Über Graffiti

Urbane Öffentlichkeit zwischen Subversion, Kunst und Kommerz. Von Frank Hartmann

Online seit: 20. Oktober 2019

Unterschiedlichste Modalitäten der Einschreibung finden sich an sämtlichen Ecken und Enden der Stadt, Botschaften und Zeichen sind omnipräsent, allen voran und quasi-natürlich die der Werbeindustrie – es sind kommerzielle, orientierende und informierende, neben den systemkonformen aber auch subversive Texte und Bilder im öffentlichen Raum. Graffiti und Street Art nämlich konterkarieren die allgegenwärtigen Botschaften einer restlos kommerzialisierten Konsumkultur. Und schließlich buhlt noch die Kunst im öffentlichen Raum um Aufmerksamkeit: neben Werbern, die als Künstler wahrgenommen werden wollen, treten zunehmend Künstler auf, die sich mit Public Art politisch artikulieren.

Eingangs sei die Beobachtung von Walter Benjamin in Erinnerung gerufen, der in seinen surrealistisch angehauchten Aphorismen Einbahnstraße von 1928 festhielt, dass der Schrift in der modernen Großstadt eine neue Gestalt zukomme. Das „Geschehen dieser Tage in Wirtschaft, Technik und öffentlichem Leben“ verlange es: „Die Schrift, die im gedruckten Buche ihr Asyl gefunden hatte, wo sie ihr autonomes Dasein führte, wird unerbittlich von Reklamen auf die Straße hinausgezerrt und den brutalen Heteronomien des wirtschaftlichen Chaos unterstellt.“ Benjamin war Zeitzeuge einer Ära, in der nicht nur neue Medien den bürgerlichen Alltag durchdrangen, sondern in der durch die visuelle Kultur der Reklametechniken der städtische Raum sein Gesicht grundlegend veränderte. Während nach seiner Beobachtung die Schrift von der Horizontalen des Schreibtisches sich in die Vertikale von Hauswänden und Plakaten bewegt, ist es der Reklame geschuldet, dass in der Stadt ein neuartiges „dichtes Gestöber von wandelbaren, farbigen, streitenden Lettern“ auf die Flaneure und Passanten niedergeht.1

Es war die Zeit, in der eine neue Bildersprache die Dimensionen der urbanen visuellen Kultur veränderte. Nach den Schildermalern, die sich auf einzelne Angebote vor Ort bezogen, wurde der strukturierende Code für die öffentliche Wirksamkeit erst Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts von neuen Akteuren wie Otto Neurath entwickelt.2 Die informationelle Visualität gehört mittlerweile unabdingbar zur Wahrnehmung von Urbanität, die mehr denn je zum Reich der Zeichen wurde.

Dabei handelt es sich nicht um reinen Text, sondern um eine Kombination von Schrift- und Bildelementen, deren Ästhetik reproduktionsbedingt sich zunächst auf typografische Elemente konzentriert und mit der Farblithografie und dem Aufkommen modernerer Druckverfahren wie Siebdruck und Foto-Offsetdruck zunehmend grafische und fotografische Bildelemente integriert hat. Gegenwärtig erlaubt Digitaltechnik neue Formate der Außenwerbung wie die an Gebäuden temporär angebrachten Riesenposter („Blow-ups“), darüber hinaus sorgt Beleuchtungstechnik für neue mediale Plakatformen („Mega-Light Poster“) und dank LED-Technologie finden sich zunehmend auch bewegte Bilder auf Fassaden und Displays im öffentlichen Raum. Das Urbane kommt zunehmend laut und schrill daher – zu schrill, wie viele meinen. Besonders die Werbemittelindustrie treibt es auf die Spitze und dehnt jede sich bietende Oberfläche noch einmal künstlich aus, um sie dann mit plakativen optischen Reizen zu überziehen. Dass Städter auf Schritt und Tritt dieser „Push“-Mediensituation ausgesetzt sind, wird von diesen aber nicht kritiklos hingenommen. In den vergangenen Jahren wird generell verstärkt kritisiert, dass es den Unternehmen im Kampf um Marktmacht mehr um ihr Markenimage geht als um tatsächliche Produktqualität – Stichwort „No Logo!“3

