Es gibt eine Vorstellung vom Künstler als einem gottähnlichen Schöpfer, die in der Renaissance entstand und sich über die sogenannte Geniezeit des Sturm und Drang, die Bohème des 19. Jahrhunderts und den Ästhetizismus hinweg bis in die Gegenwart erstaunlich hartnäckig hält. Sie hält sich so hartnäckig, dass sie sich nun auch in der Dissertation Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit wiederfindet, mit der Carolin Amlinger im Dezember 2020 an der Technischen Universität Darmstadt promoviert wurde und die unlängst als „suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2363“ erschienen ist. „Ich wollte verstehen“, erklärt sie zur Erläuterung ihrer Methode, wie Schriftsteller:innen arbeiten und welchen Sinn sie ihrer Arbeit zuschreiben.“ (S. 687) Schon dadurch partizipiert die Arbeit an einem Geniebegriff, durch den, wie Theodor W. Adorno kritisierte, „aus eitel Überschwang das Kunstwerk in das Dokument seines Urhebers verzaubert und damit verkleinert“ wird.1 Um diesem grundlegenden und leider auch von ihr unverstandenem Problem, das Amlinger sich eingehandelt hat, etwas mehr Kontur zu verleihen, ist es hilfreich, zunächst philosophie- und soziologiehistorisch ein wenig auszuholen, bevor dann ihre Arbeit selbst näher in den Blick genommen werden soll.
Kern dieses Problems ist der Begriff der Kunstautonomie, der gern mit der Vorstellung vom Künstler als Schöpfer verbunden wird, der aber nicht nur die Freiheit des Künstlers bezeichnet, sich ganz seinen Neigungen und Eingebungen zu überlassen, sondern auch eine Sachdimension hat, die von Künstlern absieht und nur die von ihnen geschaffenen Kunstwerke betrifft. Kunstautonomie meint dann, dass sachgemäße Urteile über Kunstwerke ausschließlich nach künstlerischen Kriterien erfolgen.
Wie sind solche künstlerischen Kriterien beschaffen? Immanuel Kant war zwar nicht der erste, der sich mit dieser Frage beschäftigt hat, aber doch derjenige, mit dessen Überlegungen eine Beschäftigung immer noch lohnt. Kunsturteile verstand Kant als Urteile über Schönheit, und gemeint ist von ihm selbstverständlich nicht die Schönheit des Künstlers, sondern die Schönheit in der Natur oder die eines von einem Künstler hergestellten Artefakts. Schönheit wiederum bestehe, so Kant, in der Wahrnehmung einer „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“,2 die ein „von allem Interesse unabhängiges Wohlgefallen“3 auslösen könne. Schönheit ist ihm selbstgenügsam, Friedrich Schiller wird sie in seinen „Briefen über die ästhetische Erziehung“ mit recht als „Spiel“ bezeichnen. Sie ist mithin nicht durch etwas bestimmt, was zum Beispiel gemeinschaftskundlich orientiere (also künstlerisch unorientierte) Deutschlehrer so gerne in der Literatur suchen: eine gesellschaftliche Relevanz im Sinne politischer, wirtschaftlicher oder pädagogischer Brauchbarkeit oder Nützlichkeit.
Kant geht allerdings so weit zu behaupten, dass es gar keine „objektive[n] Geschmacksregel[n]“ geben könne, weil allein „das Gefühl des Subjekts und kein Begriff eines Objekts“ Grund für Urteile über das Schöne sei.4 Gleichwohl seien diese Geschmacksurteile keineswegs subjektiv (wie die Urteile über lediglich Angenehmes5), sondern „allgemeingültig“.6 Das erscheint auf den ersten Blick unverständlich, wird verständlich aber dann, wenn man sich klarmacht, dass Kants Überlegungen zum Ziel haben, nach der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft das zu ergründen, was allen Menschen gemeinsam ist, wenn sie Schönes wahrnehmen und als schön beurteilen. Es geht ihm mithin um das (womöglich für den Menschen spezifische) Gattungsvermögen der Wahrnehmung von Schönheit, die unabhängig von allen Nützlichkeitserwägungen sei. Kants Interesse ist anthropologisch und richtet sich deshalb naturgemäß nicht etwa auf Fragen der Gestimmtheit eines Künstlers bei der Kunstproduktion oder seiner sozialen Lage. Schönheit ist bei Kant zudem ausschließlich ein Rezeptions- und ein an die Rezeption anschließendes Reflexionsvermögen, das sich bei allen Menschen gleichermaßen feststellen lässt. Auf dieser Basis kann man Geschmacksurteile anderen andienen, wobei man dann aber nur so tut, „als ob Schönheit eine Beschaffenheit des Gegenstands und das Urteil logisch (durch Begriffe vom Objekte eine Erkenntnis desselben ausmachend) wäre“.7 Einerlei bleibt es ihm dabei, ob von Schönheit in Ansehung von Schönem in der Natur oder Schönem in der Kunst die Rede ist.
