Die zweite Renaissance

Untersuchungen des Gehirns ergeben, dass den wichtigsten Einfluss auf die neuronalen Verschaltungen die Erfahrung hat. Die soziale Umgebung wirkt stärker auf das menschliche Verhalten als zuvor angenommen. Können wir die globalen Probleme durch ein anderes Denken, durch Änderung von Einstellungen und Haltungen in den Griff bekommen? Ein Gespräch zwischen dem Neurobiologen Gerald Hüther und dem Soziologen Mathias Greffrath, moderiert von Angela Grosse.

Online seit: 10. September 2019

ANGELA GROSSE Herr Greffrath, Sie schreiben, die Renaissance war eine Geburt, die 300 Jahre dauerte. Die europäische Moderne ist ihr Kind und befindet sich jetzt in einer Adoleszenzkrise. Bevor wir zur Krise kommen: Was bedeutet Renaissance für Sie?

MATHIAS GREFFRATH Da gibt es sehr verschiedene Definitionen. Was ich mit Renaissance meine, ist dieses lange Jahrhundert zwischen 14. und 16. Jahrhundert, jene Zeit, in der große Entdeckungen neue Aspekte der Welt und des Menschen sichtbar gemacht haben. „Sichtbar machen“ meine ich durchaus wörtlich. Kopernikus hatte schon hundert Jahre vor Galilei die Theorie entwickelt, dass die Erde um die Sonne kreist und nicht umgekehrt. Aber zu dem Wissen, welches das Weltbild auch durchgesetzt hat, kam es erst, als man das durch Galileis Fernrohr auch beobachten konnte.

Aber es wurden noch andere Sachen sichtbar gemacht: Denken wir an die Anfänge der modernen Medizin, wo Körper zum ersten Mal aufgeschnitten wurden und sich die Frage nach der Seele auf eine materialistisch-praktische Weise stellte. Neue Kontinente wurden entdeckt, das Wissen der Welt wurde durch den Buchdruck sichtbar und so weiter. Dieses ganze Konglomerat von wissenschaftlich-technischen Innovationen steht am Anfang unserer europäischen Renaissance. Renaissance deshalb, weil sowohl die Humanisten als auch Philosophen und Naturwissenschaftler auf älteres griechisches und auch arabisches Wissen zurückgriffen, das man teils neu entdeckte und teils kritisierte.

Die Geschlossenheit des christlichen Weltbildes des Mittelalters, welches das Individuum mit dem Kosmos in einer großen theologischen Konstruktion verband, war zerbrochen. Seitdem müssen sich die Menschen die Welt erklären und die Ordnung, in der sie miteinander leben, selbst herstellen. In den großen utopischen Schriften von Thomas Morus, Tommaso Campanella und Francis Bacon werden Gesellschaftskonstruktionen entwickelt, die Technik und humanistische Vernunft zusammenzubringen versuchen. Vieles, was darauf folgte – das Naturrecht, die ganzen Verfassungskonstruktionen, die Europa entwickelt hat –, hat sich aus diesen Utopien entwickelt und Kämpfe zwischen den Klassen produziert. Erst 300 Jahre danach, in der Französischen Revolution, ist das Kind dann endgültig geboren worden, da kam die Industrielle Revolution dazu. Das ist die Doppelhelix der Neuzeit. Die Probleme, die wir damit hatten und haben, kennen wir alle. Die technologische Krise, die Globalisierungskrise und letztlich auch die ökologische Krise sind das Erbe dieser Erfolgsgeschichte.

GROSSE Wie kommen wir da weiter? Wie entwickeln wir einen neuen Geist, der diese Krise bewältigt?

GERALD HÜTHER Im Zuge dieses Zeitalters der Vernunft haben wir gemerkt, wie gut wir mit Hilfe unseres nackten Verstands und mit Hilfe von wissenschaftlichen Methoden die Welt in ihren vielfältigen Formen entdecken können. Und dann haben wir natürlich zwangsläufig auch gestaltet, was wir entdeckt haben. Dabei sind die Wissenschaftsdisziplinen entstanden, am Ende auch die Biologie und nun sogar eine Wissenschaftsdisziplin, die sich mit dem Gehirn befasst. Das ist eine neue Situation. Wir stehen im Augenblick an einer Erkenntnisschwelle: Mit Hilfe der Wissenschaft kommen wir plötzlich dazu, uns zu fragen, wer wir eigentlich selbst sind. Warum denken wir so, wie wir denken? Was bringt uns dazu, dass wir bestimmte Ziele verfolgen und andere nicht?

Wir scheinen jetzt in eine Phase hineinzukommen, gesamtgesellschaftlich, die gekennzeichnet ist durch die Notwendigkeit von Fragen an uns selbst. Wir merken, dass wir Dinge angerichtet haben, die wir eigentlich nicht wollten. Kein Mensch hat absichtlich diese Klimakatastrophe herbeigeführt. Jetzt aber können wir mit Hilfe der Neurobiologie anfangen zu verstehen, warum Menschen so denken und so handeln und so fühlen, wie sie das tun. Es könnte sein, dass wir nun Potenziale entdecken, die wir bisher gar nicht entfalten konnten. Und dann wird sich unsere Gesellschaft von einer Ressourcennutzergesellschaft in eine Entwicklungsgesellschaft verwandeln. Das ist für mich die große Wende, die wir im Augenblick beobachten. Die Wirtschaft etwa begreift plötzlich, dass sie nicht immer nur die Ressourcen, beispielsweise die Mitarbeiter, ausnutzen kann, sondern dass sie daran gehen muss, vor allem wenn Mitarbeiter älter werden oder wenn junge Mitarbeiter ins Unternehmen kommen, deren Potenziale zu entwickeln. In der Schule kann es nicht länger dahin gehen, dass man die Kinder in der vierten Klasse in gut und schlecht auseinander dividiert und dann die einen in die Hauptschule schickt, die anderen aufs Gymnasium. Das ist ressourcenorientiertes Handeln.

