In seiner historischen Fallstudie Der Buchdruck in der frühen Neuzeit analysiert Michael Giesecke die Formung der europäischen Kultur durch eine Schlüsseltechnologie. Mit systemtheoretischen Mitteln wird die Frage aufgearbeitet, wie der Druck sich als Kulturtechnik der Informationsverarbeitung durchgesetzt, aber auch die eindimensionalen Erkenntnis- und Kommunikationstheorien der westlichen Industrienationen begründet hat. Giesecke hebt dabei neuronale und technische Prozesse auf eine gemeinsame Beobachtungsebene. Digitale Medien sollen nun wieder mehr von der Komplexität unserer prinzipiell multimedialen Kultur zulassen, als dies in den vergangenen Jahrhunderten möglich war – sofern es der Informationsgesellschaft gelingt, sich von den Mythen der Buchkultur zu lösen. Dazu gehört auch eine neue Form der Kommunikationswissenschaft auf kulturvergleichender Grundlage, welche die Heterogenität kommunikativer Welten jenseits der typografischen Monokultur anerkennt.
FRANK HARTMANN Wir wollen uns über Kommunikation unterhalten. Den Generationen vor uns wäre dies noch absolut kein Thema gewesen. Was hat sich geändert, was bedeutet dieses gestiegene Interesse an den Funktionen und Dysfunktionen von Kommunikation?
MICHAEL GIESECKE Ich plädiere schon lange für eine radikale Historisierung des Konzepts von Kommunikation. Was heißt: Jede Kultur definiert für sich selbst, welche Phänomene sie als Kommunikation anspricht, was informativ ist und welche Medien als Kommunikationsmedien anzusehen sind. Bei der Kommunikation, die in den gegenwärtigen Diskursen thematisiert wird, handelt es sich um ein neues Konzept. Früher genügte es den Menschen, ihr Gegenüber zu überzeugen, mit ihm zu argumentieren, Meinungen, Geheimnisse und Neuigkeiten zu verbreiten, seine Sprache zu gebrauchen. Es reichte aus, rhetorische Konzepte zur Überredung und philosophische oder juristische Theorien über die Argumentation zu entwickeln sowie poetische Konzepte über das Erzählen, Handbücher über den grammatikalisch richtigen Sprachgebrauch, sachgerechtes Beschreiben oder eine gepflegte Konversation zu verfassen. Kommunikation erschien als Spezialfall sozialen Handelns, in dem man sich der Sprache als Werkzeug bediente. Und das Handeln stellte man sich als Veränderung der organischen und anorganischen Natur vor, also als einen materiellen Prozess. Das hat sich in der letzten Zeit gewaltig geändert. Zum einen löste sich unser Verständnis von Kommunikation von den Menschen und weitergehend auch von den Lebewesen überhaupt. Zum anderen hat es sich von den materiellen Dingen und Verhältnissen entfernt und fokussiert stärker die Prozesse der Informationsverarbeitung.
Die Gegenbegriffe zur Materie und zu den physikalischen Prozessen sind Information und Kommunikation: Das mechanische Weltbild, welches den Aufschwung der Industrie und damit auch der Industrienationen ermöglichte und von diesen gefördert wurde, ist ein materialistisches Weltbild. Erst wenn man zugesteht, dass Information und Materie gleichursprünglich sind, entsteht ein alternatives Weltbild – das der kommunikativen Welt. Das wachsende Interesse an Kommunikation geht also einher mit einer ontologischen Aufwertung von Information und einer Abwertung mechanischer Prozesse und materieller Gegebenheiten. Frühere Generationen sahen keineswegs überall Kommunikation und Information, erst in den 1960er Jahren ließ sich Paul Watzlawicks Behauptung, dass es unmöglich ist, nicht zu kommunizieren, werbewirksam verkaufen. Ihre Geltung wird heute wie selbstverständlich hingenommen – für Menschen sowieso, aber zunehmend findet auch niemand etwas dabei, wenn von kommunizierenden Institutionen, Tieren, Computern, Genen, Neuronen und vielem anderen mehr die Rede ist. Der Ausdruck ist in der Umgangssprache zu einer Generalmetapher geworden, mit vielen positiven Konnotationen, aber kaum auffindbarem Denotat. Doch der Kommunikationsbegriff des 21. Jahrhunderts kann sich nicht auf die Modellierung sozialer bzw. zwischenmenschlicher Kommunikation beschränken und sollte weit allgemeiner angelegt sein: Kommunikation ist immer auch Informationsverarbeitung. Die Frage lautet jedenfalls nicht Was ist Kommunikation?, sondern Welcher Kommunikationsbegriff ist für das Verständnis unser Welt im Hier und Jetzt am fruchtbarsten? Historische Ausflüge helfen dabei, alternative Kommunikationskonzepte zu erkennen.
