Viele Menschen, gerade in diesen Krisenzeiten, kennen das Gefühl nur zu gut: Es reicht hinten und vorne nicht. Die Ausgaben sind zu hoch. Wie sie auch rechnen, wie sie auch sparen, sie kommen nicht hin. Immer übersteigt der Bedarf die vorhandenen Mittel. Dann machen sie Schulden. Hier wird ein Kredit aufgenommen, dort eine Rate nicht bezahlt, immer in der Hoffnung, dass sich die Lage dann, wenn die Rückzahlung fällig ist, gebessert haben wird. Aber in aller Regel wird sie nicht besser, sie wird schlimmer. Die Ausgaben steigen, unvorhergesehene Mehrkosten kommen noch dazu. Dann beginnt ein hoffnungsloser Kreislauf. Sie betteln hier ein wenig um Aufschub, dort um eine letzte Frist, und versuchen, an ihnen wohlgesonnenen Orten noch ein paar Ressourcen locker zu machen. Die Verschuldung nimmt beängstigende Ausmaße an. Nachts liegen sie schlaflos, planen, rechnen, verwerfen, schöpfen noch einmal Hoffung, kämpfen, schrecken hoch in der Gewissheit, dass es keine Rettung gibt. Irgendwann kommt dann der Moment der Klarheit: Es geht nicht mehr, sie sind illiquide, es ist aus. Gleichgültig nehmen sie die neuen Rechnungen entgegen: Es spielt jetzt sowieso keine Rolle mehr, wie viele Außenstände sie haben. Unternehmer, aber auch Privatpersonen können, ja müssen dann Insolvenz anmelden, d.h. sie müssen öffentlich und mit rechtsverbindlicher Wirkung eingestehen, dass sie ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkommen können, dass sie sich übernommen haben.
Das ist haargenau die Situation des Schreibers dieser Zeilen, und mit ihm befinden sich viele, ja vielleicht die Mehrzahl seiner Kollegen in dieser Lage, und viele andere Menschen auch – oft, aber bei weitem nicht nur, Menschen in Führungspositionen, aber auch viele einfache Mütter, Väter und erschreckend oft sogar schon Kinder und Jugendliche.
Ich bin pleite. Nicht finanziell, da kann ich mich Gott sei Dank nicht beklagen, aber temporal. Zeit ist Geld, und ich bin temporalinsolvent, zeitlich illiquide. Ich kann meinen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen, partout und absolut nicht. Ich bräuchte mindestens drei Tage, um diesen Beitrag vernünftig zu schreiben, aber ich habe nur noch ein paar Stunden, selbst wenn ich mir die Nacht wieder einmal um die Ohren schlage. Morgen früh will der Verleger das Produkt sehen, sonst wird er selbst zur Feder greifen müssen. Ich bräuchte Wochen, um die Hausarbeiten meiner Studierenden, die sich in den letzten Monaten unaufhaltsam aufgestapelt und haushoch aufgetürmt haben, sauber zu korrigieren. Ebenso lange, um den Stapel an Magisterarbeiten und Dissertationen abzuarbeiten. Darunter liegt – ungelogen – eine tausendseitige Habilitationsschrift. Das Prüfungsamt schickt mir seit Wochen eine Mahnung nach der anderen, der Ton wird immer drohender, vermutlich klingelt bald das Rechtsamt. Soll es doch. Die Gutachten, die ich für Studenten, die ins Ausland wollen oder sich für ein Stipendium bewerben, oder für Zeitschriften, Forschungseinrichtungen oder Drittmittelgeber schreiben müsste, würden mich sicher auch dann ein halbes Jahr beschäftigen, wenn ich nichts anderes täte, als mich mit ihnen zu befassen. Freunde und Familie kriegen mich ohnehin nicht mehr zu sehen, oder höchstens im Vorbeihuschen: Sorry, hab keine Zeit, bin schon zu spät dran. Ich habe sie auf die Semesterferien vertröstet. Diese sind übermorgen vorbei. Längst hätte ich meine Lehrveranstaltungen vorbereiten, Literaturlisten und Seminarpläne schreiben, Referatslisten ausarbeiten sollen. Aber wann? Jetzt bleibt mir keine Zeit mehr. Ich hoffe, es liegt noch was Brauchbares in der Schublade. Dem Lektor des skandinavischen Verlags, dem ich seit einem Jahr ein Buchmanuskript schulde – vor einem Jahr dachte ich leichtsinnigerweise, die Sommerferien seien lang und gewiss hätte ich ein paar Wochen Zeit zum Schreiben –, antworte ich gar nicht mehr. Er ist weit weg. Aber die deutschen Zeitschriften und Verleger von Sammelbänden sind mir auf den Fersen. Für irgendein Handbuch hätte ich einen Beitrag schreiben sollen: Gerade ist die dritte Mahnung gekommen; leider weiß ich nicht mehr, was für ein Beitrag das war. Spielt allerdings auch keine Rolle, ich habe im Moment sowieso keine Zeit dafür. Mein Emailkonto quillt über.
