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Die seit Jahrhunderten fortdauernden, in jüngster Zeit wieder intensivierten Querelen um Leben und Werk des „William Shakespeare“ machen deutlich, wie schwer die Kritik – und darüber hinaus auch ein breiteres Publikum – sich weiterhin damit tut, Autorschaft und Anonymität zusammenzudenken. Gerade in diesem Fall, wo der Name des Verfassers gewissermaßen zum Titel seines Gesamtwerks geworden ist, scheint jeder Versuch, die Identität des Autors zu verunklären oder seine Autorität zu destabilisieren, einer Majestätsbeleidigung gleichzukommen und wird reflexartig zurückgewiesen, egal, ob er wissenschaftlich begründet oder bloß polemisch zugespitzt ist. Ungern lässt man sich von der Vorstellung abbringen, dass ein formal und inhaltlich so unverwechselbar geprägtes Œuvre wie dasjenige Shakespeares auf einen namhaften individuellen Urheber zurückzuführen ist, und nicht auf irgendwelche Zeitgenossen, die als geheimnislose Stellvertreter oder geheimnisvolle Rivalen herbeizitiert und beliebt gemacht werden.
Weit mehr noch als zu Beginn der Neuzeit gilt literarische Anonymität heute, da Autorschaft einem permanenten öffentlichen Rating unterworfen ist und Autoren mehr und mehr zu Egofirmen mutieren, als obsolet, wenn nicht gar als skandalös. Wer wollte Handkes oder Houellebecqs oder D. F. Wallace’s Texte lesen, wären sie nicht mit dem Label ihres Namens versehen und kontextuell von Homestorys, Interviews, Bestenlisten u.ä.m. begleitet! Und was wäre anzufangen mit einer Anthologie, mit einer Literaturgeschichte ohne Namen?
Unter diesem Gesichtspunkt ist und bleibt auch Shakespeares Status als Autor prekär. Gesicherte biografische Daten gibt es kaum, manche Jahre in seiner Vita gelten als „verloren“, nicht einmal sein Geburtsdatum und seine Schulausbildung können dokumentiert werden; sein Verhältnis zu Frau und Kindern, seine sexuelle Orientierung, sein Tun und Lassen als Geschäftsmann, sein politisches und religiöses Engagement, seine gesellschaftlichen Beziehungen sind ebenso schwer aufzuhellen wie die Entstehung seines umfangreichen Werks, das allein schon auf Grund der extrem schwankenden künstlerischen Qualität zu Zweifeln an der integralen Autorschaft eines (und nur eines) Verfassers mit dem Namen „Shakespeare“ (oder „Shakspere“? oder „Shake-Speare“?) Anlass geben kann.
Doch eben dieser in jeder Hinsicht schwach konturierte Mann, an dem sich faktisch nichts Geniales oder Heroisches festmachen lässt, steht weiterhin unangefochten für die „Erfindung des Menschlichen“ und wird als Schöpfer einer literarischen Anthropologie belobigt, die alle Epochen, Kulturen, Religionen und Nationen zu integrieren vermag. Der US-amerikanische Großkritiker Harold Bloom spricht in seiner Studie Shakespeare: Die Erfindung des Menschlichen nach eigenem Bekunden nicht nur für seine Zunft und für sich selbst, sondern für „jede beliebige Person“, wenn er Shakespeare als einen literarischen Schöpfergott preist, dem „wir“ unsere Menschlichkeit verdanken, unser Selbstbewusstsein, unsere Gefühle. Shakespeares lyrische und dramatische Helden – die Antihelden mit eingerechnet – verkörpern mehr Lebenserfahrung und geben auch mehr zu denken, als alle „lebendigen“ Vorbilder es vermöchten, ja, sie entwickeln ihrerseits, als Kunstfiguren, eine Lebendigkeit, die uns Normalverbrauchern durchweg abgeht und die uns vor Augen führt, was „wir“ wirklich sind: klägliche Schmierenkomödianten, die ihre kleinformatige Bühne mit der großen weiten Welt verwechseln.