1. Markieren

Man muss nun kein unversöhnlicher „Anti-Corporate“-Aktivist sein, um zu erkennen, dass die Markenindustrie in ihrem Kampf um die Aufmerksamkeit der Konsumenten in praktisch jeder Alltagssituation eine Kolonialisierung des Blickfeldes betreibt. Neben dieser kommerziellen gibt es eine subkulturelle und eine künstlerische Ebene, auf denen Protest gegen die Proliferation des Visuellen zum Ausdruck kommt. Urbane Zeichensprachen unterschiedlichster Provenienz kondensieren Bedeutung an bestimmten Orten, und es ist kein Zufall, dass sie sich gegen die Hegemonie der Zeichenwelt des Corporate Design sträuben. Die Form, in der sie das tun, ist sowohl getragen von ihrem Anspruch auf visuelle Integrität wie von den ikonoklastischen Gesten der Gegenkultur, die sich zum Missfallen ordentlicher Bürger als Graffiti-„Schmiererei“ an den Fassaden der Stadt wiederfinden.

Soziologisch kann Graffiti als Aneignungspraxis öffentlichen Raums interpretiert werden, die einer  Rückeroberung gleichkommt: Gegner ist die neoliberalistische Ökonomie, die Wirtschaftswelt mit ihrer globalen Marken- und Produktpolitik, die von lokalen Werbe- und Marketingagenturen inszeniert werden. Bedingt durch die ständige technische Verbesserung von Präsentierungen gelingt ihnen dies immer perfekter und umfassender, wobei die Dauerpräsenz visueller Werbebotschaften als quasi natürlicher Zustand hingenommen wird.

Die subversiven, sich Aufmerksamkeit erobernden Graffiti kritisieren Lesarten des Öffentlichen und treten in einen fiktiven Dialog mit jedem, der sie wahrnimmt. Graffiti kann vieles bedeuten: Vandalismus im öffentlichen Raum, Subversion privaten Eigentums, Signatur tribalistischen Territoriums oder einfach nur Ausdruck persönlicher Kreativität, vielleicht illegitime Kunst im öffentlichen Raum? Eine Stimme des Protestes auf jeden Fall oder die Spur einer Aneignungspraxis. Der zugrunde liegende Kampf aber ist der zwischen System und Subkultur, und er dreht sich um die Deutungshoheit innerhalb einer von der Werbeindustrie bereits nahezu restlos kolonialisierten Lebenswelt. „Meine Tags reproduzieren und kritisieren deine Schweinereien; sie machen sich über sie lustig; du sagst, dass ich die Mauern und die Türen der U-Bahn bekote, aber findest du nicht meine Werke origineller und weniger repetitiv als die deinen, die alles mit ein und derselben Marke wie mit Kot beschmieren?“4

Den französischen Philosophen Michel Serres beschäftigt dieser unmögliche Dialog, der zwischen dem rebellischen Sprayer und dem dominanten Werbefachmann angesiedelt ist – wer sagt was im öffentlichen Raum und wie? Heute markieren Unternehmen ausnahmslos alles, daher hat jedes Produkt seine Marke und jede Dienstleistung ihr Logo; permanente Werbung unterwandert, altmodisch formuliert, jegliche Aneignung eines Gebrauchswerts zugunsten des universalisierten Tauschwertes.

Gern schlägt auch die postmoderne Kunst ihr symbolisches Kapital aus einer atmosphärischen Nähe zur Subkultur.

Der Protest dagegen ist alt, und vor der kapitalistischen Kommerzialisierung richtete er sich generell gegen die Obrigkeit. Wie eine aktuelle soziologische Studie zeigt, gründeten in Neuzeit und Aufklärung vandalistische Akte, die an öffentliche Kulturgütern ausgeübt wurden, in der ständigen Demütigung und Ausbeutung der einfachen Menschen durch die adelige Herrschaft. Der Pöbel demolierte gern Baumpflanzungen und Gartenanlagen und einige Wut wurde an den im 18. Jahrhundert aufkommenden Straßenlaternen ausgelassen, deren Zweck eine bessere polizeiliche Überwachung der nächtlichen Stadt war. Im Zeitalter der Industrialisierung dann, wie der Hamburger Stadtarchivar Otto Beneke 1856 festhielt, kommt es verstärkt zum „Beschmieren und Bemalen der Planken und Mauern mit unpassenden Wörtern und Zeichnungen usw.“5