Tatsächlich macht der Unterschied zwischen Natur- und Kunstschönem jedoch, wie Theodor W. Adorno scharfsinnig angemerkt hat, einen ganz entscheidenden Unterschied, weil das Kunstschöne einem „bereits […] konstituierten Raum“ zugehöre, der eine Geschichte habe, von der sich nicht absehen lasse, der sich aber sinnlicher Wahrnehmung entziehe.8 Wenn aber, erläutert Adorno seine Kritik an Kant weiter, „Objekt und Subjekt der ästhetischen Erfahrung nicht in einem […] Verhältnis […] ursprünglicher Konstitution zueinander stehen, sondern beide gewissermaßen schon bereits in die konstituierte Welt fallen, dann hört der Vorrang des Subjekts gegenüber dem Objekt auf, und […] das Objekt ist aus sehr gewichtigen Gründen dann sogar der Subjektivität vorzuordnen.“9 Aus diesen Gründen, die Adorno in seinem Essay „Zu Subjekt und Objekt“ ausgeführt hat,10 ergibt sich, warum er vom Doppelcharakter der Kunst als einem sowohl Autonomen, aber auch einem – im Sinne Emil Durkheims11 – „fait social“ (einer sozialen Tatsache bzw. einem soziologischer Tatbestand) spricht und die Kunstautonomie weder am Künstler festmacht noch, wie Kant, an der Kunstwahrnehmung, sondern an der Objektivität des Kunstwerks in seinen gesellschaftlichen (und damit auch historischen) Bezügen.
Carolin Amlinger, um auf ihre Dissertation nun endlich zu sprechen zu kommen, reduziert dagegen Adornos Position unzulässig (wie übrigens auch Moritz Baßler und Heinz Drügh in ihrer vor kurzem erschienen „Gegenwartsästhetik“12) auf eine Kritik an der „reele[n] Subsumtion [der Kunst] unter das Kapitalverhältnis“ (S. 41) durch eine Kulturindustrie, und sie übersieht auch, dass Adorno schon in seiner scharfen Kritik an Walter Benjamins Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reduzierbarkeit“ die Möglichkeiten autonomer Kunst vehement verteidigt und der kulturindustriellen Produktion strikt entgegensetzt hat.13 Mit Benjamin stimmte Adorno dahingehend überein, dass bloßes Staunen keine noch erstrebenswerte und auch keine angemessene Haltung gegenüber Kunstwerken mehr sei. Sie verlangten vielmehr einen Nachvollzug ihres Gemachtseins, ihrer „Technizität“,14 des „‚Modus‘ ihrer Hervorbringung“.15 Doch keineswegs sei damit eine Absage an die Möglichkeit des autonomen Kunstwerks verbunden, das als selbstzweckhaftes Spiel doch immer an der Idee der Freiheit partizipiere. Benjamin dagegen überschätze das Revolutionäre des neuen Mediums Film und dessen Technizität, obwohl vorherrschend dort doch sei, dass „überall mimetisch die Wirklichkeit infantil aufgebaut und dann ‚abphotographiert‘“ werde. „Sie unterschätzen“, so Adorno an Benjamin gewandt, „die Technizität der autonomen Kunst und überschätzen die der abhängigen; das wäre vielleicht in runden Worten mein Haupteinwand.“16 Markanter noch formulierte Adorno seine Kritik drei Tage später in einem Brief an Max Horkheimer: Benjamin mythisiere geradezu die Entmythologisierung der Kunst. „Oder drastischer gesprochen, er schüttet erst das Kind mit dem Bade aus und betet dann die leere Wanne an.“17 Horkheimer teilte diese Kritik, die schließlich – ohne jede Nennung Benjamins als einem impliziten Gegner – in die Kritik an der Kulturindustrie als Massenbetrug in die von Horkheimer und Adorno gemeinsam verantworteten Dialektik der Aufklärung mündete, die 1947 erschienen ist. Sie setzte sich allerdings auch fort in Adornos beständigen Bemühungen um die Verteidigung autonomer Kunst als exponiertem Ort des Ein- und Widerspruchs gegen die „verwaltete Welt“.18 Amlinger stellt das nur in einer Fußnote beiläufig fest (S. 42), und es bleibt danach für ihre Arbeit ohne jede Konsequenz.