„Können wir uns eine Vorstellung von uns selbst machen ohne Shakespeare?“, fragt sich – allen Ernstes – Harold Bloom; und er meint dazu: „Shakespeare macht uns zu theatralischen Existenzen, auch wenn wir nie eine Aufführung besucht oder ein Stück von ihm gelesen haben.“ Durch solche und ähnliche Qualifikationen wird der Autor in eine fast schon göttliche, jedenfalls übermenschliche Position entrückt, derweil sein Bühnenpersonal den Status allzumenschlicher Realpräsenz gewinnt. So betrachtet hat es durchaus seine Richtigkeit, dass „William Shakespeare“ in der Literaturgeschichte eine schattenhafte Leerstelle bildet, die nicht nur zu vielerlei Spekulationen Anlass bieten kann, sondern auch dazu, mit realem prallem „Leben“ erfüllt zu werden.
Entsprechend zahlreich (um nicht zu sagen: zahllos) sind denn auch die Versuche, Shakespeare als historische Gestalt dingfest zu machen oder, umgekehrt, ihn als Protagonisten fiktional angereicherter Biografien herauszustellen. Dass es dabei vielfach zu misslichen Überblendungen kommt, braucht weiter nicht zu erstaunen: Bald wird der Autor mit diesem oder jenem seiner Helden identifiziert, bald als abgehobene Autorität beglaubigt, oft aber auch – gleichsam als sein eigener Nachfahre – zu unserem „Zeitgenossen“ zurechtgedacht. Das allgemeine Begehren nach namentlicher Identität kann bewirken, dass „Hamlet“, dass „Othello“ für Shakespeare einzustehen hat oder – für den Menschen, den Mann schlechthin; oder für den intellektuellen Skeptiker; oder für den Wahrheitssucher und Gerechtigkeitsfanatiker; oder für den zynischen Spieler und Manipulator; oder für mich als individuelle Einzelperson heute; und so fort.
Die Kritik tut sich schwer, Autorschaft und Anonymität zusammenzudenken.
Wenn es für Bloom „durchaus möglich und richtig ist, über Hamlet in genau derselben Art und Weise zu reden wie über Jahwe oder Sokrates oder Jesus“, so mag dies – mehr noch – für den theurgischen Autor gelten, der ja nun tatsächlich weltweit unter dem Namen „William Shakespeare“ als Schöpfer neuzeitlicher Humanität verehrt wird. „Shakespeare wird immerfort uns erklären, schließlich ist er es doch, der uns erfunden hat“, schwärmt Bloom; und präzisierend fügt er hinzu: „Hamlet wirkt heute nicht fiktiver als Montaigne; vier Jahrhunderte haben beide als echte Persönlichkeiten bestätigt und ganz ähnlich auch Falstaff“, hält Harold Bloom fest: „Vielleicht könnte man sagen, dass Hamlet den Sokrates des Platon und Montaignes verdrängt hat und an seiner Stelle der Christus der Intellektuellen geworden ist.“
Man mag von solcher Überhöhung eines Schriftstellers zu einer quasireligiösen Instanz halten, was man will; Tatsache ist, dass mit dem Namen „Shakespeare“ noch heute, in einer weitgehend säkularisierten Welt, nicht nur Attribute der Genialität, sondern auch – vorzugsweise – der Göttlichkeit verbunden werden. Ganz so weit geht Blooms französischer Kollege René Girard zwar nicht, doch auch er verbindet in Shakespeare: Theater des Neides wissenschaftlichen Anspruch mit dem freimütigen Eingeständnis seiner „unbezähmbaren Liebe zum Gegenstand“, und dieser singuläre Gegenstand ist auch hier das, was man gemeinhin „William Shakespeare“ nennt – ein rätselhafter, wenn nicht zweifelhafter Autor, der mit seinem eklatanten Werk „etwas radikal Neues“ in die künstlerische Kultur einbringt, nämlich „eine humanere, ja religiöse Note“, auf die es genau hinzuhören gelte, damit sich ihre allgemeinmenschliche und allweltliche Dimension zur Gänze erschließen kann.
