Taten, ihre Logistik und bürokratische Abhandlung kann nur in Schrift gespeichert werden. Das Grauen der Statistik auch. Beides kann nicht fotografiert werden.
Im Fall des Berufsfotografen einer Propagandakompanie scheint der Beweggrund hinter der fotografischen Dokumentation nicht schwierig zu finden zu sein. Der Fotograf erfüllt seinen Auftrag und weiß, dass seine Kamera der vorgeschobene Posten eines Militär- und Propagandaapparats ist. Die Filme der Kriegsberichterstatter wurden in der Regel sofort entwickelt; von Kleinfilmen wurden Kontaktstreifen und von brauchbaren Negativen Vergrößerungen hergestellt. Nach der Zensur unter militärischen Gesichtspunkten wurde mit propagandistischer Zielrichtung entschieden, welche Vergrößerungen für den Pressegebrauch freigegeben werden sollten. Diese wurden dann an Bildagenturen zur Verteilung weitergeleitet. In Berlin wurden die Negative der Kleinbildfilme, positive Kontaktkopien auf Fotopapier im Streifenformat der Negative und Rückvergrößerungen in das Bildarchiv des Bildpresseamts übernommen, das in Kriegszeiten dem Oberkommando der Wehrmacht unterstellt war. Heute werden die originalen Nitrofilme aus den Kameras der PK-Fotografen in Kühlcontainern verwahrt.26
Vergegenwärtigt man sich die Stellung des PK-Beobachters im Militärapparat, so wird andererseits klar, dass Johannes Hähle illegal gehandelt hat, als er Filme für sein Privatarchiv abzweigte. Er wird gewusst haben, dass sich diese Aufnahmen weder für die Propaganda eignen, noch als Aktenbeilage in der Bürokratie einer Todesmaschinerie dienen können. Der Schatten des Fotografen vergegenwärtigt den schaurigen Rest an Handlungsspielraum, der dem Kriegsberichterstatter blieb.
Sowjetische Unterwäsche
Am 22. März 2003 liest man im Wiener Standard folgende Meldung der Austria Presse Agentur: „Das Wiener Volkskundemuseum geht den Russen an die Wäsche. Unter dem Titel ‚Körpergedächtnis‘ ist ab 21. März Unterwäsche, die in Russland und der UdSSR von 1917 bis 1991 hergestellt wurde bzw. dort in Gebrauch war, zu sehen.“27
Die boutique gegenalltag* e.V. weiß Näheres zum Ereignis: „Unter dem Motto ‚Körpergedächtnis‘ präsentiert die Boutique Gegenalltag vom 20. März bis 3. August 2003 ‚Unterwäsche einer sowjetischen Epoche‘. Special guests in den Gegenalltags-Boxen: ein russischer CD-Shop sowie Produkte in Mini- und Maxi-Ausführung von goodluck-drucklook, judith_moser, ladenhaufen, lisa malle, mija.t.rosa, MILCH, peesan, v_persche, kurt rudolf, unartig! Anschließend Wodka und Borschtsch! Eintritt frei!“
Die Kunstzeitung Online Artmagazin erzeugt Neugier, indem sie ihre Ankündigung der „Träume aus Dederon“ mit einem Foto aus dem Katalog der Ausstellung versieht.28
Die Auszüge aus der Presse demonstrieren, dass sich die Ausstellung, die in St. Petersburg und Nishnij Nowgorod noch Aufsehen erregt hat, ohne Reibungsverlust in die Wiener Event-Kultur integrieren lässt. Lust an Morbidität schluckt alles.
