Die geisteswissenschaftliche Forschung befindet sich europaweit in der Defensive, immer mehr ist sie gefordert, die Notwendigkeit solcher Forschungen für die kulturelle und sozio-ökonomische Entwicklung mit Argumenten zu belegen. Die Schlagworte lauten „Demokratisierung des Wissens“ durch die sogenannten „Digital Humanities“, also durch die Verbreitung und Erschließung von Quellen mittels digitaler Medien und die Präsentation von Forschungsergebnissen im Internet. Institutionen wie die ÖNB besitzen hier aufgrund ihrer einzigartigen Bestände eine besondere Verantwortung, hier liegen zugleich die Chancen und Herausforderungen der großen „Gedächtnis-Institutionen“. Im Folgenden soll es darum gehen darzustellen, was eine große außeruniversitäre Institution zur geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschung beitragen kann.
Die verschiedenen Sammlungen und Abteilungen der Bibliothek haben in den letzten Jahren ein breit gefächertes Netz an nationalen und internationalen Kooperationen aufgebaut. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Koppelung zwischen den Forschungsprojekten und der Bestandsdokumentation gelegt. Es wird in Zukunft darauf ankommen, große geschlossene Bestände wie Nachlässe, Handschriften von der Antike bis in die Gegenwart, darunter auch bedeutende Musikhandschriften, Spezial-Archive wie die Sammlungen für Plansprachen, Bilder, Landkarten, Postkarten oder auch grafische Sammlungen von Plakaten als wesentlichen Teil einer globalen Forschungsinfrastruktur zu begreifen. Im Falle der ÖNB leuchtet dies aufgrund ihrer Vorgeschichte als Hofbibliothek mit Sammlungsbeständen, die weit über das kulturelle Erbe des heutigen Österreich hinausreichen, besonders ein.
Texte in Bewegung: Edition, Textgenese, kulturwissenschaftlicher Kommentar
Die kulturwissenschaftliche Forschung schenkt der Materialität des Schreibens, wie sie sich in den Beständen von Archiven dokumentiert, besondere Aufmerksamkeit. Mit den neueren Faksimileausgaben und den Möglichkeiten ihrer digitalen Umsetzung im Netz finden die Eigentümlichkeiten von Handschriften und ihre spezifischen Topographien eine unmittelbare Darstellung. Editionsprojekte machen einen wichtigen Teil der Forschungstätigkeit an der ÖNB aus. Einer der zukunftsweisenden Aspekte von Editionen ist deren Verbindung mit text- und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen. Das in historischer und typologischer Hinsicht außerordentlich vielfältige Quellenmaterial bietet Forschungsperspektiven vor allem unter medien- und kulturgeschichtlichen Aspekten sowie im Hinblick auf Fragen der Genderforschung (Beispiele: „Byzantinische Papyri“, „Fugger-Zeitungen“, „Die Privatbibliothek Kaiser Franz I.“, „Frauenbewegungen – Frauen in Bewegung“, „Geschichte und Theorie der Biographie“). Aber auch bibliotheks- und provenienzgeschichtliche Studien bauen auf diesen Quellen auf (Beispiel: „Die ÖNB während der NS-Zeit“).
Bereits Friedrich Schleiermacher begriff zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Akt philologischer Erkenntnis als einen Akt des Nachbildens des schon einmal Gebildeten. In Adornos Ästhetischer Theorie kulminiert dies in dem Satz, dass ohne Beachtung einer „Logik des Produziert-Seins“ moderne Ästhetik gar nicht vorstellbar sei – ausgehend von der Prämisse, dass man den Autor besser versteht, wenn man seine Arbeitsweise verstanden hat. Die „Schreibszene“ (Rüdiger Campe) umfasst als Erweiterung des hermeneutischen Ansatzes die Materialität und die Körperlichkeit des Schreibens, wie sie sich in der Verwendung spezifischer Technologien (Stilus, Federkiel, Bleistift, Schreibmaschine, Computer) und in entsprechenden Einpassungen der Person des Schreibenden (Gesten und andere Körper-Arrangements) zeigt.
Diesen Ansätzen sind einige der aktuell an der ÖNB durchgeführten mehrjährigen Forschungsprojekte gewidmet, die jeweils auf einem bestimmten Bestand aufbauen: Die Wiener Ausgabe der Werke Ödön von Horváths etwa strahlt aufgrund des offenen Textbegriffs, den das Projekt vertritt und fördert, auch auf die Theaterpraxis und die Schreibprozess-Forschung aus. In einem anderen Projekt zur Werkgeschichte Peter Handkes werden die werkgenetischen Bestände als tabellarische Daten, Werk- und Quellengeschichten und in Form von Faksimiles auch digital präsentiert. Damit wird eine neue und materialzentrierte Grundlage zu einer vertiefenden Beschäftigung mit einem der bedeutendsten österreichischen Gegenwartsautoren geschaffen.
