Vom Nutzen falsch gestellter Fragen

Thomas Brandstetter über Georges Canguilhems Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert.

Online seit: 15. September 2019

Wir entschuldigen uns bei den Liebhabern der gut gestellten Fragen, aber wir gehen davon aus, daß die eigentlich wichtigen Fragen die schlecht gestellten sind.“ Dieser Satz, zu finden im letzten Drittel des vorliegenden Buches, ist explizit an Norbert Wiener gerichtet, der in seinem erstmals 1948 erschienenen Buch Cybernetics „die ganze Kontroverse zwischen Mechanismus und Vitalismus in die Rumpelkammer schlecht gestellter Fragen verwiesen“ sehen wollte.

Er ist aber mehr noch eine Provokation für eine Wissenschaftstheorie, die sich der Reinigung wissenschaftlicher Aussagesysteme von Scheinproblemen verschrieben hat. 1955, als Canguilhems La formation du concept de réflexe au XVIIe et XVIIIe siècles erstmals erschien, war die akademische Arbeitsteilung zwischen Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie gut etabliert: Erstere sollte sich um die chronologische Abfolge verschiedener Erkenntnisse kümmern, zweitere um die normativen Vorgaben, denen Erkenntnisse entsprechen müssten, um als wissenschaftliche gelten zu können. Falsch gestellte Probleme waren damit als historische Tatsachen zu notieren, der philosophischen Betrachtung aber nur insofern würdig, als die Unmöglichkeit, sie zu verifizieren, entlarvt und damit ihre Unsinnigkeit herausgestellt werden konnte. Die Wissenschaftsgeschichte inventarisierte die positiven Ergebnisse der Wissenschaften, die Wissenschaftsphilosophie stellte die normativen Regeln auf, nach denen sich die Wissenschaften zu richten haben, um als solche gelten zu können. Wenn sich Canguilhem nun zum Anwalt falsch gestellter Fragen macht, dann nicht, weil er dem Prinzip des anything goes anhinge. Vielmehr will er die Komplexität und Reichhaltigkeit jener Phänomene, die zu Objekten der Wissenschaft werden, nicht vorschnell durch eine normative Logik kassiert sehen. Eine richtig gestellte Frage, so führt er aus, ist schon keine mehr, da sie alle Elemente für ihre Beantwortung bereits enthält. Solche Fragen würden also die wissenschaftliche Tätigkeit „auf den Typ von Schulaufgaben reduzieren […], bei denen der Schüler, der sie zu lösen sucht, die Lösung nicht kennt, gleichzeitig aber behauptet wird, daß es eine gibt, die für seine Intelligenz erreichbar ist“.

Für die von Wissenschaftlern wie Philosophen oft erträumte Arbeitsteilung hat Canguilhem nichts als Hohn übrig.

Canguilhems Anliegen war es Zeit seines Lebens, die Wissenschaft als eine nicht-triviale Tätigkeit zu beschreiben, als eine Praxis, die stets mit unvorwegnehmbaren Wendungen zu rechnen hat. 1904 im Südwesten Frankreichs geboren, studierte er ab 1924 an der Pariser Ecole normale supérieure. 1940 nahm er eine Lehrtätigkeit an der Universität Straßburg an, um sich dort im Widerstand gegen die NS-Besatzung zu engagieren. Seinem Freund und Mitstreiter, dem Mathematiker Jean Cavaillès, der von den Nazis ermordet wurde, sollte er 1967 eine engagierte Gedenkrede widmen. Darin polemisiert er gegen die existentialistischen Angriffe auf den Strukturalismus, der der Abschaffung des Subjekts und der Passivität bezichtigt wurde, mit einem Verweis auf das Werk von Cavaillès, der in dem Augenblick an einer subjektlosen Philosophie der Mathematik arbeitete, „in dem er alles tat, um im Kampf zu sterben“.