Was wir brauchen, ist potenzialorientiertes Handeln: Wir müssten fragen, was in denen drinsteckt. Oder in der Medizin: Wir lassen die Leute krank werden, weil sie möglicherweise wesentliche Grundbedürfnisse, die sie haben, in dieser Gesellschaft nicht stillen können. Und dann kümmern wir uns um die Reparatur. Wer weiß, was aus uns werden könnte, wenn wir in der Lage wären, ein Leben zu führen, das tatsächlich unsere Bedürfnisse erfüllt. Und nicht eins, wo wir als Objekte die Bedürfnisse der Wirtschaft oder eines bestimmten politischen Systems befriedigen.

GROSSE Ich würde diese Frage gerne an Herrn Greffrath zurückspielen. Stehen wir denn wirklich an einer kopernikanischen Wende in Bezug auf den inneren Kontinent?

GREFFRATH Kopernikanisch ist richtig. Und zwar genauso, wie ich es vorhin gemeint habe. Wir befinden uns in einer ungeheuer spannenden Zwischenzeit. Die Humanisten sagten, es ist eine Lust zu leben. Die Zeiten, in denen man so was sagt, sind nicht unbedingt immer die einfachsten, aber auf jeden Fall sicher die spannendsten. Es gibt neben der Neurobiologie noch eine andere Wissenschaft, die in unseren Tagen entstanden ist: die Biosystemforschung. Beide zusammen stellen sie im Grunde die modernsten Versionen dessen dar, was mit dem Ende des geschlossenen Weltbildes des späten Mittelalters entstanden ist – die Naturwissenschaft und die Anthropologie. Angetrieben sind beide von der Frage: Wer sind wir? Die war über Jahrhunderte den Philosophen überlassen, dann kamen die Psychologen, und jetzt sind die Gehirnforscher dran.

Wenn man eine innovative Lösung braucht, muss man loslassen und versuchen, seine gesamten Ressourcen in Form von Erfahrungen gleichzeitig so zu aktivieren, dass die sich auf eine neue Weise miteinander verbinden.

In der Klimaforschung oder Biosystemforschung schließen sich zum ersten Mal verschiedene Teilwissenschaften – Physik, Chemie, Biologie, Atmosphärenforschung etc. – zusammen und es wird zunächst mal modellartig die ganze Welt gedacht. Das Resultat ist, ich zitiere Hans Joachim Schellnhuber, der Angela Merkel berät, wenn das weitergehen soll mit dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur, was wir nicht aufgeben wollen, müssen wir die gesamte Weltgesellschaft umbauen. Das sagt ein positi-vistischer Wissenschaftler mal einfach locker so, mit der ganzen Autorität des computergenerierten Wissens, das er hat. Und das heißt ja nicht nur, dass wir Autos umbauen und Wohnungen dämmen müssen, sondern vor uns liegt der Übergang in eine völlig neue Epoche, weil die Probleme, in die wir uns gebracht haben, das Resultat dieser Erfolgsgeschichte sind. Und die hat nicht vor 500 Jahren angefangen, sondern erst vor 150 Jahren, als wir nämlich unser geballtes technisches und wissenschaftliches Wissen mit Kohle und später dann Öl unterfüttert haben. Damit ist Schluss in diesem Jahrhundert.

GROSSE Professor Schellnhuber redet ja von einem Manhattan-Projekt. Er hat sich auf einer Konferenz mal dahin verstiegen zu sagen, wir sollten doch keine Angst haben, schließlich hätten wir nach dem 2. Weltkrieg auch schon mal bewiesen, dass wir es könnten.

GREFFRATH Das ist ein bisschen macho, aber ich würde sagen, er hat Recht. In diesen 150 Jahren des modernen Industriekapitalismus sind natürlich Werkzeuge entwickelt worden, die nicht unbedingt darauf angewiesen sind, fossil betrieben zu werden. Und jetzt rede ich nur von der technischen Seite der Sache. Dass das auch andere Mentalitäten erfordern wird, ist die zweite Frage. Die interessanten moralischen Fragen, die schwierigen politischen Kämpfe, die Spannung zwischen dem rational begründeten Menschenrecht und dem ebenso rational begründeten Recht auf Eigentum: Diese ganzen Kämpfe könnten jetzt alle wieder in einer furchtbaren Form ausbrechen.

Ein Beispiel: Immanuel Kant, auf den wir so stolz sind, hat gesagt, aus vernünftigen Gründen müssten wir eigentlich sagen, jeder Mensch hat das Gemeineigentum an der Erde. Starker Satz, der jetzt wiederkommt, weil Frau Merkel sagt, im Laufe des Jahrhunderts soll jeder Erdenbürger hinsichtlich des CO2-Ausstoßes dasselbe Recht auf Umweltverschmutzung haben wie alle anderen. Rational ist das ungeheuer klar, aber wie soll man das umsetzen? Ich wünsch mir keinen rational-vernunftrechtlich argumentierenden Menschenrechtler in Afrika, der zwei Milliarden Menschen mit diesem Gedanken heiß macht. Wir werden andere Methoden finden müssen. Da kommt vielleicht die Wissenschaft, die mit der Empathie zu tun hat, mit der Einfühlung, mit dem Kommunizieren, stärker ins Blickfeld.