Ich bin pleite. Nicht finanziell, da kann ich mich Gott sei Dank nicht beklagen, aber temporal.
Als ich vor zwei Wochen entschieden habe, dass ich ein paar dieser Verpflichtungen einfach nicht erfüllen werde, ließ der Druck des schlechten Zeit-Gewissens für ein paar Tage ein wenig nach. Inzwischen ist die Wirkung jedoch verpufft. Es geht mir wie den amerikanischen Banken: Alle Rettungspakete bleiben Tropfen auf dem heißen Stein, ich brauche jetzt eine Generallösung.
Es reicht nicht
Ich habe es ja versucht. Ich wollte ein guter Bürger, anständiger Familienmensch, teamfähiger Kollege, engagierter Lehrer, hilfsbereiter Freund und exzellenter Wissenschaftler sein; ich habe alles getan, um fit zu bleiben, für die Rente zu sorgen, Steuererklärungen und Rechenschaftsberichte abzugeben, Nachwuchswissenschaftler zu begutachten, die geforderten Fünfjahrespläne für Forschung und Lehre zu entwerfen, die Entwürfe der Kollegen zu bewerten. Ich habe mich bemüht, Zeit zu sparen, Arbeitsschritte zu verkürzen, Aufschub zu erbetteln, mein Tempo zu beschleunigen; ich habe seit Jahren den Urlaub ausgelassen, die Wochenenden zu Arbeitstagen gemacht, mir das Schlafen ab- und das Essen bei McDonald’s angewöhnt: Es reicht einfach nicht. Meine Zeit-Schulden wachsen immer schneller, der Rückstand wird täglich größer.
Ich werde jetzt Insolvenz anmelden. Temporalinsolvenz. Dann kommt der Konkursverwalter und hält mir die Gläubiger vom Hals: Soll er doch entscheiden, wie viel von meinen 24 Stunden den Studenten, den Doktoranden, den Mitarbeitern, den Kollegen, der Fakultät, der Universitätsleitung, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, aber auch den Freunden, dem Tennisclub, dem Musikverein und meiner Familie zustehen. Ich bin sicher, selbst wenn er mit äußerster Härte vorgeht: Solange er sich auch nur im Entferntesten an die Menschenrechtsrichtlinien von Amnesty International hält, wird er am Ende für meinen Eigenbedarf mehr Zeit übrig lassen müssen, als ich mir selbst in den letzten Jahren jemals genommen habe. Dann kann ich noch einmal von vorne anfangen.
Leider wissen wir aus der Finanzwelt, dass derjenige, der zum Schuldenmachen neigt, seine Handlungsmuster nach dem Großreinemachen nur allzu rasch wiederholt, dass er sich bald wieder in den verhängnisvollen Fallen von verlockenden Angeboten – kaufe jetzt, zahle später – und steigenden Ausgaben verfängt. Vermutlich werde ich mich bald von Neuem übernommen haben.
Zeitstrukturen sind weder naturgegeben noch einfach durch unser individuelles Handeln bestimmbar. Sie werden kollektiv geformt und sind tief in den Strukturen unserer Alltagswelt verankert.