In der Wissenschaft interessierte sich zunächst nur die Archäologie für Graffiti. In den Katakomben von Rom ab 1600 und bei der Ausgrabung von Pompeji im 19. Jahrhundert wurden Graffiti-Spuren untersucht. Als Zeugnis der menschlichen Kommunikation reicht Graffiti wohl bis in prähistorische Zeiten zurück, doch als urbanes Phänomen ist es modern definiert, vor allem hinsichtlich der unterschiedlichsten Formen semiotischer Aufladung von Umgebungen. Generell sind Schrift und Schriftbilder wesentliche Strukturelemente des städtischen Kommunikationsraumes, der im Unterschied zum ländlichen mehr durch indirekte, transpersonale Kommunikationsverhältnisse charakterisiert ist. Dieses urbane System der Zeichen erzeugt Verhaltensmodelle nicht nur im verkehrstechnischen, sondern auch im lebensweltlichen Sinn: im Fall der Werbeflächen etwa als Konsumaufforderung, wobei Graffiti dann zum konterkarierenden Zeichen alternativer Verhaltensoptionen wird. Das erklärt die ewige Aufregung der Spießer und jeder beliebigen Lokalpresse über die dauernden „Schmierereien“, die – kaum wurden sie teuer gereinigt – stets erneut auftauchen, und das nahezu zwingend: weil eben jede Bereinigung, hinter welcher das Homogenisierungsbestreben bürgerlicher Verwaltung steckt, notwendig weitere subkulturelle Artikulationen provoziert. So steht, über die Aneignung von Bedeutungsraum hinaus, die Explizitmachung des subkulturellen Lebensentwurfs durch Graffiti in einer Tradition der ikonoklastischen Transformation von Werten.6

In diesem Sinn deklariert Michel Serres seine Sympathie für die Graffiti-Künstler der Pariser Banlieue. Hier ist eine unterprivilegierte Immigrantenkultur angesiedelt, die sich seit einigen Jahren – in der zweiten und dritten Generation mit ihren Interessen und Artikulationen in den öffentlichen Medien praktisch unsichtbar – zur Explizitmachung ihrer Existenz auch in vandalistischen Akten anschickt. In New York war dies schon in den 1960er-Jahren virulent. Dort entwickelte sich mit Hilfe von Spraydosen eine neue Form von Graffiti, das Style Writing. Straßengangs mit unterschiedlichem ethnischen Hintergrund markieren ihr Territorium oder einzelne Writer ihren Machtanspruch. Die Zeichen, die sie dabei im öffentlichen Raum hinterlassen, werden Tags (eine Signatur des Writers) oder Pieces (von Masterpiece) genannt, und dieser Stil wird seit den 1980er-Jahren von den Subkulturen europäischer Städte kopiert und adaptiert.

So ganz neu ist dies alles nicht, hier sei an einen gewissen Josef Kyselak erinnert, der im frühen 19. Jahrhundert überall in der österreich-ungarischen Monarchie sein „Kyselak war hier!“ hinterlassen hat; noch heute ist seine Signatur etwa an einer Säule im Wiener Stadtpark zu sehen. 1947 diskutierte ein Artikel der New York Times das Graffiti-Phänomen „Kilroy was here“. Dabei haben amerikanische GIs nur fortgesetzt, was Aufständische der Pariser Kommune und früher noch, der französischen Revolution, begonnen haben: sich einer verschworenen Gemeinschaft zuzuschreiben, die gegen gewisse hegemoniale Machtansprüche auftritt und dies in der Öffentlichkeit verschlüsselt kommuniziert.

Es ist überaus bequem und auch lukrativ geworden, kritisch zu sein.

Gegenwärtig ist Graffiti meist dem gegen- oder subkulturellen Bereich zuzuordnen, hat aber übergeordnete kulturelle Bedeutung und wird dort auch von kommerziellen Akteuren übernommen, beispielsweise in Werbekampagnen, die besonders Jugendliche ansprechen sollen. Graffitis treten neben die legalen Botschaften, die es in der Stadt zu lesen gibt. Sie kritisieren diese schon aufgrund der Öffnung eines parasitären Kommunikationskanals, sie unterlaufen die oberflächliche Wahrnehmung oder sie konterkarieren die offizielle Semantik von Orten. So wird in den städtischen Kommunikationsraum eine neue Bedeutungsschicht eingezogen. Graffitis transformieren Objekte auf der Zeichenebene oder schaffen eine Sichtbarkeit, die entweder subversiv oder schlicht expressiv codiert ist. In Umkehrung des allgegenwärtigen Trends zur Kommerzialisierung, nur um dies nicht unerwähnt zu lassen, verwenden Adbusters Graffiti im Sinne der ideologischen Kritik, indem etwa bestehende Werbebotschaften durch semantische umcodiert werden.7