GROSSE Hat der Mensch überhaupt die Ressourcen, um dies zu leisten? Was sagt der Neurobiologe dazu?

HÜTHER Die Ressourcen hat er und er hat vor allem bisher noch nicht entfaltete Potenziale. Wir müssen „Wissen“ konkretisieren, damit das alles anschaulich wird: Das betrifft nicht zuletzt die Frage, welche Bedingungen Menschen brauchen, um ihre kreativen Potenziale tatsächlich zu entfalten. Die Hirnforscher können zeigen, wie die Rahmenbedingungen beschaffen sein müssen, damit Menschen kreativ sein können. Das ist ein wunderbar einfaches Experiment: Man hat Männer in Computertomographen gesteckt und ihnen eine Situation auferlegt, wo man sagen kann, jetzt ist ein Mann mal ganz typisch mit einer festen Vorstellung unterwegs. Das macht man, indem man Männer Auto fahren lässt. Am besten virtuell.

GREFFRATH Wieso gerade Männer?

HÜTHER Männer neigen sehr viel schneller als Frauen dazu, sich an bestimmten Vorstellungen festzuhalten. Das lässt sich gut zeigen, mit Hilfe bildgebender Verfahren, der sogenannten funktionellen Kernspintomographie. Dazu wird ein Mann in den CT reingelegt, kriegt eine Videobrille aufgesetzt, einen Joystick in die Hand und fährt virtuell sein Auto über den Nürburgring. Die Aufgabe heißt – so wie das ja auch in der Wirtschaft von jeder Führungskraft verlangt wird –, dieses Auto möglichst schnell zu diesem Ziel zu bringen, ohne Unfall und möglichst effizient. Dabei wird das Hirn gescannt und beobachtet, was da alles aktiv ist. Zwei kleine Stellen da oben flackern. Damit können Sie noch nicht viel anfangen, wenn Sie nicht das Vergleichsexperiment machen: den Mann noch mal in die Röhre stecken und ihm diesmal sagen, du bekommst wieder die Videobrille auf, Joystick in die Hand, aber jetzt fährt Michael Schuhmacher selbst und du bist der Beifahrer. Und wenn er von der Vorstellung, dass er das Auto ganz schnell ans Ziel fahren muss, befreit ist, scannen Sie wieder das Hirn und sehen das große Wunder. Jetzt geht das Hirn erst an. Nicht im Modus, wo man glaubt, genau zu wissen, was man zu tun hat, um möglichst effizient ein Ziel zu erreichen, benutzt man sehr viel Hirn, sondern in diesem anderen Modus, wo man von dieser Vorstellung loslassen kann. Wo man noch etwas anderes als Straße sehen kann, wo man vielleicht noch riechen und wahrnehmen kann, was es noch so alles wahrzunehmen gibt, wo Erinnerungen hochkommen. Erst dann ist das ganze Hirn aktiv.

Dieser Zustand ist die Voraussetzung dafür, dass Sie Dinge plötzlich miteinander in Verbindung bringen können. Wenn man eine innovative Lösung braucht, muss man loslassen, und dann muss man versuchen, seine gesamten Ressourcen in Form von Erfahrungen gleichzeitig so zu aktivieren, dass die sich auf eine neue Weise miteinander verbinden. Das weiß im Prinzip jeder, dazu hätte man nicht die Hirnforschung gebraucht. Wenn Sie die großen Entdecker des letzten Jahrhunderts fragen, wann sie ihren entscheidenden Geistesfunken gehabt haben, stellen Sie fest, dass es niemals im Büro am Schreibtisch passiert. Niemals. Die Forderung, die man daraus ableitet, heißt jedoch nicht: entweder das eine oder das andere. Wenn wir nicht ab und zu in der Lage wären, blind und mit Scheuklappen ein bestimmtes Ziel zu verfolgen, würden wir nichts hinkriegen.

GREFFRATH Ich habe zwei Fragen. Die eine ist: Im Grunde entdecken wir mit bildgebenden Verfahren etwas, was wir eigentlich schon immer wussten. Wirkt dieses Wissen wirklich einzig und allein deshalb stärker, weil wir es mit so genannten objektiven Methoden gewonnen haben? Und die andere Frage: Wir müssen in dieser komplexer gewordenen Gesellschaft, wenn wir nicht gegen die Wand fahren wollen, diese Geistesanlagen verallgemeinern. Hilft uns die neurobiologische Erkenntnis dabei, oder sind wir da nicht relativ schnell im Bereich der sozialen Auseinandersetzung – Schulformen, Betriebshierarchien, oder sonst was?

HÜTHER Die erste ist schnell zu beantworten: Es hat einfach eine hohe Überzeugungskraft für Menschen, wenn man etwas sichtbar machen kann. Auch innerhalb der Neurobiologie ist der richtige Durchbruch erst mit den bildgebenden Verfahren gekommen. Natürlich haben die Neurowissenschaften schon zehn Jahre vorher den einen oder anderen Befund und auch diese Theorien schon parat gehabt, aber es brauchte die Sichtbarmachung.

