1913 ist unter vielen, vielen anderem auch das Jahr, in dem Werner Stein geboren wurde. Werner Stein? Wer war das denn jetzt nochmal? Er ist der Erfinder der „synchronoptischen Geschichtsschreibung“, wie Florian Illies herausgefunden hat: „Sein Kulturfahrplan wird ab 1946 die ganze Menschheitsgeschichte durch Jahresquerschnitte zu gliedern versuchen.“ Genau das, „synchronoptische Geschichtsschreibung“, macht auch der Generation-Golf-Erfinder, Feuilletonist und inzwischen bei der Villa Grisebach für die Kunst des 19. Jahrhunderts zuständige Florian Illies in seinem neuen Buch 1913. Der Sommer des Jahrhunderts.
Illies erzählt, was in diesem Jahr alles los war, beginnend mit Louis Armstrong, der das neue Jahr mit einem Pistolenschuss begrüßt und später in einer Besserungsanstalt landet, wo er eine Trompete in die Hand gedrückt bekommt, und endend mit einem Tagebucheintrag Arthur Schnitzlers, der notiert: „Sehr nervös tagsüber“. Dazwischen treten auf: Schriftsteller wie Franz Kafka, Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Georg Trakl, Else Lasker-Schüler oder Robert Musil. Maler wie Franz Marc, Egon Schiele, Ernst Ludwig Kirchner, Picasso oder Oskar Kokoschka. Aber auch der Komponist Arnold Schönberg. Oder Sigmund Freud. Oder Adolf Hitler. Oder Stalin. Oder Asta Nielsen. Oder Alma Mahler. Und noch viele mehr.
Florian Illies geht es um „die ungeheure ungleichzeitige Gleichzeitigkeit, die dieses Jahr 1913 vor allem ausmacht“, und so arrangiert er sein Material nach den Monaten dieses Jahres geordnet, mit Einträgen, Anekdoten und kleinen Geschichten, die manchmal nur ein, zwei Zeilen ausmachen („Am 7. November wird Albert Camus geboren. Er wird später das Drama Die Besessenen schreiben.“), manchmal sich aber auch über mehrere Seiten erstrecken, etwa wenn er das Haus des Kunstschriftstellers Julius Meier-Graefe beschreibt, „ein Tempel der irritierenden Gleichzeitigkeit“.
Scheitelpunkt der Moderne
Ja, es ist ein Jahr, in dem Kunst und Kultur in höchster Blüte stehen, in dem es keine Atempausen gibt und es dauernd nach vorn geht (nur ein Marcel Proust will sich dauernd erinnern), ein Jahr des Fortschritts, ein Jahr, in dem die Moderne auf ihrem Scheitelpunkt steht – und ein Jahr, das von einem Katastrophenjahr abgelöst wird, von einem Jahr, in dem die Weichen der Welt ganz anders, ganz neu gestellt werden, Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, Kalter Krieg, das Ende der Geschichte, you name it. „Der Sommer des Jahrhunderts“ lautet der verräterische Untertitel dieses Buches. Aber gab es danach wirklich so gar keinen Sommer mehr, nur Herbst und Winter als Jahrhundertjahreszeiten? Florian Illies will auch einen Bogen schlagen in unsere Gegenwart: nicht explizit, aber seine Leitmotive sind doch verräterisch, die roten Fäden, die sich durch dieses Buch ziehen.
„Das nervöse Zeitalter“ hat viel von einer Blaupause der Jahre nach dem Jahrtausendwechsel unserer Gegenwart.