Die Lesbarkeit von Graffiti hängt ab von der Kenntnis der lokalen Codes. Wichtigstes Element von Urbanität im Sinne einer Frage der Macht ist der Kampf gegen die Semiokratie des systemkonformen Zeichenensembles, wie Jean Baudrillard einst das New Yorker Style Writing deutete: ein Kampf, der sich gegen den deklarierten Unterschied zwischen Sendern und Empfängern von Zeichen richtet, und in welchem er zu Recht den Ausdruck der gesellschaftlichen Machtfrage identifizierte.8 Aber Baudrillard glaubte in Unkenntnis der subkulturellen Codes auch, die Tags als bloße Namen würden sich jeglicher Interpretation entziehen – es handle sich hier um „leere Signifikanten“ im urbanen Raum, so die irreführende Behauptung des Soziologen, der die Stadt als ein „linguistisches Ghetto“ betrachtete, in dem nun eben ein „Aufstand der Zeichen“ ausgebrochen sei. An dieser Diagnose ist mittlerweile unschwer die Trauerarbeit der 68er-Generation zu erkennen, die gerade in jenen Jahren ihre Hoffnung auf ein revolutionäres geschichtsphilosophisches Subjekt verabschieden musste.

Das Style Writing stand ursprünglich im Zusammenhang mit der Hip-Hop-Kultur der 1980er-Jahre. Hip-Hop ist Street Culture und als solche ein aus Sprechgesang (Rap), akrobatischem Tanz (Breakdance) und Graffiti (Writing) bestehendes, identitätsstiftendes Ritual sozialer Randgruppen beziehungsweise urbaner Subkulturen. Bei diesem Ritual handelt es sich gerade im Zusammenhang mit Hip-Hop nicht immer um reale Gewalt, sondern um auf symbolischer Ebene ausgetragene Kämpfe, um Battles im Zusammenhang mit dem ursprünglich auch auf der Straße ausgetragenen Rap. In soziologischer Hinsicht handelt es sich also um einen Habitus, den jugendliche Subkulturen im Kontrast zu traditionellen Sozialisationsinstanzen ausgeprägt haben.

2. Ästhetisieren

Natürlich geht es bei Graffiti nicht allein um die Faszination der illegalen Botschaft. Die inzwischen auch in Europa längst verbreitete Graffiti-Szene vollzieht dies mit durchaus künstlerischem Anspruch. Sie versteht sich nicht als Resultat einer vandalistischen oder ideologischen, sondern einer durchaus kreativen und ästhetischen Aktivität bis hin zur neuen Form von Street Art als Kunst im öffentlichen Raum. Ein frühes Indiz dafür, dass subkulturelle Zeichen auch auf ihren ästhetischen Wert hin gelesen werden können, war eine Ausstellung des Museum of Modern Art in New York 1956, in der es Brassaïs Fotografien von Graffiti auf Pariser Hauswänden zu sehen gab.

Auch die visuelle Gestaltung der Schriftzüge eines Style-Writers zielen auf ästhetischen Mehrwert, dem keineswegs, wie Baudrillard meinte, leere Signifikanten zu Grundeliegen. Der Writer selbst codiert seine Identität – und wer sich ästhetisch durchsetzt wird zum Star, dessen Masterpieces dann auch nicht mehr angetastet werden. Die Tags selbst, die eigentliche Schrift wird figürlich bis hin zum Logo, und ein guter Style-Writer wird durchaus als Akteur von Kunst im öffentlichen Raum wahrgenommen. Dann folgen nicht selten öffentliche Aufträge zur Gestaltung einer Wand oder einer Straßenbahn.

Kontrolliertes Graffiti ist heutzutage nicht selten. Neben den visuellen Zitaten aus der Subkultur, mit denen manche Unternehmen Street Credibility vorgeben möchten, reagieren auch fortschrittlich gesinnte Stadtverwaltungen auf das um sich greifende Phänomen. In Helsinki wurde 2008 und in Wien bereits 2006 beschlossen, Graffiti nicht mehr ausnahmslos zu verfolgen und zu bestrafen, sondern als Teil der Stadtkultur wahrzunehmen. Als Kunstform (Street Art) mittlerweile offiziell anerkannt, wird Graffiti aber auch in Schranken gewiesen: Da Kunstwerke durch ihren Rahmen definiert sind, stellte man dieser Form der Kunstausübung genau definierte Flächen inklusive amtlich vorgeschriebener Nutzungsbedingungen zur Verfügung.

Wer seine Botschaft im urbanen Raum anbringen will, muss sich mit den Mächtigen arrangieren.