Wenn man etwas als naturwissenschaftlich fassbares und objektivierbares Phänomen erklärt, können die Menschen das leichter annehmen, jedenfalls bestimmte Gruppen von Menschen.

Der zweite Punkt betrifft die Frage, wie weit Menschen in der Lage sind, so genannte Metakompetenzen zu entwickeln. Sicherlich ist es richtig, dass jemand nur dann in einem höheren Sinne kreativ sein kann, wenn er diese Metakompetenzen besitzt. Es gibt aber auch viele, die diese Metakompetenzen nicht besitzen. Die haben ein Problem, das sich durch mehr Unterricht nicht beheben lässt. Man kann Metakompetenzen nämlich nicht unterrichten. Das sind so genannte Frontalhirnfunktionen. Die präfrontale Rinde differenziert sich so, dass während der Kindheit ein riesiges Überangebot an Verschaltungsoptionen und Vernetzungsmöglichkeiten von den genetischen Programmen bereitgestellt wird, und dann wartet das Gehirn, was man davon gebrauchen kann. Es hängt dann von den Gelegenheiten ab, die Kinder haben, bestimmte Erfahrungen zu machen, ob bestimmte Netzwerke stabilisiert werden oder nicht. Die so genannten Metakompetenzen, die in dieser präfrontalen Rinde verankert werden, sind unglaublich spannend. Damit hat sich die Gesellschaft bisher im Bildungssystem wenig befasst, eben weil man sie nicht unterrichten kann. Ich nenne mal ein paar: zum Beispiel ein Selbstwirksamkeitskonzept, also die tiefe innere Überzeugung, dass Sie jemand sind, der etwas bewirken kann. Wenn Sie das nicht hätten, wäre es sehr schwierig für Sie, sich in der Welt zurechtzufinden. Andere Beispiele: Frustrationstoleranz, Impulskontrolle, Handlungsplanung, die Fähigkeit, die Folgen von Handlungen abzuschätzen, intrinsische Motivation. All das, was wir als innere Haltungen oder Einstellungen oder Überzeugungen bezeichnen, ist ganz entscheidend dafür, wie man Situationen bewertet und wie man handelt, wie man den ganzen Rest des Hirns benutzt. Das wird alles in dieser präfrontalen Rinde verankert, all das sind Metakompetenzen und keine davon kann man unterrichten. Wir hätten etwa gerne, dass die Schüler mehr Disziplin an den Tag legen. Im alten Denken fällt uns nichts anderes ein, als dass wir mehr Disziplinierungsmaßnahmen einführen, wir bestrafen viel schneller. Wir sorgen dafür, dass das entsteht, was wir für Disziplin halten. Neurobiologisch ist das, was da entsteht, keine Disziplin. Auch psychologisch nicht. Was da entsteht, ist nur Gehorsam. Das ist Dressur. Diese Art von „Disziplin“, die eigentlich nur Gehorsam ist, macht erforderlich, dass der Dompteur die ganze Zeit dabeisteht. Wenn der weg ist, ist wieder Schluss damit.

Der kapitalistische Welteroberer und der Schnäppchenjäger sind in einem fatalen Verhältnis aufeinander angewiesen.

GROSSE Das heißt, das Kind lernt auch keine Eigensteuerung?

HÜTHER Auf der Ebene der Metakompetenzen würde es heißen, dass man einem Kind die Gelegenheit bieten muss, den Nutzen von Disziplin zu erfahren, damit es sich das aneignet, was wirklich Disziplin ist. Was wir brauchen, ist so etwas wie Selbstregulation, Selbststeuerung oder Selbstdisziplin. Das geht nicht mehr mit der alten Abrichtungstour, die wir jetzt seit Jahrhunderten hinter uns haben. Jetzt muss man den Kindern Gelegenheit geben, Aufgaben zu übernehmen, die sie auch gern und hoch motiviert erfüllen möchten.

GREFFRATH Das erinnert mich an einen Aufsatz von Hans Magnus Enzensberger, der hieß „Plädoyer für den Hauslehrer“ und fing ungefähr so an: „Morgens um 7.00 Uhr sitzt Fräulein Soundso in ihrem Volvo und holt Fritzchen und Lisa ab, und sie fahren zu dem heutigen Gastgeber, das ist der 6-jährige Max, da sind die anderen vier auch schon. Also sieben Kinder insgesamt, dann setzen sie sich erstmal hin, machen Frühstück und redigieren die Fehler aus der Bild-Zeitung raus.“ Aus diesem Anfang hat Enzensberger Stufe für Stufe ein Bildungssystem entwickelt. Ein anderer Mensch hat mir mal gesagt, die ideale Schule wäre eigentlich, dass eine ganz kleine Gruppe die ersten sieben Jahre denselben Lehrer hat. Diese Gedanken gibt es ja schon lange. Was ich im Augenblick sehe, ist aber schlimmer: In zahlreichen Diskussionen wird argumentiert, dass wir die kreativen Potenziale entfalten müssen, weil diese eine Vorbedingung für Leistungsfähigkeit im Dienste des Standorts sind. Man liest oft, wenn die Kinder Geige spielen können, dann sind sie auch besser in Mathematik. Meine Frage wäre: Haben die Wissenschaftler Methoden, ihre Erkenntnisse so zu immunisieren, dass sie für solche perversen Strategien nicht mehr brauchbar sind?