Der Ausstellungsbesuch irritierte mich hochgradig. Ich hatte, wie gesagt, die Farbdias von den Wäschebündeln in der Schlucht von Babij Jar im Kopf, die in der zweiten Wehrmachtsausstellung gezeigt worden waren. Das war der denkbar ungünstigste Ausgangspunkt für Fragen des Körpergedächtnisses, das die Kleider vermitteln sollten. Da ich den Konflikt zwischen den Körperbildern von Babij Jar und der weißen Wäsche in der Laudongasse nicht so schnell verkraften konnte, legte ich kurz darauf den Katalog, den ich gekauft hatte, ungelesen weg. Sicherlich, dachte ich, würde man darin so gelehrte wie spitzfindige Kommentare finden; das arme Zeug der ungebrauchten Wäsche hatte sicherlich Anlass für tiefsinnige Überlegungen gegeben. Je geringer die Evidenz, desto stärker die Narration.29
Diese Wäschestücke sollten Zeichenbehälter, Semioforen, wie die Museumswissenschaftler sagen, des Körpergedächtnisses sein? Wie sollten sich die Wäschestücke mit Erinnerungen aufgeladen haben? Sie dokumentierten doch höchstens die Geschichte ihrer industriellen Fabrikation.
Zehn Jahre nach der Ausstellungseröffnung nestle ich den Nylonstrumpf der Firma Wolford, mit dem der Körpergedächtnis-Katalog wie mit einer Banderole umwunden ist, von der Plastikhülle des kleinformatigen Ringbuchs. Bald darauf staune ich, welch bizarre, autobiografisch rührende, klug recherchierte und geistreiche Artikel er enthält; verfasst wurden sie von den russischen Kuratorinnen. Die ausgestellten Dinge sind ihnen noch im Licht der frühen Sowjetunion präsent. Sie verfolgen deren Schicksal in der Phase des revolutionären Aufschwungs, in ihrer Verkettung mit der KGB-Kultur der dreißiger und vierziger Jahre, während des Kalten Krieges und der Ära der postsowjetischen Epoche.
Diese Wäschestücke sollten Zeichenbehälter des Körpergedächtnisses sein?
Ekaterina Degot erinnert an Alexander Rodtschenkos Besuch in Paris im Jahr 1925. Rodtschenko berichtet, dass sein Blick sofort auf die luxuriöse Warenwelt fällt; seine Wahrnehmung wird durch das „absolute Fehlen von Fremdsprachenkenntnissen verschärft“.30 Erschlagen von der freien Zugänglichkeit der Waren, will er sie nur als „schwarze und düstere Sklaven“ gelten lassen, wird jedoch gleichzeitig magnetisch von ihnen angezogen. Die Wahrnehmung, die Berührung oder der Kauf der Dinge scheinen ihm, dem sowjetischen Intellektuellen aus der avantgardistischen Bild- und Schriftkultur, verführerisch und unbeschwert. Warum? „Das alles ist so fremd und leicht, als wär’s aus Papier …“ In ihrer Pariser Warenform trennen sich die Dinge allerdings radikal von der Utopie des reinen Gebrauchswerts, die der Mann aus Moskau im Kopf hat.31
Der Katalog enthält detaillierte Rekonstruktionen von Fabrikationsketten der Unterwäscheherstellung. Und man trifft unversehens auf wunderbare Beispiele für die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“. Damals war, wie Julia Demidenko feststellt, die Ungleichzeitigkeit hautnah: „Ungeachtet aller Ideen und Moden und unter den Bedingungen stillstehenden Handels und eingestellter Produktion trug die Bevölkerung des revolutionären Russlands weiterhin das auf, was sie hatte. Die Matrosen der Revolution trugen teilweise noch die konfiszierten langen Generalsunterhosen aus Seide – unter Feldbedingungen der beste Schutz gegen Läuse. Oder sie konnten noch die beschlagnahmte gebrauchte Unterwäsche bekommen, die in den Jahren zuvor während des 1. Weltkriegs im Geschäft von J. Gottlieb verkauft wurde – Wäsche aus chinesischen Seidenstoffen, lange Wildlederunterhosen und Unterziehjacken mit Seidenärmeln, gestrickte lange Unterhosen für Kavalleristen mit dem besonderen Schnitt ohne innere Nähte etc.“32
Bis in die fünfziger Jahre hinein, so Demidenko, besaßen viele ältere Frauen in ihren Garderoben ein komplettes Sortiment an Damenwäsche aus den neunzehnzehner Jahren.