Nicht nur kommerzielle Unternehmen versuchen, sich durch Vereinnahmung subkultureller Codes eine Spur von Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit zu erschleichen. Gern schlägt auch die postmoderne Kunst ihr symbolisches Kapital aus einer atmosphärischen Nähe zur Subkultur, wenn nicht gar die Grenzen, die hier mehr oder weniger bestehen, durch die Akteure selbst überschritten werden. Umstrittene Berühmtheit hat hier Banksy erlangt, ein bislang inkognito agierender britischer Straßenkünstler, der mit Schablonen arbeitet und der längst seinen eigenen Galeristen sowie Website und Publikationen hat.9 Doch nicht nur im Fall Banksy hat Graffiti die Grenze zur kulturindustriellen Verwertung oder zumindest zu Kunstmarkt-affinen Modalitäten überschritten, ohne dabei den von der subkulturellen Ästhetik stammenden Anspruch auf Subversivität aufzugeben. Einige Beispiele von Kunst im öffentlichen Raum schlagen ebenfalls Profit aus dem  kritischen Code der Straße.

Die Vereinnahmung subversiver Praktiken wie Graffiti oder Adbusting konnte man vergangenes Jahr anhand der sogenannten Kunstmeile von „Linz 09“ betrachten, einer der Aktivitäten der letztjährigen europäischen Kulturhauptstadt. Für die Kunstmeile wurden Schaufenster, Fassaden und Passagen von Linz bespielt: Kunst am ungewohnten öffentlichen Ort, so lautete die Devise, und die beteiligten Künstler mühten sich, den gewohnten städtischen Kaufrausch mit einem sogenannten „Schaurausch“ zu konterkarieren. Dass das Ergebnis dann wenig spektakulär ausfiel, entspricht einer freiwilligen Selbstbeschränkung so vieler Kunstproduzenten, die sich gern innerhalb des Kanons von genereller Erwartbarkeiten bewegen. Eine Neudefinition eingespielter Gewohnheiten durch den künstlerischen Akt, der den Kaufrausch im Schaurausch aufzuheben vermag, übersteigt wohl die Möglichkeiten von Kunst, wie eine längere Geschichte einschlägiger Projekte zeigt – hier sei etwa auf das Scheitern der Situationisten verwiesen.

Ästhetisches Moralisieren zeichnet denn auch andere künstlerische Beispiele aus. So ließ Stefan Sagmeister, ein international agierender österreichischer Grafiker, der die Szene gern mit einigermaßen erkenntnisfreien Sinnsprüchen beglückt,10 die Fassade des Linzer Spielcasinos mit einem Blow-up neu gestalten. Wohl in der Absicht, das Glücksversprechen des Casinos zu dekonstruieren, konnten Passanten die in der „Hokusetsu“ (= Schneeberg) Typografie des japanischen Designers Ken Miki gestaltete künstlerische Botschaft lesen: zuerst den affirmativen Teil, nämlich das Wort „Money“ und in der Konsequenz auf der anschließenden Fassadenseite dann die Negation „does not make me happy“. Wie originell. Ungeachtet der Tatsache, dass Geld etwa im Falle einer etwas anspruchsvolleren Zahnbehandlung durchaus glücklich macht, ungeachtet solcher Implikationen also kann ein Künstler immer dann auf Zustimmung eines beflissen kritisch gestimmten Publikums hoffen, wenn Platitüden breitgetreten werden wie jene, dass Konsum und Massenkultur irgendwie grundsätzlich schlecht sind – eine immer wieder unspezifisch wiederholte Botschaft, die aber stets vorgibt, solch tiefschürfende Erkenntnis ließe sich eben erst dank der künstlerischen Intervention gewinnen.

Kritik wird hier Teil des Betriebs. Es ist überaus bequem und auch lukrativ geworden, kritisch zu sein. Wer seine Botschaft im urbanen Raum anbringen will, muss sich mit den Mächten (Kulturstadtrat, Kuratoren) entsprechend arrangieren. Die Wut und Virilität von Graffiti geht dabei zugunsten ästhetisch anspruchsvoller und professionell gemachter Oberflächengestaltung verloren, die Beschwörungsformeln von urbanen Zeichen sind leer und kraftlos. Gibt es etwa andere Möglichkeiten, hinter diese Oberfläche zu dringen?