GROSSE Das würde auch die Frage nach den Grundbedürfnissen betreffen, denn dann weiß man erst, was man immunisieren kann. Was sind klassische, weltumspannende Bedürfnisse aus der Sicht eines Neurobiologen?

HÜTHER Es gibt nur zwei. Die sind ganz banal, die kennt auch jeder. Wie das bei der neurobiologischen Forschung überhaupt so ist: Wenn man genauer hinguckt, kommt immer nur das raus, was man sowieso schon in seinem Herzen geahnt hat. Die genetischen Programme des Menschen, die dafür bestimmt sind, so ein hochkomplexes Gehirn wie das menschliche herzustellen oder zu lenken und zu steuern, haben auf eine ganz neue Karte gesetzt. Diese lautet: Wir produzieren einfach viel mehr, als wir am Ende brauchen. Das ist großartig. Das menschliche Genom erzeugt ein Hirn, das zunächst erstmal ein Drittel mehr Nervenzellen enthält, als am Ende gebraucht werden, weil die genetischen Programme nicht wissen, was das für ein Kind wird und wie viel da nötig ist. Das eine Drittel wird aber schon vor der Geburt wieder weggeräumt. Dann stellen die genetischen Programme riesige Überschüsse an Verschaltungsmöglichkeiten her, und dann muss man als Kind eine Erfahrung machen: zum Beispiel, dass man irgendwas bewirkt hat, damit dieses Muster stabilisiert werden kann. Alles, was nicht stabilisiert werden kann, verschwindet. Bei den Contergangeschädigten kann man das am besten zeigen: Da ist natürlich im Hirn eine riesige Anlage dafür da, die gerne Input von den Armen bekommen möchte, aber wenn kein Arm da ist, kommt da auch kein Input an. Ergebnis davon ist, dass dieses ganze riesige Angebot in sich zusammenfällt oder – so geschickt ist das dann angelegt – für das Bein mitbenutzt wird. Sodass das Bein sozusagen ein viel, viel größeres Netzwerk zu seiner Steuerung aufbauen kann.

Es gibt zwei Grunderfahrungen, die jeder Mensch unvermeidlich machen muss. Erstens: Ich bin über eine lange Zeit und die entscheidende Phase meiner Entwicklung verbunden gewesen mit einem anderen Menschen. Diese Erfahrung bildet sich im Hirn als Netzwerk aus; Kinder kommen mit der Erwartungshaltung auf die Welt, dass sie jetzt auch jemanden finden, der mit ihnen eine Beziehung eingeht. Und das zweite gehört genauso dazu: Weil wir im Mutterleib jeden Tag hirntechnisch ein Stück über uns hinausgewachsen sind, kommen wir mit der Erwartungshaltung zur Welt, dass man auch draußen weiter wachsen kann. Über sich hinauswachsen, autonom werden, frei werden ist das eine. Das fassen wir in der Psychologie unter Autonomiebedürfnis zusammen. Das andere ist das Bedürfnis nach Verbundenheit, Wertschätzung, Anerkennung, Zugehörigkeit – das Bindungsbedürfnis. Zwischen diesen beiden Polen, Autonomie und Bindung, spielt sich unser ganzes Leben ab.

GROSSE Was unterscheidet dann eigentlich Tier und Mensch, oder Menschenaffe und Mensch?

HÜTHER Unser Lernpotenzial übersteigt das eines Affen um ein Vielfaches. Es ist formbarer, dadurch aber auch abhängiger davon, was wir dem Kind an Möglichkeiten bieten. Der Affe hat es eigentlich gut. Der kann nicht verbogen werden.

GREFFRATH Aber was uns noch von Tieren unterscheidet, ist eben, dass wir keine Horden mehr sind, sondern Gesellschaften. Deshalb mussten wir all diese Dinge wie Religion und so weiter entwickeln, um uns nicht gegenseitig totzuschlagen. Da geht es ja im Wesentlichen um, wenngleich auch emotional gestützte, rationale Einsichten. Der kategorische Imperativ oder die zehn Gebote sind kulturelle Errungenschaften, die in unseren Gehirnen durch Sozialisation verankert werden, damit der Laden läuft. Der kognitive Anteil ist beim Menschen viel höher, weil wir uns aufgrund unserer Mängelausstattung der Welt gegenüber anders verhalten müssen als Affenhorden.

HÜTHER Also ich glaube nicht, dass der kognitive Anteil eine solche Bedeutung besitzt. Diese Zugehörigkeit, die man als Menschenwesen im Laufe seiner Entwicklung lernt, hat nichts mit Kognition zu tun; das sind emotionale Erfahrungen. Bedürfnisse haben nichts mit Kognition zu tun, sondern kommen ja aus einem selbst heraus, aus eigenen Erfahrungen, die unsere Erwartungen bestimmen.

GREFFRATH Das meine ich nicht. Wir haben doch im Augenblick eine Situation, die auch die Philosophen eine Zeit lang beschäftigte, dass das, was wir hier erleben, beispielsweise etwas zu tun hat mit der Wirtschaft in China, dass also so etwas wie globale Solidarität, globales Denken, früher hieß es „Fernstenliebe“ nötig wird. Da müssen sich auf eine höchst komplexe Weise Gefühle, die im Umgang mit dem Nächsten entstehen, in eine kognitive Ebene hinein erweitern. Das krieg ich doch nicht in mein limbisches System, dass ich den Chinesen lieben soll oder den nicht totschlage, der meinen Arbeitsplatz wegnimmt.