Das wachsende Interesse an Kommunikation geht also einher mit einer ontologischen Aufwertung von Information und einer Abwertung mechanischer Prozesse und materieller Gegebenheiten.
HARTMANN Sie sind in der Fachwelt bekannt für Ihre profunden Forschungen zur Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, wie dies im Untertitel Ihrer großen Studie zum Buchdruck heißt. Doch die darin aufgeworfenen Fragen sind nicht die eines Buchhistorikers, denn Sie befassen sich mit der strukturellen Problematik der Einführung neuer Informationstechnologien. Ihre Art, die Fragen rund um die medientechnische Innovation anzugehen, die Gutenberg zugeschrieben wird, scheint mir ungemein originell zu sein – allerdings im Lichte der Internet-Revolution. Als Sie 1991 diese Studie erstmals publizierten, gab es das Internet der akademischen Ressourcen, doch das Web war nicht mehr als ein Hypertext-Konzept, von dem noch niemand wissen konnte, ob es sich je durchsetzen würde. Inwiefern war Ihnen denn der medial turn bei den damaligen Forschungen schon präsent?
GIESECKE Die Grundidee dieser Untersuchung war es, die alten Medien im Lichte der neuen Medien, also die Buchkultur als typographisches Informationssystem zu beschreiben. Ich habe mich damals dafür entschieden, eine systemische und informationstheoretische Sprache zu wählen, wie sie auch bei der Beschreibung elektronischer Medien verwendet wurde. An den frühen Rechnern, mit denen ich im Rahmen kommunikativer Sozialforschung zu tun hatte, ist mir klar geworden, dass Informationsverarbeitung ein mehrphasiger Prozess ist, in dem die Wahrnehmung ebenso große Bedeutung besitzt wie die eigentliche Datenverarbeitung. Dies mag dazu geführt haben, dass ich mich viel ausführlicher mit den wahrnehmungstheoretischen Voraussetzungen der typographischen Medien beschäftigt habe, als dies sonst geschehen ist. Der enge Zusammenhang zwischen der in der Renaissance gepuschten und als Perspektive bezeichneten Wahrnehmungstheorie und dem Typographeum blieb mir immer gegenwärtig, bis hin zu der noch immer aktuellen Frage, welche Wahrnehmungs- oder Erkenntnistheorie denn für unserer Zeit mit ihren elektronischen Medien angemessen ist. Dass dies nicht jene sein kann, die für die Bedürfnisse der Industriekultur entwickelt wurde, dürfte auf der Hand liegen.
Im Gegensatz zu vielen Kollegen habe ich mich aber nie bemüht, eine der verschiedenen Programmiersprachen zu lernen. Dies schien mir kaum mehr zu sehr sein als die Anwendung philologischer und linguistischer Prinzipien auf eine weitere Textsorte und eine andere Sprache. Da mich nun einmal radikale Innovationen interessieren und Reformen nur als ein unvermeidliches Nebenprodukt eines solchen Interesses auftauchen, blieben die Anregungen aus dieser Richtung gering. Man kann keine Geschichte kultureller Revolutionen schreiben, wenn man die artikulierten Bedürfnisse der Zeitgenossen fokussiert.
HARTMANN Sie erweitern Ihre Bücher inzwischen auch durch eine beigelegte CD-ROM mit digitalem Text- und Bildmaterial und durch ein umfassendes Web-Angebot.
GIESECKE Nach der inzwischen erreichten Technisierung des Kommunikationssystems war die für mich wichtige Frage die nach einer den neuen Medien angemessenen öffentlichen Präsentation des Wissens. 1993 entstand meine erste hypertextbasierte Website und von 2000 an habe ich die Datenbanken zu meinen Forschungen ins Netz gestellt. Viel Nachdenken kosteten dabei Visualisierungen von Modellen. Insgesamt ist das Projekt für mich – und wohl auch für die meisten Nutzer – unbefriedigend geblieben, da es den technischen Möglichkeiten beständig hinterherhinkt. Entsprechend habe ich den Schwerpunkt in den letzten Jahren auf die Beantwortung der Frage gelegt, welche Erkenntnistheorie und welches Denken für die posttypographische Kultur sinnvoll sind.