Dabei müsste ich es eigentlich besser wissen. Schließlich verfüge ich über eine Theorie, die mir (und allen anderen) erklärt, wie es so weit mit uns gekommen ist: Die Theorie der sozialen Beschleunigung. Ich habe sie selbst formuliert (wäre ich pekuniär insolvent, würde ich jetzt auf mein im Suhrkamp-Verlag erschienenes Buch Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne verweisen). Genützt hat es mir nichts. Zeitstrukturen sind weder naturgegeben noch einfach durch unser individuelles Handeln bestimmbar. Sie werden kollektiv geformt und sind tief in den Strukturen unserer Alltagswelt verankert. Die moderne Gesellschaft, ja die Moderne überhaupt, ist durch die notorische Beschleunigung aller Lebensbereiche und durch die Verkürzung von Handlungsabläufen und sozialen Prozessen in nahezu allen Gesellschaftsbereichen gekennzeichnet. Ihr Wesenskern besteht in einem immer schnelleren In-Bewegung-Setzen der materiellen, sozialen und geistigen Welt, in der wir leben. Das Ergebnis dieser mächtigen zeitlichen Veränderungstendenz ist, dass wir alle immer schneller laufen müssen, nur um unseren Platz zu halten im sozialen Gefüge. Wer ausruht, wird abgehängt, fällt zurück, verliert Optionen und Anschlusschancen; kurz, er verliert seine Wettbewerbsfähigkeit in einer globalisierten Welt, in der, wie es die Spatzen von den Dächern pfeifen, der Wettbewerb immer härter wird. Ursprünglich dachten wir modernen Menschen einmal, das ökonomische Wettbewerbssystem würde uns so reich und stark werden lassen, so viele Güter produzieren, dass wir vom täglichen Existenzkampf entlastet würden. Wir träumten davon, so viel Zeit zu sparen und über so viele Güter zu verfügen, dass wir ein selbstbestimmtes Leben mit selbstgewählten Zielen, echten Lebenszielen, führen könnten. Wir träumten von einer ökonomisch entlasteten, befriedeten Existenz, wie Herbert Marcuse das nannte. Was für ein Irrtum!
Wachsende Zeitarmut
Die auf diese Weise geschaffene Wirklichkeit sieht ganz anders aus: Die Ziele, die wir jetzt verfolgen, dienen dazu, unser soziales Überleben, unsere Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Den einen fehlt dazu das Geld, den anderen die Zeit, und es scheint, dass immer mehr Menschen beides fehlt. Der schwedische Ökonom Staffan Linder formulierte in den 1970er-Jahren ein Axiom, das besagt, dass sich Zeitarmut und Güterwohlstand proportional verhalten: Manche Kulturen, argumentierte er, seien reich an Zeit, aber arm an Gütern, andere lebten im ökonomischen Überfluss, aber in wachsender Zeitarmut. Was Linder nicht ahnen konnte: In der globalisierten Spätmoderne ist es sogar möglich, an beidem zugleich zu verarmen: Über kein Geld zu verfügen und trotzdem keine Zeit zu haben. Wer reich ist oder auch nur ein gewisses Vermögen angespart hat – wem also die Zeit knapp wird –, der lebt in beständiger Sorge, das Geld zu verlieren; wer Zeit hat, wird bald finden, dass sie ihm gesellschaftlich entwertet wird, weil er als Arbeitsloser, Überflüssiger, Exkludierter zwangsentschleunigt ist, im Hamsterrad nicht mehr mitlaufen darf, und somit weder über Geld noch über Ansehen, Anerkennung, Status, Privilegien oder Positionen verfügt. Wir können nicht etwa wählen, ob wir lieber ein bisschen mehr Einkommen oder ein wenig mehr Zeit haben: Ständig haben wir Angst um beides, auch ohne Finanzkrise. Politiker und Ökonomen predigen derweil: Alles wird besser, wenn wir die Wachstumsraten erhöhen, mehr Innovationen produzieren, an Tempo zulegen, den Wettbewerb in allen Lebensbereichen verschärfen, auch bei unseren Kindern. Sie sollen schneller promovieren, schneller ihr Studium beenden, das „Turbo“-Abitur in 12 statt in 13 Jahren bewältigen, früher ein- und früher ausgeschult werden; ja, sie sind kaum auf der Welt, haben die Eltern schon Sorge, ihr Kind könnte zurückgeblieben sein. Befriedete Existenz?! Segnungen eines leistungsfähigen Wirtschaftssystems?! Was für ein Hohn.