Nicht nur, dass der Kunst- und Fortschrittswahnsinn von damals durchaus Ähnlichkeiten mit heute aufweist, Stichwort heißlaufender Kunstmarkt, Stichwort digitaler Wandel. Nicht nur, dass Illies auch zwei Amokläufe nacherzählt – auch die Modekrankheit Neurasthenie, an der Kafka, Musil oder Schnitzler leiden, erinnert nicht von ungefähr an das modische Burnout-Syndrom von heute. „Das nervöse Zeitalter“, wie Kafka es nennt, hat viel von einer Blaupause der Jahre nach dem Jahrtausendwechsel unserer Gegenwart. Zudem wird 1913 viel experimentiert in Sachen Liebe und Sex, gibt es die buntesten Partnerschaften. Oder Beziehungen, die am besten aus der Ferne funktionieren, durch Briefe, wie bei Kafka. Oder wenn sie beendet sind oder erst bevorstehen, wie bei Rilke, dem obersten Liebesmöglichkeitsmenschen dieser Jahre. Sexuelle Befreiung? Patchworkfamilien? Gab es ein Jahr vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs schon alles. Und Konflikte zwischen Vätern und Söhnen, wie sie hier von Illies immer wieder aufbereitet werden, sei es etwa in der Person von Gottfried Benn, sei es in der von Picasso, die kennzeichnen natürlich auch dieses Jahr, so wie sie allerdings stets etwas Immergültiges, Nie-Abzuschaffendes haben.
Biografische Häppchen
Doch, es raunt des Öfteren durch dieses Buch, dass sich so viel nicht geändert hat, dass man sich im Jahr 2012 und im Jahr 2013 besser nicht zu sicher ist, dass eine Katastrophe nie auszuschließen ist, schon gar nicht nach langen Friedensperioden, so wie es vor 1914 eine über vierzig Jahre dauernde in der Mitte Europas gab. Das Schöne an Illies’ Buch ist, dass man das alles mitlesen kann, aber nicht muss – dass es natürlich unwahrscheinlich attraktiv ist, eine Vielzahl von biografischen Häppchen von Thomas Mann bis Alma Mahler, von Arthur Schnitzler über Heinrich Kühn bis zu Picasso und Matisse auf diese Art und Weise präsentiert zu bekommen. Dass man es überhaupt als Anregung verstehen darf, mal wieder einen Roman von Schnitzler zu lesen, ein Bild von Marc zu betrachten oder sich den ganzen Kafka oder den ganzen Proust mal wieder vorzunehmen.
Sexuelle Befreiung? Patchworkfamilien? Gab es ein Jahr vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs schon alles.
Florian Illies schreibt das alles ganz leicht und wie nebenbei auf, nie scheint ihm sein Stoff aus den Händen zu gleiten. Manchmal ist er ein bisschen altväterlich, etwa wenn er mit einem „Wir“ als Erzähler eingreift. Oder er im Fall des Dresdner Fotografen Heinrich Kühn den Leser mit „lieber Leser“ direkt anspricht. Und manchmal ist er betont modern und flapsig, wenn er ein „Wer-bin-ich-und-wenn-ja-wie-viele“ vor eine Aufzählung der Dix-Selbstporträts stellt oder „Life-work-Balance“ zum Zug kommt. Zugute kommt ihm und vor allem dem Leser, dass er zumeist im Präsens erzählt und so die Vergangenheit schön nah herangezoomt bekommt.
Illies versteht es, sich in seine Figuren hineinzufühlen (vieles stellt er sich eben so vor!, was bleibt ihm auch übrig?), und ein Schnupfen von Rilke, schöne weiße Dreiteiler oder die Zigarettenwerbung am Potsdamer Platz in Berlin kennzeichnen 1913 eben genauso wie Wittgensteins Tractatus Logico-Philosophicus oder Adolf Loos’ wunderbare Moderne-Verweigerung: „Fürchte nicht, unmodern gescholten zu werden. Veränderungen der alten Bauweise sind nur dann erlaubt, wenn sie eine Verbesserung bedeuten, sonst aber bleibe beim Alten. Denn die Wahrheit, und sei sie hunderte von Jahren alt, hat mit uns mehr Zusammenhang als die Lüge, die neben uns schreitet.“ Auch dies ein Satz für die Ewigkeit, der seine Gültigkeit wohl nie verlieren wird – in einem Buch, das nur dreihundert Seiten hat, aber ruhig hätte länger sein dürfen. Das Jahr 1913 hätte es mit Sicherheit hergegeben.