HARTMANN Die Forderung nach einer anderen Erkenntnistheorie ist ja nicht neu, schon 1953 forderte sie McLuhan in seinen Überlegungen zu Culture without Literacy. Dabei wurde vor allem die Syntheseleistung der neuen Bildmedien betont. Visuelle Kommunikation sorgt für die Rückkopplungsintensität in einer komplex gewordenen Kultur, und McLuhans gerade für seine Zeit doch beachtliche Diagnose sprach der Bildlichkeit eine zunehmende kulturelle Bedeutung zu. Nun spielt in Ihrer Theoriebildung das kybernetische Denken ja auch eine wichtige Rolle. Kybernetisch nennt man ein Denken, das die Welt nicht länger in Subjekt-Objekt-Verhältnissen erfasst, sondern Information als ein Drittes hinzunimmt. Gegenüber einem statischen Oppositionspaar von Subjekt/Objekt oder auch Natur/Kultur wird so das Prozesshafte betont. Entspricht das dem, was Sie mit dem Konzept des triadischen Denkens ansprechen?
GIESECKE Sie haben diesen Gedanken des „tertium datur“ ja in Ihrem Buch Mediologie aufgegriffen und weiterentwickelt. Es liegt hier ein mögliches Feld triadischen Denkens vor, das viele Wurzeln gerade in älteren Kulturen hat und auf vielen Feldern fruchtet. Das triadische Denken versteht sich in der Tat als Ergänzung und Alternative zum elementaren logischen Denken mit seinen Ja/Nein-Entscheidungen, welches Phänomene durch die Zurückführung auf eine einzige Ursache erklärt. Für mich war es immer ein Rätsel, warum Soziologen und Kulturwissenschaftler, die beständig Innovationen in unserer Kultur erkennen, so wenig Anstoß an der Langlebigkeit der aristotelischen Logik nehmen. Es geht auch über interaktionistisches und dialektisches Denken hinaus, welches die Phänomene als Produkt der Wechselwirkung zwischen zwei Faktoren erklärt. Wir suchen keine Synthese als Ergebnis des Mit- und Gegeneinanders von These und Antithese.
Jedes Phänomen, welches triadisch erklärt wird, hat drei ursächliche Faktoren. Damit kritisiert dieses Konzept aber auch diffus ganzheitliche, multifaktorielle, chaotische Beschreibungen, die zahlreiche oder unüberschaubar viele Faktoren zur Erklärung heranziehen. Mit Rückgriff auf die logische Typenlehre von Whitehead/Russell und Gregory Bateson wird davon ausgegangen, dass die Welt auf verschiedenen Ebenen emergiert: Phänomene auf der einen Ebene lassen sich als Produkt des Zusammenwirkens von Phänomenen auf einer anderen, darunter liegenden erklären. Als Prinzip der Komplexitätsreduktion fordert das triadische Denken dazu auf auszuloten, welche Phänomene sich als das Produkt der Balance zwischen drei Polen verstehen lassen. Das Niveau triadischen Denkens wird unterschritten, wenn wir nach Entweder/Oder-Entscheidungen suchen. Es wird überschritten, wenn wir mehr als drei Faktoren berücksichtigen.
Für mich war es immer ein Rätsel, warum Soziologen und Kulturwissenschaftler, die beständig Innovationen in unserer Kultur erkennen, so wenig Anstoß an der Langlebigkeit der aristotelischen Logik nehmen.
HARTMANN Gilt dies nur für das Verstehen kommunikativer Phänomene?
GIESECKE Nein, das neue triadische Denken erhebt nicht den absoluten Geltungsanspruch des monokausalen Denkens: dass sich für alles in der Welt letztlich eine einzige Ursache finden lässt. Aber es kennt auch keine absoluten Grenzen. Es ist klar, dass nicht alle Phänomene triadisch zu verstehen sind und erst recht nicht ein für alle Mal. Das triadische Denken ist zeit-, kontext- und perspektivengebunden und somit fallbezogen. Das Ideal ist nicht höchstmögliche Allgemeinheit der Erklärung, wie dies für die neuzeitlichen Wissenschaften gilt, sondern bestmögliches Verständnis des konkreten Falls. Als Prinzip der Komplexitätsreduktion fordert das triadische Denken dazu auf auszuloten, wie kommunikative Phänomene sich als das Produkt der Balance zwischen drei Polen verstehen lassen.
