Das zentrale Moment der intellektuellen Auseinandersetzungen im zwanzigsten Jahrhundert war, wie der französische Philosoph Alain Badiou unterstreicht, die Differenz. Jener argumentative Schlag, der mit einem Mal den Kult der Differenzen einer gewissen Ernüchterung weichen ließ, wurde 1988 durch die indische, in Amerika lehrende Theoretikerin Gayatri Chakravorti Spivak geführt. In ihrem legendären Aufsatz Can the subaltern speak?, der jetzt in einer brillanten deutschen Übersetzung vorliegt, stellte sie die Frage, ob die theoretischen Werkzeuge des französischen Poststrukturalismus tatsächlich geeignet seien, jene Kritik und jenes Werden anzustoßen, von dem Denker wie Gilles Deleuze oder Michel Foucault phantasieren.
Spivak gehört zu jenen DenkerInnen unter den akademischen Lehrern, die ihre Pflichtlektüre einer Evaluation durch teilnehmende Beobachtung unterziehen. Ihren Texten entströmt die Wahrhaftigkeit ihres Engagements. Indem sie sich, wie sie in einem späteren Interview erzählt, wegen des Selbstmordes von Bubaneshvari Bhaduri in eine verzweifelte Wut hineingeschrieben habe, sei es ihr gelungen, denjenigen Punkt am Poststrukturalismus einzukreisen, der die Affirmation des Anderen und damit wiederum die Festschreibung einer unendlichen Grenze bedeutete. Die Bengalin Bubaneshvari hatte 1929 Selbstmord begangen, der wie üblich als durch Liebesleid bedingt gedeutet worden war. Das Rätsel, das sie allerdings aufgab, bestand darin, dass sie menstruiert hatte, als sie starb. Damit hatte sie vorsätzlich gegen die rituellen Vorschriften in Hinblick auf den weiblichen „Opfertod“ verstoßen, weshalb die Deutungen eigentlich sofort eine andere Richtung hätten nehmen müssen. Etwa ein Jahrzehnt nach ihrem Tod wurde bekannt, dass sie Mitglied einer der vielen Gruppen war, die in den bewaffneten Kampf um die indische Unabhängigkeit involviert waren. Der Umstand, dass Bubaneshvari nach einer Möglichkeit gesucht hatte, ihren Selbstmord abweichend vom Stereotyp zu „gestalten“, bescherte ihr immer noch nicht die erhoffte gerechte Lesart. Dass das von ihr hinterlassene körperliche Zeichen wiederum nicht gehört worden war, dass also Bubaneshvari unter den gegebenen Bedingungen einer doppelten Sprachlosigkeit anheim fiel – das war es, was Spivak zur ihrer zentralen Frage brachte. Sie fühlte sich ermutigt, in ihrem Aufsatz an die „Theorieheiligen“ in einer Art zu rühren, die ein gleichzeitiges Drinnen- und Draußensein in Bezug auf den Diskurs voraussetzt. Ihr Status als, wie sie treffend in einem Aufsatz aus dem Jahr 2001 formuliert, „resident alien“ („I retain an Indian passport and remain no more than a permanent resident in the US“) erlaubt ihr die Anwendung jenes gebrochenen Blicks (optisch gesprochen: doppelt reflektiert), in dem die Raffinesse hegemonialer Logik theoretisch und praktisch zur Erfahrung wurde.
Der Differenzfetischismus des zwanzigsten Jahrhunderts, so Spivak, privilegierte nämlich zunächst einmal diejenigen, die die Differenz auch öffentlich aussprechen konnten. Sie brüteten auf akademisch gesicherten Schreibtischen und Kathedern Differenzierungsreihen aus, die in einem wilden Egalitarismus münden sollten (Heterotopien, Frau-Werden, Tier-Werden). Die Differenzdebatte wurde von denjenigen gesteuert, die die universitär privilegierte Position, aus der heraus sie sprachen, für derartig selbstverständlich hielten, dass sie ihnen unauffällig vorkam. Die „Differenz“ entpuppt sich unter diesem Horizont als letztlich genauso politisch verfasst wie unter dem Vorzeichen des Kolonialismus, der die Passionsperspektive der Anderen eingeführt hatte. Der erste Schritt der Differenzierungsoperation besteht Spivak zufolge darin, das kulturelle, ethnische, geschlechtliche, ökonomische und logische Andere zu produzieren. Der zweite Schritt, der die Aufhebung und Ablehnung der Kolonialisierung begleitet, ist der der expliziten Parteinahme und Vertretung der Anderen.
Innerhalb einer Logik, die Repräsentation für archaisch hält, treibt der theoretische Kult des Minoritären urbane Blüten: Man kann für ethnische Andere, Frauen, Farbige, Primitive, Analphabeten und Bauern sprechen, nein, man muss einfach.