HÜTHER Im Grunde ist diese Trennung zwischen dem Kognitiven und dem Emotionalen ein Artefakt. Da hat sich eine Gesellschaft während einer gewissen Zeitspanne ihrer Entwicklung, speziell seit der Aufklärung, der Illusion hingegeben, dass das Denken vom Fühlen zu trennen sei. Nicht mal das Handeln und das Fühlen sind zu trennen. Das Hirn ist ja nicht dazu da, zu Denken, sondern dafür zu sorgen, dass der Körper in seinem Gleichgewicht bleibt. Primär ist das Hirn ein Organ für die Regulation zweier Grundaufgaben: am Leben zu bleiben und Reproduktion zu betreiben. Deshalb macht das Hirn immer nur dann eine Erfahrung, wenn sich im Zustand des Körpers etwas verschiebt. Erfahrung zeichnet sich dadurch aus, dass etwas unter die Haut geht. Das zwingt einen zum Handeln. Die einfachste Handlung ist hirntechnisch eine Reaktion. Wenn ich die Luft anhalte, kommt es in meinem Hirnstamm zu einer Verschiebung. Auch mein körperlicher Zustand verschiebt sich, weil ich jetzt keinen Sauerstoff mehr aufnehme, CO2 steigt an. Der Hirnstamm aktiviert jetzt mein Atmungszentrum und ich hole Luft. An diesem Umstand, dass ich jetzt wieder Luft kriege, hängt auch ein Gefühl. Der Körper meldet: „Super, das hast du gut hingekriegt“. So hängt an jeder Handlung, jedem Vorhaben immer auch ein Gefühl. Ich kann nicht handeln, ohne dass ich feststelle, dass es zu dem geführt hat, was ich wollte.

GREFFRATH Dass Erfahrung unter die Haut gehen muss, heißt: Eine Welt, die von einem merkwürdigen Konglomerat aus politischen und wirtschaftlichen Eliten gestaltet wird, wird sich erst ändern, wenn diese Eliten Erfahrungen machen, die so tief gehen, dass es sie in ihrer eigenen körperlichen und seelischen Existenz trifft. Das stimmt mich nicht sonderlich optimistisch, um es mal vorsichtig zu sagen. Gesellschaftlich werden Erkenntnisse offenbar nur relevant, wenn sich Gruppen von Menschen bilden und sich in Auseinandersetzungen mit diesen Strukturen, die solche Erfahrungen verhindern, zusammentun und dranbleiben. Das ist ein Modell des sozialen Wandels, das man an der ersten Renaissance studieren konnte. Das heißt ja nicht, dass man eine Gesellschaft abschneidet und dann wird eine neue gebaut, sondern innerhalb der alten Gesellschaft entstehen lauter kleine Inseln. In der Renaissance waren das autonome Städte oder Experimentatoren an der Universität. Die haben ihren Kram gemacht, haben sich verteidigt, wenn man sie niedermachen wollte, und da wuchs dann über Jahrhunderte etwas zusammen. Die politischen Revolutionen stehen ja immer erst am Ende solcher Prozesse. Die Frage ist, ob wir heute soviel Zeit haben, um diese Inseln der emotionalen Vernunft und darüber hinaus zu bauen und zu sehen, das wird sich schon irgendwann ändern. Ob man auf diesen neurobiologisch-pädagogischen Erwägungen eine Emanzipationsstrategie aufbauen kann.

HÜTHER Ich versuch es noch mal auf den Punkt zu bringen: Die erste Renaissance war eine, die in sich selbst die Gefahr trug und dann auch dazu geführt hat, dass Menschen in Fremdbestimmung geraten sind, in Machtstrukturen. Möglicherweise hatten sie das nicht vor, aber es ist passiert. Wir wachsen in einer Welt auf, wo wir sehr stark durch die Möglichkeiten bestimmt werden, die von außen vorgegeben sind. Es sind Machtstrukturen entstanden, politische und wirtschaftliche Eliten, die Macht an sich gerissen und über uns bestimmt haben. Und jetzt wäre die Perspektive, die sich am Horizont abzeichnet: Wir werden eingeladen, auch von den Neurobiologen, aus dieser Fremdbestimmung hinüber zu kommen in die Selbstentwicklung.

Da passt das hundertprozentig, dass es schon immer solche kleinen Versuchsinseln gegeben hat. Es würde weiter zwangsläufig dazugehören, dass etwas stattfindet, was man lange Zeit auch nicht gekannt hat, und was jetzt immer deutlicher wird, nämlich dass diejenigen, die sich emanzipiert haben, die in diesen Selbstentwicklungsprozess gegangen sind und zu mündigen, verantwortungsbewussten Bürgern geworden sind, sich gar nicht mehr führen lassen. Als der Ostblock in sich zusammengefallen ist, hatte sich plötzlich, so komisch das klingen mag, etwas ereignet, was möglicherweise das Modell der künftigen Entwicklungen ist: Den Machthabern ist einfach das Volk davon gelaufen. Die haben immer noch gewollt da oben, aber die Zügel waren ihnen abhanden gekommen. Die Untergebenen laufen plötzlich weg. Macht ergibt keinen Sinn mehr, wenn selbstbestimmte Leute am Werk sind. Dass das ein langsamer Prozess ist: gerne zugegeben. Nur es ist der einzige, der funktioniert. Alles andere führt dazu, dass man wieder Druck machen muss, um einen gewünschten Prozess voranzubringen. Man kann aber Entwicklungsprozesse nicht beschleunigen.

