Kritik der kognitiven Autorität

In ihrem neuen Buch Die Macht der Erkenntnis gehen Nico Stehr und Reiner Grundmann der Frage nach, ob und wie Wissenschaft in Politik und Gesellschaft wirksam werden kann. Von Frank Hartmann

Online seit: 15. November 2019

Erkenntnis und Interesse, so lautete der Titel von Band 1 der Reihe „Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft“, geschrieben von niemand geringerem als Jürgen Habermas. Das Zeug zum Klassiker hatte er dennoch nicht, denn man merkt den in ihm versammelten Gelegenheitstexten ihren Entstehungskontext allzu deutlich an: 1968 mit all den verquasten Debatten um Marx und Hegel, Hegel und Marx, getragen von einem larmoyanten Unterton über zu kurz gegriffene Erkenntnistheorie und zu wenig Reflexivität in den Wissenschaften. Ironischerweise wurde genau das, was der Auftaktband wortreich beklagt, in den Nachfolgejahrzehnten zum Hauptgeschäft der STW-Reihe: die Verschiebung von Erkenntnistheorie in Richtung Wissenschaftstheorie.

In ihren interessanteren Ausprägungen gelang es inzwischen gerade der Wissenschaftstheorie zu zeigen, wie sich wissenschaftliche Erkenntnisse konstituieren und wie sie für die Gesellschaft nutzbar sind. Wissenschaft erzeugt eine hohe kognitive Autorität, die unsere Wissensgesellschaft durchzieht und dabei ambivalenten politischen Einfluss nimmt, wie zuletzt an der Klimadebatte deutlich wurde.

Vielleicht wird inzwischen aber die Grenze zwischen diesen Meta-Diskursen einfach nicht mehr so strikt gezogen. Habermas schoss sich auf den „Positivismus“ ein, gegen dessen Theorem, es gebe eine wertfreie Darstellung wissenschaftlich beobachteter Daten, er den Einwand vorbrachte, jeder Erkenntnis sei ein bestimmtes (technisches, kritisches etc.) Interesse vorgängig. Daher darf die Frage, welche Interessen und gesellschaftliche Faktoren auf die Entwicklung der Wissenschaften und ihrer Erkenntnisse einwirken, aus dem Wissenschaftsdiskurs nicht verschwinden, sonst wird er ideologisch. Wer glaubt, es gebe eine unbedingte wissenschaftliche Objektivität und was einmal Wissenschaft sei, bleibe für immer Wissenschaft, der täuscht sich.

Epistemische Gemeinschaften

Das Problem ist nicht nur, dass Wissenschaft in den Dienst bestimmter Interessen gestellt werden kann, sondern – verschärft – dass es das gibt, was Soziologen „epistemische Gemeinschaften“ nennen. Diese treten vor allem dann in Aktion, wenn es Unsicherheiten gibt, und die aktuelle Konjunktur der Experten- und Beraterkultur scheint auf grundlegende Unsicherheiten in der Gegenwartsgesellschaft hinzuweisen, wie Nico Stehr und Reiner Grundmann in ihrem Buch Expertenwissen. Die Kultur und die Macht von Experten, Beratern und Ratgebern zeigen.

Epistemische Gemeinschaften erzeugen jenen kognitiven Konsens, der politisches Handeln vor allem in Krisenzeiten leichter machen soll. Sie besitzen aber auch die Mittel, den Zugang und die Kontrolle von Forschungsergebnissen zu kanalisieren. So haben etwa die Klimaforscher bis vor kurzem ihre Rohdaten nicht öffentlich zugänglich gemacht. Interessenpolitische Interpretationen sind dadurch leichter möglich, und es entsteht auch der Verdacht, dass manipulierte Daten in der Diskussion eine Rolle spielen, die sie eigentlich nicht haben dürfen. Zuletzt passierte das im Vorfeld der UNO-Klimakonferenz 2009; der gehackte E-Mail-Verkehr ließ dann den Verdacht aufkommen, die Theorie der Klimaerwärmung beruhe auf einer verzerrten Datenlage und sei daher anzuzweifeln.