Hier schwingt unter der Hand nicht nur eine Verteidigung von Michel Foucault mit, dessen Folie et Déraison (dt.: Wahnsinn und Gesellschaft) er 1960 mit großer Bewunderung begutachtet hatte, sondern wohl auch eine Verteidigung der eigenen Position. Denn wenn Canguilhem die Wissenschaftsentwicklung vom Primat des Begriffs anstelle von dem des Subjekts aus angeht, dann heißt das nicht, dass er auf die Dynamik einer Geschichte verzichtet. Im Gegenteil, gerade die Absage an eine Philosophie des Bewusstseins erlaubt es ihm, die Kontingenzen der historischen Entwicklung als irreduzible, auf keinerlei apriorische Formen zurückführbare Ereignisse zu betrachten. Das war auch die Stoßrichtung von Cavaillès gewesen, als dieser in seinem Spätwerk Sur la logique et la théorie de la science die transzendentale Wissenschaftstheorie wegen ihrer Unfähigkeit, das Unerwartete zu denken, kritisierte: Da dort der Grund normativer Regeln in apriorischen kognitiven Strukturen oder sedimentierten kognitiven Akten gefunden werde, könnten die wirklichen Objekte, mit denen es die Wissenschaft zu tun habe, niemals den Schirm der Kognition durchdringen. Der Realismus, den Cavaillès deshalb dem Transzendentalismus entgegensetzt, entspricht dabei dem, was bei Canguilhem dann Vitalismus heißen wird. Canguilhems Vitalismus hat einiges Missverständnis hervorgerufen, nicht zuletzt in der deutschsprachigen Rezeption, für die er gemeinsam mit Henri Bergson und Gilles Deleuze einer spezifisch französischen Tradition der Lebensphilosophie anzugehören schien. Jedoch ist für Canguilhem der Vitalismus weniger ein ontologisches Prinzip als vielmehr eine Systemstelle im biologischen Denken, deren Logik er in der vorliegenden Studie über den Reflexbegriff auch herausarbeitet – und zwar genau an jener Stelle, an der er über den Wert falsch gestellter Fragen spricht. Denn was das Leben betreffe, so seien die Fragen vielleicht immer falsch gestellt, da es selbst immer schon die Begriffe übersteige, die man sich von ihm mache: „Der Vitalismus ist vielleicht nur das Gefühl einer ontologischen, also chronologisch uneinholbaren Antizipation des Lebens gegenüber der mechanischen Theorie und Technik, gegenüber der Intelligenz und der Simulation des Lebens.“

Dynamische Epistemologie

Dass Canguilhem zu diesem Schluss in einer Untersuchung über die Entstehung des Reflexbegriffs kommt, ist kein Zufall, stellt der Reflex doch ein Paradebeispiel für jenen Typ von Operationen dar, den die kybernetische Terminologie der Zeit als Rückkoppelungsschleifen bezeichnet hat: eine Operation, bei der eine von der Peripherie des Organismus ausgehende Erregung wieder auf die Peripherie zurückwirkt, ohne unterdessen zum Gegenstand einer bewussten Aufmerksamkeit geworden zu sein. Canguilhems überraschende Erkenntnis besteht nun darin, zu zeigen, dass sich der Reflexbegriff keineswegs einer mechanistischen Physiologie verdankt. Lange Zeit wurde die Erfindung des Reflexbegriffs dem Säulenheiligen der französischen Philosophie, René Descartes, zugeschrieben. In Canguilhems Darstellung jedoch war der Urheber ein englischer Mediziner, Thomas Willis. Dieser konnte den Begriff deshalb prägen, weil er sich im Gegensatz zu Descartes keineswegs bei Metaphern aus dem Maschinenwesen bediente, sondern dynamischer und energetischer Bilder, wenn er etwa die Nerven mit Zündschnüren und die Muskelkontraktionen mit der Explosion von Schießpulver vergleicht. Dem Reflex eignet also eine Vitalität, für die sich die reduktionistische Perspektive mechanischer Analogien als unzureichend erweist.

Canguilhems Untersuchung über den Reflexbegriff ist durchzogen von solchen epistemologischen Beobachtungen. Die Geschichte wird hier nicht um ihrer selbst Willen geschrieben, sondern steht immer im Dienste einer philosophischen Haltung, die ihre Verstrickung in zeitgenössische Diskurse nie leugnet. Denn erst auf diese Weise können die Errungenschaften der Vergangenheit aus den Sammlungen antiquarischer Historiker befreit und auf ihren erkenntnistheoretischen Wert hin befragt werden. In Bezug auf seine Darstellung von Willis’ Lehre stellt Canguilhem selbst die Frage, ob diese Theorie „nichts anderes ist als alter Plunder, der in Büchern zurückbleibt, eine Kuriosität für den Gelehrten, oder aber, ob sie nicht […] auf eigene Art einen Sinn für die Phänomene des Lebens in sich trägt, den selbst die Köpfe von heute wenn zwar nicht übernehmen, so doch zumindest verstehen können“.