3. Intervenieren

Contemporary Public Art (Kunst im öffentlichen Raum) verlässt sich diffus auf jene semiotische Valorisierung, die in den 1970er-Jahren begonnen hat. Seit Baudrillards theoretischer Nobilitierung von Graffiti ist die Perspektive darauf hin angelegt, jegliche Zeichenmanipulation sogleich als eine Implosion der „Macht“ umzudeuten. Doch eine Manipulation auf symbolischer Ebene bleibt eben dort stehen, wenn ihr nicht Maßnahmen auf politischer und auf technischer Ebene entsprechen. Schließlich war es kein Aufstand der frei flottierenden Zeichen, sondern Politik, Wirtschaft und Medientechnik, die in den vergangenen vier Jahrzehnten unsere Kommunikationsverhältnisse revolutioniert haben.

Kann denn kritische Kunstpraktik eine dominante Hegemonie in Frage stellen? Diese Frage kann am Beispiel von „Delete!“ diskutiert werden, einem Projekt zur Auseinandersetzung mit kommerzieller Visualität in einer Geschäftsstraße. Im Juni 2005 realisierten Christoph Steinbrenner und Rainer Dempf die „Entschriftung“ der Wiener Neubaugasse. Dies ist eine prominente Einkaufsstraße, und wie zum Verständnis festgehalten werden muss, sind die dort agierenden Kaufleute lokal bestens organisiert, das heißt sie organisieren Feste und andere Aktionen zur Belebung und Kommunikation ihrer Gegend. Für das Projekt „Delete!“ nun wurden, wie der Titel schon andeutet, im gesamten Straßenzug jegliche Schriften, Logos und Werbetafeln für zwei Wochen abgedeckt. Die Reaktion war enorm, es gab eine internationale Medienberichterstattung.

Folgender Hintergrund muss erwähnt werden: in Wien dominiert im öffentlichen Raum relativ unangefochten die GEWISTA, ein städtisches Werbeunternehmen, das den größten Marktanteil in der lokalen Außenwerbung besitzt. Die Monopolstellung dieses flächendeckend agierenden Unternehmens, die mit immer neuen Werbeformen gefestigt wird, stört nicht nur Wild-Plakatierer und Sprayer: hier dominiert ein der sozialistischen Stadtregierung nahe stehendes Unternehmen alles, was im öffentlichen Raum an visueller Kommunikation möglich ist. Aspekte der urbanen Zeichenwelt werden allein auf deren kommerziellen Teil reduziert. Es gibt in Wien 6.000 Werbeflächen im 24 Bogen-Plakatformat, das ist dreimal so viel wie in vergleichbaren Städten. Und ständig kommen neue Werbeflächen hinzu, wie City Lights, Rolling Boards oder Halbschalen an Licht- und Strommasten, die nur von diesem Unternehmen gestaltet werden dürfen; jede Fremdplakatierung auf diesen Flächen ist strikt verboten. Dieses Unbehagen an der Werbekultur in Wien führte zur Suche nach einer Form der künstlerischen Intervention, wobei aus Gründen der strafrechtlichen Relevanz eine direkte Bearbeitung von Werbeflächen ausgeschlossen war.11

Ein echtes „Delete!“ oder vollständiges Löschen von Werbebotschaften konnte wiederum nur symbolisch realisiert werden. Alle Reklameschilder und Werbungen wurden mit gelber Folie überdeckt, um den öffentlichen Raum mittels Entschriftung zu neutralisieren: „Streichung, Tilgung aller um die Aufmerksamkeit der Passanten werbenden Schriftsignale“ durch monochrome Farbfolien. Passanten nutzten die gelben Flächen, um projektbezogene und allgemeine Kommentare zu hinterlassen. Diese Kommentarfunktion wurde zum ungeplanten Teil des Projektes.

Erreicht wurde mit „Delete!“ eine temporäre Redimensionierung der Erfahrungsebene eines städtischen Raumes. „Indem Delete! gerade das Lesbare aus der Einkaufsstraße tilgt, setzt es nicht nur den Blick auf andere Dinge im Sinn einer Schule des Sehens frei, sondern es provoziert ein Nachjustieren des gesamten Sinnesapparates.“12 Natürlich gefiel die Aktion den „Culture Jammern“ gut, und das Adbusters Magazine hob eben jenen sinnesökologischen Moment hervor, wenn es über die Aktion schrieb: „Vienna‘s mental environment was a little cleaner this past June thanks to a bit of ‚streetsculpture‘.“

Das Motiv der Reinigung ist hier mit einer anderen Konnotation angesprochen als bei jener des Entfernens von Graffiti im Sinne kleinbürgerlichen Ordnungsstrebens. Der Wunsch, die städtische Umgebung einem originären Erleben zugänglich zu machen, steht ebenso unmissverständlich wie disparat hinter dieser künstlerischen Aktion, mag die kurzzeitige Nachjustierung des menschlichen Wahrnehmungsapparates auch noch so sehr als blaue Blume im Land der postmodernen Urbanität erscheinen.