HARTMANN Und für Sie ist das ja keineswegs graue Theorie, sondern ein guter Teil Erfahrungswissen – Sie haben neben Ihren historisch angelegten akademischen Studien auch in gruppendynamischen Projekten gearbeitet und Ihre Erkenntnisse in Beratungs- und Supervisionstätigkeiten vertieft.
GIESECKE Wirklich nachhaltige Ideen sind nicht von heute auf morgen da. Wenn ich auf meine Forschungstätigkeit zurückblicke, finden sich von Anfang an mehr oder weniger explizite triadische Ansätze, schon seit den Unterscheidungen der Medien der „Bedeutungsübertragung“, wie ich es damals nannte, beim kindlichen Spracherwerb: enaktive, visuell-ikonische und akustisch-sprachliche. Spracherwerb erfolgt panmedial und will auch so gelehrt und untersucht werden. Während das triadische Denken im akademischen Kontext eher misstrauisch aufgenommen wird, trifft es im Alltag von Beratungen und gerade auch beim Training kommunikativer Schlüsselqualifikationen auf mehr Offenheit. Das hängt damit zusammen, dass jemand, der ein durch Entweder/Oder-Algorithmen zu lösendes Problem hat, sich wohl kaum in eine Beratung begibt. Doch wer vor einschneidenden Veränderungen in seiner Karriere steht, dem nutzt weder der Blick allein auf Geld noch auf die Familie, Qualifikationen, Macht usw.; er wird immer nach einer befriedigenden Balance suchen, braucht aber Hilfe, um die Vielzahl der Variablen zu reduzieren und dann zu erkennen, welche ihm wie wichtig sind.
Und es ist am Ende niemals nur eine einzelne Variable. Allerdings werden die einzelnen Einflussfaktoren unterschiedlich prämiert. In Beratungen und Trainings lassen sich solche Gewichtungen veranschaulichen – im aktuellen Buch meiner Frau finden sich dazu anschauliche Fallbeispiele (Kornelia Rappe-Giesecke: Triadische Karriereberatung. Begleitung von Professionals, Führungskräften und Selbständigen. Edition humanistische Psychologie, 2008). Triadisches Denken ist ökologisches Denken, da es von begrenzten Ressourcen ausgeht – zuallererst natürlich unserer menschlichen Wahrnehmung selbst. Es fetischisiert allerdings auch nicht das Gleichgewichtsideal.
HARTMANN Mir scheint damit etwas angesprochen zu sein, das unter die Oberfläche der gängigen Medientheorie-Diskurse zielt, bzw. etwas, das jenseits der Frage nach Übertragungen und Vermittlungen oder auch den in der Systemtheorie fetischisierten Unterscheidungen angesiedelt ist: die Frage danach, wie ein Dialog schaffender gleichwertiger Austausch möglich ist – und zwar sowohl auf der Mikroebene des interpersonellen Gesprächs als auch auf der Makroebene der interkulturellen Kommunikation. Gerade auf letzterer Ebene glaubte die europäische Kultur ja lange Zeit, sich alles leisten zu können – ein Glaube übrigens, der allen Fundamentalismen eigen ist. Der westliche, christliche Fundamentalismus mit seinem Missionierungsbestreben jedenfalls führte zu einer Umsetzung in eine Wissenspolitik, die bekanntlich nicht danach fragt, wie wir an andere Orte gelangen, sondern wie sich das Andere erobern lässt. Auch hier setzte sich die zweiwertige Logik des Ja/Nein massiv durch, mit den gängigen dyadischen Unterscheidungen: Gläubig/Ungläubig, Mensch/Untermensch, Wissen/Nichtwissen …
GIESECKE Und diese Idee, es gäbe Kulturen ohne begrenztes Territorium!
HARTMANN Nun legen Sie aktuell einen kulturvergleichenden Ansatz vor, der die Kommunikations- und Medienkonzepte fremder Kulturen nicht anzunehmen oder abzulehnen trachtet, sondern in ihrem Eigensinn zu begreifen versucht – wenn ich das richtig verstehe, nur: Was gibt es nach all den Eroberungen, die stets auch Vernichtungen waren, da eigentlich noch zu entdecken?