Die historische Epistemologie, wie man diesen Ansatz genannt hat, kann demnach keine positivistische Geschichtsschreibung sein. Ihre Aufgabe ist es aber auch nicht, apriorisch den Bereich der Wissenschaft abzustecken und über ihre Methoden zu urteilen, wie es die klassische Wissenschaftstheorie tut. Ein solches Unterfangen wäre schon alleine deshalb vergeblich, als es die eine Wissenschaft gar nicht gibt. Es gibt verschiedene Wissenschaftskulturen, von denen jede ihren eigenen Gegenstand und ihre eigene Vorgehensweise hat. Dementsprechend haben sich die Untersuchungen Canguilhems in begrenzten Bereichen kritisch mit den Bedingungen der Produktion von Wissen auseinander gesetzt, mit den Begriffen und Techniken, durch die Dinge jeweils zu Objekten des Wissens gemacht wurden. Für die von Wissenschaftlern wie Philosophen oft erträumte Arbeitsteilung – die einen fördern die Fakten zu Tage, die anderen kümmern sich um deren metaphysische Deutung – hat Canguilhem nichts als Hohn übrig. Die Wissenschaften brauchen die Philosophie, bemerkt er einmal in einem Gespräch mit Alain Badiou, aber sie haben keinen Bedarf an Philosophie, wenn man darunter „die spezifische Sekretion von Philosophen“ versteht. Wie die Geschichte der Wissenschaft seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beweist, haben sich die Wissenschaftler zunehmend selbst um eine Reflexion der erkenntnistheoretischen Grundlagen ihrer Tätigkeit bemüht, und Respekt vor der Wissenschaft heißt, diese Bemühungen ernst zu nehmen und den Wissenschaftlern wieder jenen Anspruch auf eigenständiges Denken zurückzuerstatten, der ihnen von den Philosophen immer wieder abgesprochen worden war.

Ein solcher Respekt ist aber nicht mit Anbiederung zu verwechseln. Historisch vorgehende epistemologische Untersuchungen, wie sie Canguilhem beispielhaft in seinem Buch über den Reflexbegriff vorführt, können sich kein bequemes Ausruhen auf scheinbar gewissen und unerschütterlichen Fakten erlauben. Vielmehr geht es ihnen darum, zu zeigen, dass aus der Praxis der Wissenschaft gewonnene Erkenntnisse eben keine Gewissheiten sind, und dass jeder Schritt unvorhergesehene Komplikationen ins Spiel bringen kann. Diese Haltung ist gerade keine des Irrationalismus; vielmehr ist sie die einzige, die dem offenen Prozess der Wissensproduktion angemessen ist. Man kann, so schreibt Canguilhem gleich zu Beginn des Buches, glauben, dass das Leben die Logik aus der Fassung bringt, ohne gleichzeitig auf die Bildung von Begriffen zu verzichten – schließlich ist die Wissenschaft, wie er an einer anderen Stelle einmal sagt, „ein Abenteuer des Lebens“.

Georges Canguilhem (1904-1995) studierte an der Pariser Elite-Universität École normale supérieure in den 1920er-Jahren mit später so berühmten Kollegen wie Jean-Paul Sartre, Raymond Aron und Paul Nizan. Nach dem Studium der Philosophie promovierte er auch in Medizin. Während des Krieges nahm Canguilhem aktiv an der Résistance teil und arbeitete als Arzt in der Auvergne. 1948 wurde er Dekan der Fakultät für Philosophie in Straßburg. Sieben Jahre später wurde er Professor an der Sorbonne und Nachfolger von Gaston Bachelard als Direktor des Instituts für Geschichte der Wissenschaften. Er behielt diese Position bis zu seiner Emeritierung 1971.

Thomas Brandstetter, geb. 1975, ist Assistent am Institut für Philosophie der Uni Wien. Im Frühjahr 2008 gab er gemeinsam mit Christof Windgätter den Band Zeichen der Kraft. Wissensformation 1800-1900 im Berliner Kadmos-Verlag heraus.

Quelle: Recherche 3/2008

Online seit: 15. September 2019

Georges Canguilhem: Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert. Aus dem Französischen übersetzt und durch ein Vorwort eingeleitet von Henning Schmidgen. Wilhelm Fink Verlag, München 2008. 257 S., € 39,90.