Ich würde mir wünschen, dass die Universitäten diese Weltbildfunktion wieder stärker entwickeln könnten, anstatt nur Spezialisten für dies und jenes auszubilden.

GREFFRATH Kant hat gesagt, zum Gewissen gehören drei Sachen. Die ersten beiden sind aufs Individuum und auf die Gruppe bezogen, und dazu muss ein Drittes kommen, ein Interesse am Weltbesten, auch wenn es nicht im eigenen Interesse liegt. An der Stelle ist ein Lernschritt erforderlich, für den unsere Gehirne nicht ausreichen. Da muss Wissen oder was auch immer dazukommen.

Man kann aber auch sagen, dass die Gesellschaft mit ihren Werten, die ja auch emotional getragen werden, immer schon in uns drinnen ist. Jeder einzelne kann nur so gut sein, wie seine Umgebung ihn gemacht hat. An der Stelle wird die Welterklärungsfunktion der Wissenschaft auf einmal sehr viel wichtiger als das, was sie an praktischem Nutzen verspricht. Sie erklärt uns, wer wir sind und schiebt uns aber auch, und zwar jedem einzelnen, eine ungeheure Verantwortung zu.

Ich würde mir wünschen, dass die Universitäten diese Weltbildfunktion wieder stärker entwickeln könnten, anstatt nur Spezialisten für dies und jenes auszubilden. Da braucht das Weiche des Überzeugens, des Verführens und des Einladens gelegentlich doch die Härte des politischen Kampfes und die Gruppenbewegung.

HÜTHER Das ist ein gutes Stichwort, um die Frage noch mal von der anderen Seite anzufassen: Muss da erst Not entstehen, damit man zur Einsicht kommt? Und da könnte ich auch so argumentieren, wie Herr Greffrath das im Augenblick macht. Ich mach es nicht. Ich hab immer die Befürchtung, dass das Gehirn in dem Augenblick, in dem es unter Druck kommt, die schönsten Lösungen nicht findet. Kinder sind von sich aus Weltentdecker, die muss keiner dazu erziehen. Kinder bringen auch von Anfang an diese soziale Verantwortung mit auf die Welt. Wer jemals mit kleinen Kindern gearbeitet hat, begreift, wie die bereit sind, ihr Leben herzugeben, damit das soziale Beziehungsgefüge, in dem sie unterwegs sind, zusammenwachsen kann.

GROSSE Können wir darauf bauen, dass alle Menschen dieser Erde mit dem Wunsch auf die Welt kommen, friedlich miteinander zu leben? Welche Macht ist es denn dann, die verhindert, dass sie das tun?

HÜTHER Das ist die Kultur: eine gestörte Beziehungskultur. Bei Kain und Abel geht es schon los. Wenn es nicht gelingt, dass man die beiden Sehnsüchte, das Wachsen und das Dazugehören, stillen kann, als Kind und als Erwachsener, dann läuft man mit einem Mangel herum. Das ist hirntechnisch eine Katastrophe, denn das ist Stress. Wenn man nun Mangel leidet und das Stress bedeutet, muss man eine Lösung finden – Ersatzbefriedigungen, Machtaneignung, Gewalt. Das gesamte Feld der Ersatzbefriedigungen entsteht erst dort, wo Menschen unter Bedingungen aufwachsen und leben müssen, die es ihnen nicht ermöglichen, ihre beiden Grundbedürfnisse nicht unter einen Hut bringen.

GREFFRATH Das war ja auch das Versprechen der Moderne: Wir schaffen die Lebensnot ab und dann werden die Menschen gut und friedlich. So einfach ist es aber offenbar nicht. Meine Frage ist: Woher kommt die Anziehungskraft falscher Lösungen? Bis zur Renaissance wurden sowohl viele Ängste der Menschen als auch viele falsche Strukturen mit dem Jenseits begründet. Die Erde ist ein Jammertal, aber irgendwie macht doch alles Sinn, weil es die gottgegebene Ordnung ist und alle, die hier und jetzt zu kurz kommen, dereinst das ewige Leben finden. Das haben wir kaputt gemacht mit der Wissenschaft. Dann hat aber die Moderne zwei Mechanismen entwickelt, um diesen Verlust der Gewissheit der Verbundenheit mit dem Leben zu kompensieren, was ja auch noch neurophysiologische Grundlagen hat, weil das Gehirn sich seinen Tod nicht vorstellen kann. Es kann ihn wissen, aber es kann ihn sich nicht wirklich vorstellen.

Das eine ist der faustische Trieb, also entdecken, erobern, die ganze Welt sehen, bis hin zu den faustischen Trieben jener Leute heute, die uns mit vollem Ernst sagen, wir werden vielleicht nicht die Unsterblichkeit erreichen, aber 250 Jahre sind irgendwie auch drin. Und die Trivialvariante davon ist der Konsumismus. Diese beiden, sozusagen der kapitalistische Welteroberer und der Schnäppchenjäger, sind in einem fatalen Verhältnis aufeinander angewiesen. Dieser ganze Apparat ermöglicht es der Zivilisation, die Tatsache des eigenen Endes nicht denken zu müssen und deshalb vielleicht auch das mögliche Ende des Ganzen nicht denken zu können.