GIESECKE Nicht jede menschliche Informationsverarbeitung ist Denken, folglich wird es auch Entdeckungen geben, die nicht erdacht, nicht kognitiv verstanden sind. Man kann sich in anderen Kulturen pudelwohl fühlen – ohne dass man dafür Gründe angeben kann. Viele Dimensionen der Fremdheit stehen zwischen mir und der Dorfgesellschaft auf der ostafrikanischen Insel Pemba. Ich kann versuchen, sie zu verstehen, sehe Menschen, einfache Technik und Natur, ich kann Unterschiede in der Gewichtung dieser drei Faktoren einer Kulturtriade zwischen Europa und jener Insel festmachen. Das ist eine Komplexitätsreduktion, die zugleich Gemeinsamkeiten – eben die Basisfaktoren – als auch die Unterschiede zeigt. Wenn ich mich nicht auf meine Wissenschaftlerrolle reduziere, habe ich weit mehr Möglichkeiten, ein Spiegel für diese Kultur zu sein – und vielleicht auch selbst dort Resonanz zu erzeugen. Die gemeinsame Feldarbeit beispielsweise bringt beiden Seiten Erfahrungen, die sich ebenso wenig ausbuchstabieren lassen wie kinästhetische Erfahrungen in der eigenen Kultur. Die Bedeutung solcher wechselseitigen Akzeptanz, die auf diesem Wege erzeugt wird, dürfte erheblich unterschätzt werden – aber sie ist an Menschen und nicht an Bücher gebunden. Menschen sind die mannigfaltigeren Spiegel und hier brauchen wir ein Verständnis von Kommunikation als Spiegelung, Resonanz und Pacing. Es gibt enge Grenzen für interkulturelle Dialoge, wenn sie auf Basis der Werte und Normen der typographischen Kultur geführt werden, woraus denn folgt, dass man besser diese Prämissen hinterfragt und ersetzt, wenn man andere Formen des Miteinanders will.
Als Gegengewicht zur begrifflichen, typographischen Weltaneignung hat mich immer die Kunst begleitet. Jede Bildschöpfung geht durch Wehen, muss eine spannende Balance zwischen grundverschiedenen Gestaltungsfaktoren herstellen. Und Harmonie bedeutet selten Gleichgewicht. Das unterscheidet die Figuren und Geschichten, die etwa Goethe erzählt, von jenen, die weniger talentierte Dichter hervorbringen. Bei Goethe habe ich noch keine Figur gefunden, deren Handlungen nicht das Produkt gegenläufiger Motive gewesen wäre. Sein Bild des wahrnehmenden, denkenden und handelnden Menschen – das formuliert wurde, bevor sich zweckrationale Industriekultur und analytische Wissenschaft durchsetzten – entspricht ganz dem triadischen Denken. Es unterscheidet sich nämlich von der herrschenden Erkenntnistheorie in wichtigen Punkten. Der Mensch wird als multisensorielles Wesen begriffen, das Informationen mit mehreren Prozessoren zugleich verarbeiten und in mehreren Medien darstellen kann. Die Erkenntnisprozesse laufen nicht nur linear nacheinander, sondern auch simultan nebeneinander ab und befinden sich in Rückkopplungsschleifen. Ohne ein solches, wie Goethe sagt: „mannichfaltiges“ Bild vom Menschen und seinen Erkenntnisweisen dürfte das triadische Denken kaum zu verstehen sein. Goethes Italienische Reise, eine außerordentliche Selbsttherapie, in der alle Facetten der Persönlichkeit und ihrer Beziehung zur Umwelt thematisiert werden, das ist denn auch das Projekt, dem ich in den letzten Jahren meine Hauptaufmerksamkeit gewidmet habe.
Künstler haben weniger Probleme, bewusstseinsfreie Kommunikation, Emergenz und triadisches Balancieren als Produktivkraft zu erleben. Und sie prämieren auch nicht einseitig Wissen, Verstehen, Vernetzung oder Gedächtnis. Sie begreifen, dass auch das Weglassen, das Geheimnis, eine unterlassene Verknüpfung eine Information ist, die dem Betrachter, Hörer oder Leser hilft. Erst wenn unsere Kultur beginnt, daran zu zweifeln, dass ausformuliertes Wissen immer nützlicher als Geheimnisse, die Erinnerung wichtiger als das Vergessen, die Vernetzung zwischen den Menschen und Kulturen segensreicher als deren Unterbrechung ist, beginnt die posttypographische Erkundung.