Im Herausarbeiten dieses zentralen Problems der postkolonialen Debatte lässt Spivak keinen Zweifel daran, dass sie dabei uneingeschränkt den Überlegungen des aus Palästina stammenden Theoretikers Edward Said (1935-2003) folgt. Der Poststrukturalismus habe, so Spivak, in dieser Hinsicht ein geradezu orientalisierendes Sympathisantentum mit denjenigen, die theoretisch als Andere erschaffen worden seien, hervorgebracht. In dieser Geste drücke sich noch einmal eine unreflektierte Hierarchisierung der Vertretungsansprüche aus. Die entscheidende Frage, so Spivak, besteht darin, wie das ethnozentrische Subjekt davon abgehalten werden kann, sich selbst zu etablieren, indem es selektiv eine/n Andere/n definiert: „Es handelt sich nicht um ein Programm für das Subjekt als solches; eher geht es um ein Programm für wohlwollende westliche Intellektuelle.“ Indem die Differenz ganz offengelegt wird und zugleich die Anderen theoretisch mit einer Emphase versehen (in der „Gestalt übertriebener Bewunderung“, wie Jacques Derrida formuliert) werden, machen sich TheoretikerInnen transparent und bleiben doch verschleiert, indem sie den Ort, von dem aus sie sprechen, nicht weiter markieren. Selbst die Parteinahme für den „Anderen“ verhindert erfolgreich dessen Entkommen aus der Zone der Marginalisierung beziehungsweise schreibt dessen Entmündigung (eine andere Form von Sprachlosigkeit) fest. In der „übertriebenen Bewunderung“ offenbart sich ein Zwang, die ehemalige Abwertung des Anderen zu kompensieren, was allerdings an der Logik der Sache nichts ändert. Der pawlowsche Reflex, mit dem TheoretikerInnen in Anschluss an Foucault abwehrend auf den Begriff der Repräsentation reagierten, nimmt sich nachträglich als Folge eines Denkverbots oder besser: eines Verdunkelungsgebots in Bezug auf die wahren Verhältnisse aus. Insofern Repräsentation ein Begriff ist, der sowohl eine subjektlogische als auch eine politische Operation bedeutet, sei in der Zerstäubung der Subjektlogik in den Differenzierungsmaschinen auch die Dimension der politischen Vertretung, d.h. der Erhebung der Stimme, als falscher Anspruch an ein überholtes, quasi-feudales In-Erscheinung-treten-Wollen diskreditiert worden.
Innerhalb einer Logik, die Repräsentation für archaisch hält, treibt der theoretische Kult des Minoritären urbane Blüten: Man kann für ethnische Andere, Frauen, Farbige, Primitive, Analphabeten und Bauern sprechen, nein, man muss einfach. Der Verdacht der 2006 verstorbenen Berliner Soziologin Gerburg Treusch-Dieter, dass beispielsweise die Etablierung von Arbeitskreisen für Gleichbehandlungsfragen auf gesetzlicher Grundlage an den europäischen Universitäten der 1990er-Jahre unausweichlich zur Folge haben werde, dass diese der Diskriminierung von Frauen die geforderte Legitimierung lieferten, lässt sich in Spivaks Denkfigur perfekt einpassen. Die Arbeitskreise wurden in diejenigen Institutionen integriert, die sie zu überwachen hatten. Das ermöglichte, so Treusch-Dieter, dass die VertreterInnen unter der Vorgabe der Frauenförderung (also unter dem Vorzeichen der Produktion einer Differenz) ihre institutionellen Absichten dissimulierten. Unter dem Deckmantel der Differenz-Verhinderung (Diskriminierungsverbot) bewegten sie sich in die Differenz-Falle, wurden also selbst zu Komplizinnen des „Identischen“ und dessen Interessen.
Spivak hat als Projektionsfläche für jene TheoretikerInnen, die ihrem Einspruch neuerdings wachsende Bedeutung beimessen, den Vorteil, dass sie selbst als bengalisch-amerikanische Universitätsprofessorin ein wirkliches Patent auf diejenige Andersheit beanspruchen kann, die ihnen bisher nur als imaginärer Gegenpol, von dem her sie ihre Reflexionen aufgewertet sahen, gedient hatte. Spivaks Unbestechlichkeit begründet sich aus diesem biographischen Durchlauf durch „Alterität“ – was im Übrigen neuerdings, denkt man an den seit kurzem amtierenden US-Präsidenten Barack Obama, auch auf einer übergeordneten gesellschaftlichen Ebene ein gewisses Hoffnungspotenzial darstellt.
Gayatri Spivaks Argumentation zeigt, dass Identität und Andersheit die falschen Begriffe für eine Diskussion gebildet haben, die dem kolonialen Syndrom zu entkommen hoffte. Worum es auf dieser Ebene der Differenz geht, ist nicht eine erste unhintergehbare Abstraktion in der Grundlegung der Dialektik, sondern das Eingeständnis eines Gefälles: eines ökonomischen Gefälles, eines Bildungsgefälles, eines Gefälles unter den Währungen etc. Die Kapitalisierbarkeit des Gefälles ist das zentrale Problem. Die unterschiedlichen Niveaus müssten aufgezeigt werden, ohne dass man der Versuchung erliegt, aus der Differenz phylogenetische und kulturevolutionäre Diagnosen abzuleiten (was für Spivak „Essentialismus“ ist). Wahrscheinlich hat die Konstruktion von Subjektivität immer schon auf radikale Weise mit Wirtschaftskraft in Zusammenhang gestanden. Das „Ich“ und seine Kaufkraft hängen offenbar stärker miteinander zusammen, als einem lieb ist.
In dem kleinen, jüngst im Verlag diaphanes auf Deutsch aufgelegten Text Righting Wrongs – Unrecht richten nimmt Spivak ihren Faden wieder auf, wobei sie diesmal die NGOs im Visier hat, die im Paket ihrer Hilfsleistung nach wie vor einen kolonialistischen Bildungsbegriff mitliefern. Vor allem am Auswendiglernen aus „Fibeln“ als perfekte Vorbereitung zu Fremdsteuerung und „Ver-Anderung“ lässt sie kein gutes Haar. „Wir sollten uns hin zum Verstehen bewegen“, mahnt sie.