Die Phantasmen der Sexualität und ihre naturalistische Präsentation haben sich vom Körper abgespalten.
Irina Sandomirskaja, die dritte der drei russischen Kuratorinnen, orientiert sich in ihrem Beitrag an Moden der Dekonstruktion, die aus dem Westen einsickern.33
Irina Sandomirskaja zufolge dient die Unterwäsche im „Modus des Ausziehens“ dem Verlust der Individualität menschlicher Natur. Die Autorin erläutert, wie mittels väterlicher Wäsche – nicht nur in der Sowjetunion, sondern überall – die männliche Unreife des Knabenkörpers überwunden werden kann: „Die Haut des Jungen hält nicht die Wärme des Körpers. Die ehemaligen Unterhosen des Vaters überwinden das ‚Nicht-Können‘ […]. Sie vervollständigen den Körper, indem sie fehlende sekundäre Geschlechtsmerkmale des erwachsenen Manneskörpers – starkes Haarkleid, Fettschicht – ersetzen.“ Aber auch Wäschestücke der Frau werden als Prothesen zur Überwindung des Nicht-Könnens eingesetzt. Der Büstenhalter für stillende Mütter etwa verwandle die verkleidete Brust in Kommunikation zwischen Frau und Arzt. Zur Funktionalität der Konstruktion, die „Assoziationen mit der Ingenieurskunst des Sprengkopfes“ auslöse, komme hinzu, dass die im Büstenhalter versteckte Brust „in einer für Liebhaber äußerst unbequemen Weise sowohl verschlossen als auch gelöst“ werde.34 Ihre Desexualisierung durch Unterwäsche sei zweifellos sadistisch.
Die Wäsche diene einem Bedarfsminimum, aber niemals dem Exzess, den man sich, wie es Joseph Brodsky, den Sandomirskaja zitiert, in seinen Erinnerungen beschrieb, illegal habe holen müssen: Ein risikofreudiger Klassenkamerad sei einmal während der Unterrichtsstunde unter den Schulbänken bis zum Lehrertisch gekrochen, mit dem einzigen Ziel, einen Blick unter das Kleid der Lehrerin zu werfen und klarzustellen, welche Farbe ihr Schlüpfer hatte. „Zum Abschluss seiner Expedition benachrichtigte der Wagemutige die Klasse mit einem dramatisch geflüsterten: ‚Lila!‘“35
Nackt im Lentos
Im Oktober 2012 eröffnet das Lentos Kunstmuseum in Linz eine Ausstellung unter dem Titel Der nackte Mann. Die Kuratorinnen Stella Rollig, Sabine Fellner und Elisabeth Nowak-Thaller hängen zur Begrüßung das großformatige Bild Der Bodybuilder von Zelko Wiener ins Treppenhaus.
Ein schweinchenfarbener Athlet, das Genital fehlt. In der linken Hand trägt er einen Fernsehapparat, dessen Bildschirm in Schwarz-Weiß seinen Penis zeigt – eine mediale Konstruktion, die im Vergleich mit dem Plastik-Rosa des gemalten Muskelpakets das Glied geradezu naturgetreu wiederzugeben scheint. Die Phantasmen der Sexualität und ihre naturalistische Präsentation haben sich vom Körper abgespalten. Augenscheinlich existieren sie nur noch in Medien der Distanz, in denen wir sie uns dann näher rücken können. Der Körper in der Pracht seiner Muskulatur steht stumm daneben, weil er es mit der kinetischen und hypnotischen Macht der Medien nicht aufnehmen kann. Das Portalbild weist auf die Arena eines Kampfes hin. Zu besichtigen ist in den Räumen der Ausstellung der verzweifelte Versuch, den elektronischen Medien das Monopol der Nacktheit zu entreißen. Mit den Bilderschätzen der Nacktheit, die das Internet auf Tastendruck bereitstellt, kann es schließlich selbst ein Museum mit über zweitausend Quadratmetern Ausstellungsfläche nicht aufnehmen. So grübelt man schon im Portal und könnte doch aufatmen: Welch furchtloses Zeitalter wird hier eingeläutet! Nicht fürchtet der Mann mehr Kastration, solange die Medien naturnahe Prothesen anreichen!