Ist es nun richtig oder auch nur legitim, eine politische Debatte durch die wissenschaftliche Expertise zu steuern? Das ist eine Auffassung, die schon von Otto Neurath in den 1920er-Jahren vertreten wurde. Seine emphatisch vorgetragene „wissenschaftliche Weltauffassung“ sollte die Gesellschaft vereinen und wissenschaftlich rationale, auf Statistik beruhende Argumentation die politischen Konflikte lösen. Kann das die Wissenschaft leisten? Sind die sozialpolitischen Probleme in diesem Sinne rational lösbar?

In ihrer Analyse der einschlägigen Forschungsliteratur kommen Nico Stehr und Reiner Grundmann in Die Macht der Erkenntnis zunächst zu dem Schluss, die Sozialwissenschaftler wären gespalten über die Frage, welchen Einfluss Wissen auf die Politik haben kann. Sie untersuchen dann in drei prominenten Bereichen die Mechanismen, mit denen Erkenntnisinteressen erzeugt bzw. Wissensansprüche durchgesetzt werden: Wirtschaftspolitik, Rassenwissenschaft und Klimaforschung.

Wer glaubt, es gebe eine unbedingte wissenschaftliche Objektivität und was einmal Wissenschaft sei, bleibe für immer Wissenschaft, der täuscht sich.

Die Frage, der sie dabei auf den Zahn fühlen, ist alt. Wie kann wissenschaftliche Erkenntnis praktisch wirksam werden, mit dem Vorbehalt, dass zwischen Nutzen und Wahrheit der Erkenntnis eine klare Trennung gemacht werden soll? In der Diktion von Habermas: wie ist jeweils das Erkenntnisinteresse explizit zu machen, wie in der Forschungsfragestellung die Reflexivität mit dem Anspruch auf Transparenz zu retten?

Die Öffentlichkeit, die hier flugs angeführt werden kann, ist dafür kein unbedingter Garant. Die ein Jahr nach dem Skandal erfolgte Veröffentlichung von Rohdaten der Klimaforschung etwa erzeugte schon auf quantitativer Ebene das Problem der Unübersichtlichkeit, sodass es wiederum der Experten bedurfte, um diese auszuwerten. Öffentlichkeit allein bewirkt gar nichts, auch nicht das wissenschaftliche Publizieren. Die Erkenntnisse der Klimaforschung, behaupten beispielsweise die Autoren, hätten einen überraschend geringen Einfluss auf die praktische Politik. Gerade weil in diesem Fall die Medienberichterstattung alarmistisch, der wissenschaftliche Konsens im Hintergrund aber eher minimalistisch ist, fragt sich, was dazu eigentlich ausgesagt werden soll, außer dass der Hang zur irreführenden Übertreibung seitens der Wissenschaftler (betreffend Schmelzen der Gletscher und falsch berechnetem Anstieg des Meeresspiegels) zu Recht kritisiert wird.

Die Argumentation, die Grundmann und Stehr verfolgen, darf dennoch hellsichtig genannt werden: durch die wissenschaftliche Herangehensweise verspricht sich die Entpolitisierung drängender sozialpolitischer Fragen, die Praxis der Wissenschaft unterläuft dieses Versprechen selbst jedoch permanent (sie kann gar nicht anders, weil sie eben Teil dieser Praxis ist und somit unweigerlich von deren Interessen geprägt).

Rassenforschung

Nehmen wir gleich den heikelsten Fall, die Rassenwissenschaft, die uns heute natürlich „unwissenschaftlich“ erscheint. Ihre Vertreter haben korrekt erhoben und vermessen und sind so zu Erkenntnissen wie jener gelangt, dass Menschen mit anthropometrischen Ähnlichkeiten auch ähnlich denken und sich ähnlich verhalten. Dennoch ist „Rasse“ eine kulturelle Kategorie, die von der zeitgenössischen Wissenschaft aber als biologische interpretiert wurde. Und es ist dieses Konstrukt, welches dann seine politische Funktion erfüllen sollte, indem der vermeintlich natürlichen Auslese mit Giftgas kräftig nachgeholfen wurde.

Im aktuellen Diskurs der Klimaforscher lasse sich ein strukturell ähnlicher Konsens ablesen: dass die Menschen den Klimawandel verursachen, gilt als auf wissenschaftlicher Ebene geklärte Tatsache. Es interessiert nun nicht vordergründig, ob dem tatsächlich so ist, sondern wie dieser Konsens über den Klimawandel zu Stande kommt und wie die Wissenschaft damit auf die Handlungsoptionen der Politik einwirkt.