Adorno befindet sich in seiner Verteidigung der Kunstautonomie auch keineswegs, wie Amlinger meint, im Gegensatz zur Systemtheorie Niklas Luhmanns, die die Ausdifferenzierung der Kunst zu einem autonomen gesellschaftlichen Subsystem nur mit anderen Mitteln beschreibt, aber als autonome gleichermaßen ins Recht setzt und verteidigt.19 Die Autonomie ergebe sich, so Luhmann, daraus, dass im Subsystem Kunst wie in allen anderen gesellschaftlichen Subsystemen nach einer spezifischen Leitdifferenz operiert werde. Lautet sie im Subsystem Wissenschaft etwa „wahr“ versus „unwahr“, bestimmt Luhmann sie für das Subsystem Kunst mit „schön“ versus „hässlich“.20 Das ist zwar angesichts nicht mehr nur schöner Künste21 eine etwas unglücklich gewählte und innerhalb der Systemtheorie auch umstrittene22 Leitdifferenz, entscheidend und richtig ist aber Luhmanns grundlegender Gedanke, dass innerhalb des Subsystems Kunst keine anderen als ausschließlich künstlerische Kriterien maßgeblich für Kunsturteile sind. Sobald Kunst etwa nach Kriterien des Subsystems Wirtschaft („verkäuflich“ versus „nicht verkäuflich“) beurteilt wird, wird das Subsystem Kunst verlassen – oder mit Luhmanns Worten: „Solche Verwendungsweisen [von Kunst] bleiben äußerlich. Sie tragen zum Verständnis des Kunstwerks nichts bei und behindern es auch nicht. Sie stehen ‚orthogonal‘ zur Autopoiesis der Kunst.“23 Entsprechendes gilt, wenn Fragen der Moralität oder politischen Opportunität von Kunstwerken aufgeworfen werden.
Luhmann, wie Amlinger es tut, vorzuwerfen, er verkenne die „ökonomischen Verstrickungen“ der Kunst, „die unweigerlich Teil ihrer Realität“ seien (S. 41), geht deshalb fehl, weil Luhmann keineswegs entgangen ist, dass Kunstwerke im Subsystem Wirtschaft als Ware gehandelt werden können. Was ihren künstlerischen Wert ausmacht ist aber eben etwas anderes als das, was ihren ökonomischen Wert ausmacht, so wie analog juristische Urteile im Subsystem Recht zumindest in einem Rechtsstaat nur nach juristischen Kriterien getroffen werden und nicht etwa nach Maßgaben des Subsystems Politik oder anderer Subsysteme. Auch wenn der Staat Richter bezahlt, urteilen sie im Rechtsstaat daher als Richter autonom. Und wie auch immer Künstler ihr Ein- und Auskommen finden, es ist entsprechend irrelevant für das, was entsteht, wenn Künstler als Künstler tätig sind.
Ähnlich wie Jean-Paul Sartre in „Qu’est-ce que la littérature?“, der auch von Autonomie spricht, damit aber nur die „Unabhängigkeit“24 bzw. die „Freiheit des Schriftstellers“25 im Sinn hat, glaubt Amlinger, Autonomie sei so etwas wie die individuelle Freiheit und ökonomische Unabhängigkeit des Künstlers. Daher stimmt sie der Kritik einer Schriftstellerin namens Julika Steffens zu (der richtige Name wurde mit dem Ziel der Anonymisierung abgeändert), dass Autorenstipendien einen Autor in eine „paternalistisch konnotierte Abhängigkeitsbeziehung“ (S. 378) nötigen und damit zu einem „subjektiv erlebten Zwang“ führen, „in einem bestimmten Zeitraum schreiben zu müssen“ (Ebd.). Auch Literaturpreise sind Amlinger problematisch, weil dort Jurys über Bücher urteilen, ohne dem „Anspruch einer demokratischen Repräsentation“ (S. 430) zu genügen. Unterdrückt werde so, was Amlinger geradezu groteskerweise, aber allen Ernstes „im Anschluss an die 1973 publizierte Schrift ‚Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus‘ von Habermas“ fordert: „eine Auseinandersetzung um den gesellschaftlichen Konsens im Literaturbetrieb“. (Ebd.) Der literarische Text als Kunstwerk mit objektiv bestimmbaren Eigenschaften bleibt dabei völlig ausgeblendet. Kunsturteile sind hier nur noch etwas, was Hegel in der Phänomenologie des Geistes das bloße Meinen kritisiert.26 Eine Sachdimension wird ihnen implizit geradezu abgesprochen. Bei Amlinger haben sie nur noch eine Sozialdimension.