Wie der Philosoph Helmuth Plessner einst in seiner „Anthropologie der Sinne“ ausführte, erschöpft sich die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung für den Menschen nicht in der Aufnahme von Informationen.13 Die Sinne werden erlebt und das bedeutet: über ihre funktionale Bedeutung hinaus reflektiert, sie sind dabei ständig einer Suche nach ästhetischem Mehrwert ausgesetzt. Jenseits der billigen Klage über eine Informationsflut kann nach dem Maß gefragt werden, welches die Sinnestätigkeit und die Umwelt in ein ökologisches Verhältnis zu setzen erlaubt; das Motto „Weniger ist mehr“ darf dabei getrost herangezogen werden. Insofern kann eine kritische Kunstpraxis wie das Projekt „Delete!“ wesentliche Akzente setzen, um darauf aufmerksam zu machen, dass es eine Fülle von Möglichkeiten gibt, um einer widerständigen Ästhetik Raum zu gewähren.

Entfaltet Kunst eine Sphäre des ästhetischen Scheins, eine vom Alltag abgehobene Welt, so ist sie auch in diesem Fall nicht rückübersetzbar auf den Alltag, den nach bloß vierzehn Tagen in der Wiener Neubaugasse wieder die Welt der Geschäfte mit ihren Werbebotschaften übernommen haben. In dem mit einer Verhüllungsstrategie arbeitenden Projekt artikuliert sich unfreiwillig die Machtlosigkeit der künstlerischen Aktion, die höchstens temporäre Wahrnehmungsoptionen anbieten und damit eine Debatte auslösen, nicht aber die Verhältnisse ändern kann.

Die Frage war, ob kritische Kunstpraktik eine dominante politisch-ökonomische Hegemonie in Frage stellen kann. Nein, wie Chantal Mouffe diagnostiziert: solche Praktik kann es sich nämlich nicht leisten, traditionelle Formen der politischen Intervention außen vor zu lassen.14

Wer die visuellen Codes der neoliberalistischen Ideologie im Stadtbild kritisieren will, muss auf einer grundsätzlichen Ebene antreten – das kann nur die Legislative leisten. Dafür gibt es, als Reinigung nicht bloß einer Geschäftsstraße, sondern einer ganzen Stadt, ein prominentes Beispiel: São Paulo – der brasilianische 20-Millionen Beton-Moloch mit hohem Verkehrsaufkommen – wurde im Jahr 2007 durch das „Lei Cidade Limpa“ (Gesetz der sauberen Stadt) des neu gewählten Bürgermeisters Gilberto Kassab praktisch von einem Tag auf den anderen werbefrei gemacht. Die Logos und Aufschriften an den Fassaden mussten verschwinden, alles was über eine bestimmte Größe hinausging: die Plakate, die Schilder sowie die riesigen Leuchtreklamen. Faszinierte Beobachter sprachen von einer Rückkehr der Nacht. Solches kann nur mittels politischer Macht umgesetzt werden.

Im Sinne eines „ästhetischen, kulturellen und ökologischen Wohlergehens“ der Stadt wurde das neue Gesetz drastisch vollzogen. Die von der Außenwerbung befreite Stadt wirkte wie von einer Maske befreit – was den Bewohnern gefällt. Das Gesicht der Stadt war wieder das der Architektur, nachdem die Werbekosmetik verschwand. Wie der brasilianische Filmregisseur Fernando Meirelles (u.a. City of God, Blindness) dazu sagte: „Endlich kann ich die Stadt sehen, statt sie permanent lesen zu müssen.“

„Schrift“, so der Medienphilosoph Vilém Flusser, „ist in ihrer kulturellen Funktion durch die neuen Aufzeichnungsmedien der technischen Moderne in Frage gestellt.“ Die Mediengeste des Schreibens hat er an die Absicht der Herstellung eines bedeutenden Ganzen gebunden, wie einen geschlossenen Text oder ein Buch, also ein Werk, das in einer zum Performativen tendierenden und mit neuen Codes agierenden Kultur langsam an Stellenwert verliert. Driftet unsere Kultur tatsächlich in ein Jenseits der Schrift?