Wir wissen seit langem, dass dieses Wirtschaftssystem Armut und Knappheit nicht zu beseitigen oder zu überwinden vermag, sondern immer wieder aufs Neue selbst produziert: Nicht einmal nur in der sogenannten Dritten Welt, sondern zunehmend auch bei uns, wie die Berichte und Analysen über das Leben mit Hartz IV belegen. Jetzt aber ist es an der Zeit uns einzugestehen, dass es uns obendrein zeitarm macht: Je erfolgreicher Sie sozial und ökonomisch werden, umso sicherer geht Ihnen die Zeit aus, werden Sie zeit-anämisch, droht Ihnen der Temporalkollaps. Dieses System hat keinen Sinn!
Wir konsumieren immer weniger, wir kaufen immer mehr.
Es treibt uns in ein Leben, an dessen Ende wir niemals alt und lebenssatt sterben werden; nie werden wir von uns sagen können, den Lebenskreis als ein stimmiges Ganzes erfahren und durchlaufen zu haben. Stattdessen werden wir atemlos und hechelnd enden, wir werden irgendwann einfach überholt und überrollt werden, die Welt wird uns überfahren, während wir immer noch dem Leben und der Fülle hinterherzulaufen versuchen. Als ‚gleichzeitige Menschen‘ haben wir versucht, sozusagen ein ewiges Leben vor dem Tode zu verwirklichen, darin sind wir nicht einfach nur die Opfer des modernen Beschleunigungssystems, sondern auch heimliche Täter. Wenn wir schneller leben, können wir zwei oder drei Lebenspensen in eines packen, können wir die Erfahrungssumme und Erlebnismenge mehrerer Leben in unserem einen, einzigen auskosten. Das ist die kulturelle Logik der sozialen Beschleunigung: Panisches Wegrennen vor der Unausweichlichkeit des Todes in dem Versuch, soviel Welt wie möglich, ja unendlich viel Welt ‚mitzunehmen‘, ehe wir sterben müssen. Leider hat auch das nicht geklappt: Wir werden nicht nur zeitarm sterben – das Leben wird an uns vorbeigerast sein –, sondern auch noch weltarm, lebensarm. Denn wer sich Welt und Leben aneignen will, muss sich Zeit lassen, muss sich Dinge anverwandeln. Wir eignen uns die Dinge aber nicht mehr an, wir kaufen sie. Tatsächlich verwechseln wir kollektiv und individuell längst kaufen mit konsumieren: Wir erhöhen unsere Kaufraten, weil unsere Anverwandlungsraten sinken. Weil wir die Musikstücke und Filme, die wir kaufen, kaum je anhören oder ansehen und sie uns schon gar nicht zu Eigen machen, entsteht ein Gefühl der Enttäuschung und des Mangels, und dieses versuchen wir zu kompensieren, indem wir noch mehr kaufen. Gut für die Wirtschaft, schlecht für uns. Wann haben wir denn ein Produkt konsumiert? Doch nicht durch den Kauf. Ein Buch haben wir konsumiert, wenn wir es gelesen, eine DVD, wenn wir sie gesehen, und eine CD, wenn wir sie gehört haben. Und Kleidungsstücke oder Schuhe, wenn wir sie getragen, ein Teleskop, wenn wir damit in die Sterne gesehen (und auch tatsächlich die Objekte, die wir sehen wollten, gefunden) haben, und ein Klavier erst dann, wenn wir wirklich spielen gelernt haben. In diesem Sinne aber sinken unsere Konsumraten ständig ab: Wir konsumieren immer weniger, wir kaufen immer mehr. Damit wir auch sonntags nicht lesen, hören, Klavier üben oder in die Sterne gucken, bleiben jetzt die Läden auch am Wochenende geöffnet. Der gleichzeitige Mensch der Moderne ist ein armer, atemloser Tropf. Vielleicht werde ich nach meiner Temporalinsolvenz doch noch einmal über eine Variation der Handlungsmuster nachdenken.