Letzten Endes sind wir alle Cartesianer …
… dachte ich, als ich im Juli 2013, das Manuskript meines Buchs über die Wirklichkeit der Bilder war weitgehend abgeschlossen, in der Netzhautambulanz des AKH in Wien auf die Behandlung wartete. In elf Kapiteln hatte ich Richtungen und Zurichtungen des Auges verfolgt. Jetzt war das Sehorgan Untersuchungsobjekt der Ärzte, die dem ersten Verdacht einer Degeneration der Makula nachgehen sollten.
Auf den Gedanken, dass wir letzten Endes von außen zu traktierende körperliche Dinge sind, war ich schon früher gekommen. Es war das Jahr 1997, ich lag gerade auf der Massagebank einer Klinik in der Niederen Tatra. Zuvor hatte ich bei der Zusammenkunft einer internationalen Gesellschaft in Bratislava, die sich für die Bauhaus-Denkmäler einsetzt, den Vortrag Between the Barrier and the Sieve: Finding the Border in the Modern Movement gehalten.36 Am nächsten Tag hatte man unsere Gruppe – überwiegend Architektur- und Kunsthistoriker – mit dem Bus zu einem schneeweißen Beispiel der Bänderarchitektur, einem Sanatorium, gefahren. Der Name des Sanatoriums ist mir entfallen. Ich erinnere mich nur noch daran, dass die Patienten nach unserer Ankunft mit Decken und Kissen ihre Unterkünfte verlassen mussten, um den internationalen Gästen Platz zu machen.
Da ich meine Aufgabe in Bratislava erledigt hatte, konnte ich mich den Anwendungen des Sanatoriums widmen. Eine Spezialität des Hauses war, wenn ich mich recht erinnere, das Spritzen von Sauerstoff unter die Haut. Da das für mich nicht in Frage kam, begab ich mich zur Massagestation im Keller eines der anliegenden Gebäude. Dort ergab sich, es war außerhalb der Saison, folgendes Bild: Fünf Masseure lagerten beim Skatspiel um einen Tisch und beratschlagten, wer von ihnen massieren sollte. Das Los fiel auf den Blinden, der mich nackt auf eine Betonschale hievte und bei den Zehen mit seiner Arbeit begann. Während er mich über die Ergebnisse des deutschen Fußballs unterrichtete, arbeitete er sich in der nächsten Stunde bis zu den Kopfhaaren vor. Unterdessen hatten die restlichen vier Masseure ihr Spiel unterbrochen und sich um den Massagetisch versammelt, den Blinden mit slowakischen Rufen anfeuernd. Auf dem Rücken liegend blickte ich auf die Lichtschächte der Bauhausarchitektur und dachte: Descartes hat recht, wir sind reine Physis, die Zugriffen ausgeliefert ist. Die Seele hat hier nichts zu suchen.
Anmerkungen
1 Uwe Justus Wenzel: „Das Medium des Verdachts“. Neue Zürcher Zeitung vom 12./13.04.2003.
2 Vgl. Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne. München 2001, S. 276. Außerdem Marina Schneede: Mit Haut und Haaren. Der Körper in der zeitgenössischen Kunst. Köln 2002, S. 52 ff.
3 Vgl. Richard Whelan: Die Wahrheit ist das beste Bild. Robert Capa, Photograph. Eine Biographie. Köln 1989, S. 287-294.
4 Roland Barthes: Die helle Kammer. Frankfurt/Main 1989, S. 65.
5 Barthes: Die helle Kammer, S. 68 ff.
6 Barthes: Die helle Kammer, S. 68.
7 Angeregt von Gerhard Neumann: Franz Kafka. Experte der Macht. München 2012, S. 64-67.
8 So Hartmut Böhme auf der Tagung des IFK „With Black and White You Can Keep More of a Distance“ – Schwarz-Weiß als Evidenz, 22.05.–24.05.2013.