Ganz bewusst angestrebt hatte das einst die Wirtschaftstheorie von John M. Keynes, einem Vertreter der Auffassung, dass Theorie für Politik und Verwaltung nützlich sein müsste. Dem britischen Ökonomen ist es bekanntlich gelungen, nationalstaatliche Wirtschaftspolitik nachhaltig zu beeinflussen. Deren praktische Relevanz lässt aber in dem Maße nach, in dem Nationalökonomien einer globalen Wirtschaftpolitik unterworfen werden. Handelte es sich also nur um eine für manche faszinierende Theorie? Immerhin, so argumentieren Grundmann und Stehr, beeinflusste sie die Gesetzgebung zur Arbeitsmarktpolitik, aber dieser politische Kontext kann sich eben auch ändern.

Öffentlichkeit allein bewirkt gar nichts, auch nicht das wissenschaftliche Publizieren.

Was also kann nun über den potenziell praktischen Einfluss von Ideen, die auf wissenschaftliche Erkenntnis bauen, ausgesagt werden? Was die Beantwortung dieser Frage anbelangt, so bauen die Autoren eine hohe Erwartungshaltung auf, der ihre Ausführungen nur bedingt gerecht werden. Die Lektüre gestaltet sich mühsam, da mit den Bereichen Ökonomie, Rassentheorie und Klimaforschung zwar interessante Aspekte abgehandelt werden. Konkret aber bleibt das Fazit unscharf, auch werden, nach der gängigen Unsitte angloamerikanischer Wissenschaftspublizistik, Satz für Satz eigene Aussagen mit bis zu fünf, sechs pauschalen Autorenbezügen belegt. Die Trennlinie zwischen Lektürebericht und eigener Argumentation bleibt dann ebenso unscharf, wie es der oft allzu pauschale Bezug auf nicht mehr ganz taufrische soziologische Klassiker ist.

Wissen kann soziale Beziehungen zumindest latent beeinflussen, wie es an einer Stelle heißt. Das allerdings ist nun wirklich kein Schluss, dem irgendwelche Prägnanz nachgesagt werden könnte. Damit zurück zur Grundfrage, die mit Neurath gestellt wurde. Wenn Handlungsoptionen unter Berufung auf wissenschaftliche Autorität zur Disposition gestellt sind, kann die Wissenschaft dann wirklich leisten, was die Gesellschaft, und nicht nur die Politik, sich von ihr verspricht? Hier beziehen die Autoren klare Position: Wissenschaft dient allem Möglichen, nur nicht dem gesellschaftlichen Konsens. Da sind noch ganz andere Kräfte am Werk, und nicht umsonst trägt, wie sie abschließend festhalten, der Wissenschaftsdisput über den Klimawandel alle Zeichen eines religiösen Krieges.

Diese Beobachtung mag nun nicht falsch sein, aber der Vergleich ist eher billig. Interessant wäre es gewesen, eine soziologische Aufgabenstellung zu formulieren, wie es im Zuge neuerer Diskussion leicht möglich sein sollte. Statt rekonstruktive Diskurse zu führen – was sicherlich auch lobenswert ist –, könnte es für Soziologen doch spannend sein, sich in ihren Untersuchungen jener naiven Frage zu stellen, die Bruno Latour unlängst provokant aufgeworfen hat: „Wo werden die strukturellen Effekte tatsächlich produziert?“ Gelänge dieses Auftauchen aus den Textgespinsten und das Eintauchen in konkrete Empirie, dann bekäme die Soziologie möglicherweise wieder jenes Gewicht, das sie nach 1968 angesichts der politischen und ökonomischen Krisenereignisse ganz offensichtlich verloren hat.

Frank Hartmann, geboren 1959, ist Professor für Geschichte und Theorie der Visuellen Kommunikation an der Bauhaus-Universität Weimar. Zuletzt veröffentlichte er: Medien und Kommunikation (WUV, 2008) und Multimedia (WUV, 2008).

Quelle: Recherche 3/2011

Online seit: 15. November 2019

Nico Stehr und Reiner Grundmann: Expertenwissen. Die Kultur und die Macht von Experten, Beratern und Ratgebern. Velbrück Verlag, Weilerswist 2010. 120 Seiten, € 14,80 (D) / € 15,30 (A).

Reiner Grundmann und Nico Stehr: Die Macht der Erkenntnis. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 318 Seiten, € 14 (D) / € 14,40 (A).