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René Girards groß angelegte Abhandlung – sie ist seit kurzem in deutscher Ausgabe greifbar – weist in Aufbau und Lesart manche Ähnlichkeit mit der Bloomschen Monografie auf. Zwar scheinen die beiden namhaften Verfasser einander nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, doch eben dies könnte dadurch motiviert sein, dass sie sich bei ihren Theoriebildungen gelegentlich allzu nahe kommen. Die apodiktische, bisweilen polemische Art, mit der sie sich selbst wie auch ihre Thesen gegenüber der akademischen Literaturwissenschaft behaupten, müsste sie eigentlich eher verbinden als entzweien. Doch ihre episch überdehnten Texte haben rein monologischen Charakter, sie kommen ohne bibliografische Referenzen aus, die einschlägige Forschung wird bestenfalls beiläufig erwähnt und in aller Regel pauschal abgefertigt.
Während aber Harold Bloom seine Leserschaft mit eingestandenem, bald lyrisch, bald aphoristisch verdichtetem Enthusiasmus unwiderstehlich affiziert, verharrt René Girard in der rechthaberischen Pose eines Autors, der kompromisslos auf der Priorität und Gültigkeit seiner Thesen beharrt und abweichende oder gegenläufige Lesarten der Shakespeareschen Texte verächtlich vom Tisch wischt. Man kann sich nicht genug darüber wundern, dass ein Mann von Girards intellektuellem Rang und Ansehen, der auf Hunderten von Seiten Dutzende von hochproduktiven Einsichten zu eröffnen vermag, nicht aus seiner vergrämten Defensive herausfindet und sich unnötigerweise an einer Vielzahl von „Kritikern“ – vorab Freudianern, Strukturalisten, Dekonstruktivisten – abarbeitet, von denen er sich bedroht oder missachtet sieht: „Dieses Buch“, so macht er gleich in seiner Einleitung klar, „will demonstrieren, dass sie sich irren.“
Wie unfehlbar andererseits seine eigene Theoriebildung funktioniert, zeigt er nun – nach einschlägigen Vorstudien über Cervantes, Stendhal, Flaubert, Dostojewskij – am Leitfaden ausgewählter Werke von William Shakespeare, die er unter dem Gesichtspunkt des „mimetischen Dreiecks“ einer genauen, oft sehr aufschlussreichen, bisweilen auch etwas gewalthaften Lektüre unterzieht, von der eher seine Theorie profitiert, als dass die analysierten Texte erhellt werden. Diese hat Girard nach eigenem Bekunden so ausgewählt, dass sie seinem „Zweck“ am „eindeutigsten“ entsprachen. Im „mimetischen Dreieck“, von dem hier die Rede ist und das laut Girard den strukturellen Grundriss zu Shakespeares Werk bildet, konkretisiert sich die Theorie des mimetischen Begehrens, das in diesem Fall primär auf Neid und Eifersucht zurückzuführen ist und das, geschürt von Zweifeln und Lügen, in mörderische Rache- oder Hassgefühle umschlagen kann.