9 Robert Hariman, John Louis Lucaites: No Caption Needed. Iconic Photographs, Public Culture, and Liberal Democracy. http://press.uchicago.edu/Misc/Chicago/316062.html, aufgerufen am 23.06.2013.
10 In den Angaben zur Rezeptionsgeschichte folge ich Sally Stein („Whose Family Romance?“ Vortrag am Getty Research Institute im Frühjahr 2003). Vgl. außerdem Sally Stein: „Passing Likeness. Dorothea Lange’s Migrant Mother and the Paradox of Iconicity“. In: Coco Fusco, Brian Wallis (Hg.): Only Skin Deep. Changing Visions of the American Self. New York 2003, S. 345-355.
11 Judith Keller: In Focus: Dorothea Lange. Photographs from the J. Paul Getty Museum. Los Angeles 2002, S. 22.
12 Pare Lorentz, zit. nach Abigail Solomon-Godeau: „Wer spricht so? Einige Fragen zur Dokumentarfotografie“. In: Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Band 2. Frankfurt am Main 2003, S. 53-74, S. 67.
13 Paula Rabinowitz: They must be represented. The Politics of Documentary. London 1994, S. 87.
14 Hariman, Lucaites: No Caption Needed.
15 Hariman, Lucaites: No Caption Needed.
16 Vgl. Hertfelder: Unterwegs im Universum der Deutungen, S. 3.
17 Vgl. Hertfelder: Unterwegs im Universum der Deutungen, S. 7.
18 Vgl. Rolf Liese: „Der Blick nach links. Eine Bildstrategie. Wie unsere Augen gelenkt werden“. In: Kunstforum International Dezember/Januar (1999/2000), S. 168–171.
19 Vgl. Busch: Belichtete Welt, S. 348 ff.
20 Hertfelder: Unterwegs im Universum der Deutungen, S. 6.
21 Stein: Whose Family Romance?
22 Keller: Dorothea Lange, S. 32.
23 Wefing: Aus Zitronen soll Limonade werden.
24 Stein: Whose Family Romance?
25 Die Schatten der Täter, die auf ein Massengrab fallen, zeigt ein Foto aus dem privaten Album von Hans Mayer in Bopp: Fremde im Visier, S. 122.
26 Vgl. Wolf Buchmann: „Woher kommt das Photo?“ Zur Authentizität und Interpretation von historischen Photoaufnahmen in Archiven. http://www.archive.nrw.de/archivar/hefte/1999/Archivar_1999-4.pdf, aufgerufen am 01.08.2013.
27 Körpergedächtnis. http://diestandard.at/1241699, aufgerufen am 01.08.2013.
28 Iris Meder: Träume aus Dederon. http://artmagazine.cc/content7718.html, aufgerufen am 01.08.2013. Das Foto stammt aus „Körpergedächtnis. Unterwäsche einer sowjetischen Epoche“. Österreichisches Museum für Volkskunde in Wien. Wien 2003, S. 125.
29 Ein starker Gedanke, den ich Gesa Mackenthum im Februar im Zempin verdanke.
30 Ekaterina Degot: „Vom Genuß zum Genossen. Zu einer Ästhetik jenseits von Markt und Ware“. In: Körpergedächtnis, S. 18–29, S. 18.
31 Degot: „Vom Genuß zum Genossen“, S. 19 f.
32 Julia Demidenko: „Eine kurze Geschichte der Unterwäsche in der Sowjetunion“. In: Körpergedächtnis, S. 30-47, S. 33.
33 Irina Sandomirskaja: „Anziehen – Ausziehen – Umziehen. Die Unterwäsche und die Inszenierung des Körpers“. In: Körpergedächtnis, S. 48–57.
34 Sandomirskaja: „Anziehen – Ausziehen – Umziehen“, S. 49.
35 Sandomirskaja: „Anziehen – Ausziehen – Umziehen“, S. 53.
36 Helmut Lethen: „Between the Barrier and the Sieve: Finding the Border in the Modern Movement“. In: The Journal of Architecture I/4 (1996), S. 301-312.