An den Schnittstellen zwischen Edition und kulturwissenschaftlicher Kontextualisierung arbeitet ein Projekt zu den für Disziplinen wie Anthropologie, Musik- und Literaturwissenschaft, Exil- und Holocaustforschung wertvollen und großteils unpublizierten Texten des Schriftstellers und Philosophen Günther Anders. Durch ihre textkritische Erschließung soll die „latente Wirkungsgeschichte“ der Andersschen Thesen nachverfolgt werden, die von Arbeiten zu einer Phänomenologie des Hörens bis zu Fukushima reicht.
Die Papyrussammlung gilt nicht nur wegen ihrer umfangreichen Bestände (seit 2001 UNESCO Memory of the World) als eine der Schlüsselinstitutionen der Papyrologie. Seit Gründung der Sammlung am Ende des 19. Jahrhunderts sind neben Experten aus aller Welt durchgehend Wissenschaftler an ihr tätig, die an der systematischen Edition der Schriftzeugnisse in den diversen antiken Sprachen arbeiten. Ihre beiden Publikationsreihen zählen zu den renommiertesten Organen der Papyrologie: Das Corpus Papyrorum Raineri bietet Editionen von Papyri in altägyptischer, griechischer, koptischer und arabischer Sprache, die in Originaltext mit Übersetzung und historisch-sprachlichem Kommentar für ein breites Spektrum wissenschaftlicher Fächer (Philologien, Geschichte, Theologie, Rechtsgeschichte etc.) aufbereitet sind. Ergänzend zu den Corpus-Editionen werden in den Mitteilungen der Papyrussammlung Erzherzog Rainer thematische Textgruppen präsentiert und kulturhistorisch-analytische Abhandlungen zu den Inhalten von Papyrustexten geboten. Die Edition des so genannten Senuthios-Archivs (ein historisch höchst bedeutsames Archiv von dokumentarischen Papyri unmittelbar aus den Jahren der arabischen Eroberung Ägyptens um 640 n. Chr.), die Aufarbeitung aller jüdischen Papyri und Pergamente und ein Dissertationsprojekt zur Notarspraxis im byzantinischen Ägypten sind Beispiele aus der aktuellen Forschung.
Nicht nur hier besitzt die Materialität des Schreibens pragmatische Aspekte, indem die Konservierung der einzigartigen Überlieferungsträger mit deren Erforschung einhergeht. Das forMuse-Projekt „Miteinander der Kulturen in Ägypten“ untersucht Materialaspekte und Konservierungsmöglichkeiten spätantiker Textilien sowie koptische Texte, welche die Lebenswelt zur Entstehungszeit der Textilien beleuchten. Einen historisch gewachsenen Forschungsschwerpunkt stellt die Erschließung der mittelalterlichen illuminierten Handschriften und Inkunabeln dar, der als Paradebeispiel für eine vernetzte Forschungsaktivität angesehen werden kann, in die Universität, Akademie der Wissenschaften und Bibliothek eingebunden sind. Den fragilen Objekten der Sammlungen widmet sich ein weiteres forMuse-Projekt, das auf die Bestandserhaltung fokussiert: Hier werden die degradierende Wirkung von Kupfergrünpigmenten untersucht und konservatorische Behandlungsoptionen erprobt.
Über den Katalog hinaus: Die Präsentation von Beständen im Netz
Die Erschließung von Beständen und die Weiterentwicklung der Kataloge zu forschungsrelevanten Rechercheinstrumenten ist die zentrale Aufgabe der Bibliothek. Erst durch das Erfassen von Beständen wird das Material bekannt und steht der Forschung zur Verfügung. Ein Beispiel ist die Einführung der Datenbank für Handschriften, Autographen und Nachlässe HANNA. Die ÖNB ist bestrebt, die Qualität ihrer Rechercheinstrumente durch die Zusammenführung von verstreuten Datenbanken, die konsequente Digitalisierung relevanter Bestände und nicht zuletzt durch die Anreicherung der Katalogisate mit Ergebnissen aus der Forschung ständig zu verbessern. Der Austausch der MitarbeiterInnen mit den WissenschaftlerInnen ermöglicht eine zeitnahe Übernahme der Ergebnisse in die Rechercheinstrumente.