Flusser war selbst viele Jahre in São Paulo heimisch, doch da er 1991 verstarb, konnte er die radikale ästhetische Veränderung dieser Stadt nicht mehr erleben; in einem Sammelband über Urbane Milieus hat er sich zuvor jedoch noch mit ihren Codes befasst.15 Er bemerkt hier vor allem die vorherrschende Geste der „bildherstellenden Intellektuellen“ – der Funktionselite aus Architekten, Planern, Intellektuellen, Künstlern und Medienleuten. Dies steht offensichtlich für die überkommene Praxis von Intellektuellen, die Teilnahme am Urbanitäts-Diskurs auf jene Code-Produzenten zu beschränken, deren Modelle auf die offiziellen Lesarten abgestellt sind. Was umso erstaunlicher ist, da Flusser durchaus neugierig in der Vielzahl der Codes herumstochert und nach kommunikativ gestaltenden Alternativen fragt. Die Überblendung von europäisch-rationaler Bewusstseinsform mit dem nicht-okzidentalen magischen Denken im Kulturraum der brasilianischen Stadt übersieht er dabei nicht. Aber er bleibt insofern Kulturpessimist, als er behauptet, ein in Werbeagenturen beheimateter neuer „Menschenschlag“ nutze die Stadt als sein „weites und kaum Widerstand leistendes Projektionsfeld“, um eine überall zu beobachtende Homogenisierung der visuellen Codes zu betreiben.16

Heute kann man das nicht mehr einfach so behaupten. Ein neues „Sehen“ ist im Entstehen, und es wird wie in São Paulo durch die politische Intervention begünstigt, welche die Projektionsfelder einer auf Kommerz abgestellten Gruppe von Akteuren beschneidet. Das erinnert an die „Slow Food“-Bewegung, der es um die Aufwertung des genussvollen, bewussten und regional geprägten Essens geht. Jenes „Sehen“ aber, wie Meirelles bemerkte, befreit vom permanenten Imperativ des „Lesens“ und der „Lesbarkeit“. Mit dem Sehen hingegen bewegen wir uns in Richtung eines Zeitalters neuer visueller Kulturen, in dem es darum gehen wird, „Explizitmachung“ zu leisten: das bedeutet, nach den technischen auch auf theoretischer wie künstlerischer Ebene neue und unerwartete Interfaces für Wahrnehmungen zu schaffen. Doch damit eröffnet sich eine erkenntnistheoretische Dimension, deren Auslotung sich im gegebenen Zusammenhang erst schematisch andeutet.

Anmerkungen:

1 W. Benjamin: Vereidigter Bücherrevisor, in: Medienästhetische Schriften, Frankfurt/Main 2002: 196f.

2 F. Hartmann, E. Bauer: Bildersprache. Otto Neurath, Visualisierungen, Wien 2006

3 N. Klein: No Logo! Der Kampf der Global Players um Marktmacht, München 2001

4 M. Serres: Das eigentliche Übel. Verschmutzen, um sich anzueignen? Berlin 2009: 62

5 M. Lorenz: Vandalismus als Alltagsphänomen, Hamburg 2009: 51

6 B. Latour: Iconoclash. Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges? Berlin 2002

7 K. Lasn: Culture Jamming. Das Manifest der Anti-Werbung, Freiburg 2008

8 J. Baudrillard: Kool Killer, oder Der Aufstand der Zeichen, Berlin 1978: 23

9 Banksy: Wall and Piece, London 2007

10 S. Sagmeister: Things in my life that I have learned so far, Mainz 2008

11 R. Dempf et al. (Hg.): Delete! Die Entschriftung des öffentlichen Raums, Freiburg 2006: 63f.

12 Ebd.: 93

13 H. Plessner: Anthropologie der Sinne (1970), Ges. Schriften III, Frankfurt/Main 2003

14 Ch. Mouffe, in Dempf (Hg.) 2006: 146

15 V. Flusser: Alte und neue Codes: Sāo Paulo, in: ders.: Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen, Schriften Band 5, Mannheim 1994: 287ff.

16 Ebd.: 312

Frank Hartmann, geboren 1959, ist Professor für Geschichte und Theorie der Visuellen Kommunikation an der Bauhaus-Universität Weimar und war im Sommer 2010 Gastprofessor an der USP – Universidade de São Paulo, wo u. a. dieser Text vorgetragen wurde. Zuletzt erschien Medien und Kommunikation (Facultas WUV, 2008).

Quelle: Recherche 3/2010

Online seit: 20. Oktober 2019

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