GROSSE Verstellt der Blick auf den Tod die Erkenntnis der Gegenwart?

HÜTHER Ich glaube, dass diese Frage nach dem Tod nicht so eine riesige Rolle spielt in einer Welt, in der man sich geliebt weiß. Man betont auch das Phänomen des Todes und die Angst vor dem Tod umso stärker, je weniger man in dieser Welt Halt findet.

GROSSE Wenn das unser Grundbedürfnis ist, warum leben wir es dann nicht? Was hindert uns daran, eine Kultur zu schaffen, die dem entspricht?

HÜTHER Ich bin viel bei Pädagogen unterwegs und ich frag sie dann: „Wer ist denn Ihr Chef?“ Und dann sagen die, das ist die Dienstbehörde da oben. Dann sage ich, könnten Sie noch mal kurz nachdenken, wer Ihr Chef ist, für wen Sie eigentlich arbeiten? Hier, Ihre Klasse, Ihre Kinder. Das sind Ihre eigentlichen Dienstherren. Sie müssten ein Coach sein, der Ihren Kindern bei ihrer Potenzialentfaltung behilflich ist. Supportive Leadership heißt das. Wissen Sie, was die dann antworten? „Dann würde ich mich ja mit meinen Schülern verbinden.“ Und das empfinden sie als Schwäche, weil die ein vollkommen verdrehtes Weltbild im Kopf haben. Nicht alle, aber offenbar eine ganze Menge. Damit die Gesellschaft überhaupt mit diesen Ängsten umgehen kann, schafft sie sich solche wunderbaren hierarchischen Strukturen. Deutschland, nebenbei gesagt, muss ein besonderes Problem mit der Angst haben, weil es die schönsten hierarchischen und die perfektionistischsten Strukturen entwickelt hat. Perfektionismus und genaue Planbarkeit sind gute Mittel, um mit Angst fertig zu werden. Die Leute haben Angst. Angst, plötzlich anders zu sein, Angst, plötzlich ausgeschieden zu werden aus einem Becken Gleichgesinnter, die alle auf dem falschen Weg sind.

Wir brauchen die Wissenschaft, um Menschen zu helfen, dass sie nicht Opfer ihrer Erfahrungen werden, sondern Gestalter ihres Erfahrungsschatzes. Das ist der Schatz, den jeder Mensch in sich trägt, das ist nur ihm zugestoßen. Nur er hat diese Erfahrungen machen können. Auch die ganzen Probleme, die dabei waren. Es gibt dieses wunderbare Bild, das wir aus der frühkindlichen Entwicklung kennen: Die primären Erfahrungen, die jeder Mensch macht, sind am eigenen Leib und eigenen Körper gemachte Erfahrungen. Daraus erwächst das, was die Entwicklungspsychologen das wahre Selbst nennen. Und dieses wahre Selbst ist das, was jedes Kind als Kern mit in die Welt nimmt. Dann kommt die Sprache und dann lernt man von anderen und übernimmt deren Erfahrungen. Und vieles übernimmt man dann eben, was einem eigentlich gar nicht passt. Zum Beispiel, dass man ruhig sitzen soll, obwohl man eigentlich vom Körper her das Bedürfnis hat, zumindest wenn man in der ersten Schulklasse ist, nach zwei, spätestens drei Stunden sich mal zu bewegen. Dann wird man sich aber selbst sagen, weil es einem andere eingeredet haben, in der Schule sitzt man still. Am Ende wird ein harter Kampf gefochten, in dem das von anderen Vorgeschriebene sich gegen das eigene Selbst durchsetzt. Das Ergebnis, das wir aus diesem Konglomerat aus Eigenem und Fremdem entwickeln, nennen wir Ich. Und das verteidigen wir dann auch noch bis aufs Blut, weil wir glauben, dass wir das sind, was andere aus uns gemacht haben.

Das hier abgedruckte Gespräch fand im Rahmen des von der Stiftung sylt quelle initiierten Sylter Wissenschaftssommers in Rantum statt.

Gerald Hüther wurde 1951 in Emleben geboren. Er promovierte im Fach Biologie in Leipzig. 1988 habilitierte er sich im Fachbereich Neurobiologie an der Universität Göttingen. Hüther leitet in Zusammenarbeit mit dem Pädagogen Karl Gebauer seit 2002 das Informationsnetzwerk WIN-Future und den jährlich stattfindenden Göttinger Kongress zu Erziehungs- und Bildungsfragen. Neben rund 150 wissenschaftlichen Publikationen veröffentlichte Hüther auch mehrere populärwissenschaftliche Bücher, etwa Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn (Vandenhoeck & Ruprecht).

Mathias Greffrath wurde 1945 geboren und ist freier Schriftsteller und Journalist. Nach dem Studium der Soziologie, Geschichte und Psychologie an der FU Berlin arbeitete er zunächst für die ARD und die Zeit. Von 1991 bis 1994 war er Chefredakteur der Berliner Morgenpost. Seit 1995 publiziert er regelmäßig für die SZ, die taz, die Zeit und GEO. 2002 veröffentlichte er gemeinsam mit Christiane Grefe und Harald Schumann ein Buch über die globalisierungskritische Gruppe Attac im Rowohlt-Verlag.

Angela Grosse ist Wissenschaftsredakteurin beim Hamburger Abendblatt.

Quelle: Recherche 2/2008

Online seit: 10. September 2019