Ein Beispiel: Die kaiserliche Fideikommissbibliothek
Die Fideikommissbibliothek des Hauses Habsburg-Lothringen ist eines der wenigen Beispiele einer in sich noch fast vollständig erhaltenen historischen Familienbibliothek, die 1921 als „Spezialsammlung“ der ÖNB angeschlossen wurde und so dem Schicksal der Filetierung wie im Falle vieler anderer Herrscherbibliotheken weitgehend entrinnen konnte. Der Begründer dieser Bibliothek war Kaiser Franz I. (1768–1835), der „mit dem systematischen Aufbau einer alle Wissensgebiete umfassenden Privatbibliothek“ begann. Neben kostbaren Handschriften und alten Drucken sollten zeitgenössische Werke aller, insbesondere aber der Disziplinen Geschichte (Heraldik, Genealogie) und Rechtswissenschaften sowie Naturwissenschaften oder Geographie gesammelt werden. Schon beim Wiener Kongress 1814/15 bildete die Bibliothek ein Vorzeigeobjekt für die Gäste des Kaisers.
Die heute noch bestehende Bibliothek umfasst 60.000 Titel in 117.000 Bänden (Werke ab dem 16. Jahrhundert). Seit Februar 2011 erfolgt im Rahmen eines Retrokatalogisierungsprojektes die vollständige und systematische Aufnahme dieses Bestands in den Online-Druckschriftenkatalog der ÖNB. Parallel dazu werden im Rahmen eines vom FWF geförderten Projektes seine Geschichte bis zum Jahr 1835 rekonstruiert und der Aktenbestand über die Homepage der ÖNB einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Die Anreicherung klassischer Katalogdaten mit zusätzlichen so genannten Metadaten wird die wissenschaftlichen Recherchen in Zukunft entscheidend beeinflussen. Zusehends verschwinden die Differenzen zwischen den reinen Recherchetools und vielfältigen Formen der Präsentation. Im Bereich der Digitalen Bibliothek ist die ÖNB federführend in EU-geförderte Grundlagenforschungsprojekte und anwendungsorientierte Projekte eingebunden (sie ist derzeit an acht EU-Projekten beteiligt). Das Projekt „IMPACT“ beschäftigt sich beispielsweise mit der Frage, wie die Genauigkeit und Effizienz der automatischen Volltexterkennung (OCR) in der Massendigitalisierung historischer Druckschriften verbessert werden kann. Die Volltexte stellen eine wichtige Ausgangsbasis für quellenorientierte Forschung in den „Digital Humanities“ dar; unter Beteiligung von Institutionen wie zum Beispiel dem Wittgenstein-Archiv der Universität Bergen wird eine Forschungsplattform für die Kulturwissenschaften zur kollaborativen Arbeit an digitalisierten Büchern und Manuskripten entwickelt. Dazu kommen die Herausforderungen durch die digitale Langzeitarchivierung: Wie kann sichergestellt werden, dass auch zukünftige Generationen auf die digitalen Dokumente unserer Zeit zugreifen können? Das ebenfalls von der EU geförderte, vom Austrian Institute of Technology geleitete Projekt „SCAPE“ arbeitet an Technologien zum Beispiel zur Migration großer Datenmengen in aktuelle Datenformate.
Wie aus konventionellen Quellen wie Handschriften, Korrespondenzen und Fotografien multiperspektivische „Netzbiographien“ entstehen können, damit beschäftigt sich im Rahmen einer Kooperation mit dem „Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie“ ein ebenfalls mehrjähriges Projekt. Durch eine Verbindung zu vorhandenen Quellen und Dokumenten, zu publizierter Literatur sowie durch die Integration von Chroniken und AV-Uploads kann die Netzbiographie schließlich zum Zentrum einer personenzentrierten Forschungsplattform werden.
Die Sammlung als Ort der Forschung
Die ÖNB bietet insbesondere in den Sondersammlungen und in der Abteilung für Forschung und Entwicklung ein sehr gutes Forschungsumfeld. Die Infrastruktur der Lesesäle wurde in den letzten Jahren technisch auf den neuesten Stand gebracht. Im Mai dieses Jahres werden mit dem neuen „Ludwig Wittgenstein-Forschungslesesaal“ zusätzliche Arbeitsplätze ausschließlich für ForscherInnen zur Verfügung stehen. An den verschiedenen Spezialsammlungen der ÖNB existieren zudem Forschungsbibliotheken, die laufend aktualisiert werden.
Besonders für Fragen zur Bestandsgeschichte steht externen ForscherInnen die Kompetenz der MitarbeiterInnen zur Verfügung. Diese wissen oft am besten Bescheid, wenn es darum geht, Bestände einzuordnen, verwandte Quellen auszuforschen, auch neue Fragestellungen zu finden. Die Sammlungen verstehen sich als Ort des Austausches zwischen WissenschaftlerInnen und BibliothekarInnen. Durch Lehrveranstaltungen, die von Angehörigen der Universitäten und anderer Forschungseinrichtungen, aber auch von MitarbeiterInnen der ÖNB durchgeführt werden, tragen die Sammlungen entscheidend zur Vermittlung spezieller Expertisen und zur forschungsnahen Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses bei.