Selbst Kant, der von einer Objektivität des Kunstwerks nichts wissen wollte und sogar erklärt hat, dass „es keine Wissenschaft des Schönen gibt noch geben kann“,27 hätte Amlingers mit dem Hinweis auf Jürgen Habermas ins Spiel gebrachten Gedanken zurückgewiesen, auch Kunsturteile bedürften einer demokratischen Partizipation und Legitimation. Geschmack, also der Sinn für Schönheit, ist für ihn „im Grunde ein Beurteilungsvermögen der Versinnlichung sittlicher Ideen“, nicht etwas, was „bloß für eines Jeden Privatgefühl“ für gültig erklärt werde (Ebd.) und so Gegenstand einer Abstimmung sein könnte. Im Übrigen findet eine Abstimmung über Kunstwerke nach Privatgefühlen durchaus statt, nämlich auf dem Kunstmarkt. Nur geschieht es dort nicht nach Kriterien, die künstlerische sind und leider auch in Amlingers „Soziologie literarischer Arbeit“ bedeutungslos bleiben.
Anmerkungen
1) Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hrsg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1970, S. 254.
2) Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (1790), § 15.
3) Ebd., § 42.
4) Ebd., § 17.
5) Vgl. Ebd., § 3.
6) Ebd., § 20.
7) Ebd., § 6.
8) Theodor W. Adorno: Ästhetik (1958/59). Hrsg. von Eberhard Ortland. Frankfurt/M. 2017, S. 320.
9) Ebd., S. 322.
10) In: Theodor W. Adorno. Stichworte. Kritische Modelle 2. Frankfurt/M. 1969, S. 151 ff.
11) Vgl. Emil Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode. Hrsg. und eingeleitet von René König. Frankfurt/M 1984, S. 105 ff.
12) Göttingen 2021. Dazu kritisch: Gunther Nickel: Nicht nur interesseloses Wohlgefallen. Moritz Baßler und Heinz Drügh erklären die Gegenwartsästhetik (https://gunther-nickel.jimdo.com/2021/08/17/nicht-nur-interesseloses-wohlgefallen-moritz-baßler-und-heinz-drügh-erklären-die-gegenwartsästhetik/).
13) Vgl. Theodor W. Adorno / Walter Benjamin: Briefwechsel 1928-1940. Hrsg. von Henri Lonitz. Frankfurt am Main 1994, S. 173.
14) Ebd., S. 173.
15) Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S. 335.
16) Adorno/Benjamin, Briefwechsel 1928-1940, op. cit. S. 173.
17) Theodor W. Adorno / Max Horkheimer: Briefwechsel, Band I: 1927-1937. Hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt am Main 2003, S. 131.
18) So der Untertitel von Theodor W. Adorno: Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt. Göttingen 1956.
19) Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1995, S. 215 ff.
20) Niklas Luhmann: Ist Kunst codierbar? In: Ders.: Aufsätze und Reden. Hrsg. von Oliver Jahraus. Stuttgart 2001, S. 159 ff., hier: S. 161.
21) Vgl. Hans Robert Jauß (Hrsg.): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. München 1968 (Poetik und Hermeneutik; 3).
22) Gerhard Plumpe und Niels Werber schlagen alternativ die Leitdifferenz „interessant“ versus „langweilig“ vor; vgl. Gerhard Plumpe / Niels Werber: Literatur ist codierbar. Aspekte einer systemtheoretischen Literaturwissenschaft. In: Siegfried J. Schmidt (Hrsg.): Systemtheorie und Literaturwissenschaft. Opladen 1993, S. 9 ff., hier: S. 22 ff.
23) Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, op. cit., S. 247
24) Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? Hrsg., neu übersetzt und mit einem Nachwort von Traugott König. Reinbek bei Hamburg 1981, S. 83.
25) Ebd., S. 114.
26) Vgl. G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes (1807). Hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main 1970, S. 82 ff.
27) Kant, Kritik der Urteilskraft, § 60.