Das „mimetische Dreieck“ besteht, grob vereinfacht und auf die häufigsten Personenkonstellationen bei Shakespeare bezogen, aus einem „Kuppler“, einem „Hahnrei“ und dem jeweils begehrten beziehungsweise angeeigneten „Objekt“, das – meistens eine Frau – zur Beute oder zum Opfer eines fehlgesteuerten, letztlich unbeherrschbaren Wunsches wird. Hergeleitet ist dieses Modell von der weithin bekannten, auch kontrovers diskutierten „Sündenbocktheorie“, die René Girard in vielerlei Schriften dargelegt, stetig fortentwickelt und schließlich in eine Kulturtheorie von globalem Anspruch übergeführt hat.1
Das „mimetische Dreieck“ weist eine zeitliche wie auch eine räumliche Struktur auf. Zeitlich markiert es die Abfolge von mimetischem Begehren, mimetischer Rivalität und mimetischer Krise, räumlich findet es seine Koordinaten in der Person eines Vorbilds (Vater, Bruder, Freund etc.), das zum Rivalen und schließlich zum Feind mutiert. Als Motor dieser unausweichlichen Mutation, die im mörderischen Bruderzwist von Kain und Abel oder im Meister-Schüler-Konflikt zwischen Daidalos und Talos modellhaft vorgezeichnet ist, fungiert primär der Neid, oftmals gesteigert durch Eifersucht, Gier, Wille zur Macht.
Der springende Punkt der mimetischen Theorie – und damit auch die wegweisende Entdeckung von René Girard – besteht in dem psychologischen Paradoxon, dass die als Vorbild geltende Person ihren jeweiligen Verehrer eigens und arglos auf seine wertvollsten Besitztümer (ob Geld oder Geist oder Frau) aufmerksam macht und damit den Mechanismus von nacheiferndem Begehren bis hin zur ultimativen Gegnerschaft überhaupt erst auslöst. Jedwedes Begehren ist demnach von sekundärer Natur, hat imitativen Charakter, wird von außen gefördert, wenn nicht gar gefordert. Wenn das Begehren mimetisch, mithin imitativ ist, begehrt also das Subjekt dasselbe Objekt, das auch sein Vorbild begehrt oder besitzt.
Allerdings gibt es auch ein Imitations- oder Identifikationsbegehren des Vorbilds gegenüber dem Nachahmer, zum Beispiel des Lehrers gegenüber dem Schüler, des Vaters gegenüber dem Sohn, was den mimetischen Mechanismus wiederum gegenläufig aktivieren kann. Girard hat diesen Mechanismus anhand zahlreicher mythologischer und literarischer Beispiele in immer wieder neuer Ausleuchtung und mit zunehmender Detailschärfe vorgeführt, und er tut es nun noch einmal – in einer großen Rekapitulation und Synthetisierung – mit Blick auf William Shakespeare, bei dem er sämtliche Konstellationen menschlichen Begehrens in exemplarischer Ausprägung vorfindet.
Das Menschliche, die Menschlichkeit erweist sich hier – im Unterschied zu Harold Blooms enthusiastischer Lektüre – als ein Abgrund der Niedertracht, wie er düsterer nicht sein könnte, als eine ausweglose höllische Domäne, in der selbst die Liebe, verfälscht durch Missverständnisse, Lügen und Erpressung, zu einem Kampf auf Leben und Tod wird: auch die vermeintliche amouröse Reziprozität ist bloß eine gemilderte Form unausweichlicher und unüberwindlicher Rivalität. Soll man es für besonders zynisch oder für besonders weise halten, wenn René Girard in solch abgründiger (von ihm mehrfach „monströs“ genannter) Niedertracht dennoch das eigentlich Menschliche am Menschen ausmacht? In einem Gespräch über Die Ursprünge der Kultur behauptet er jedenfalls explizit: „Einzig das mimetische Begehren kann frei sein, kann wahrhaft menschlich sein, denn es wählt eher das Modell als das Objekt. Das mimetische Begehren ist das, was uns zu Menschen macht, das, was uns den Verzicht auf den gewöhnlichen animalischen Appetit ermöglicht und uns die Schaffung unserer eigenen Identität erlaubt, die ja nicht eine Schöpfung aus dem Nichts sein kann.“
Will heißen – unsere Menschlichkeit beweist sich darin, dass wir uns nach einem Vorbild ausrichten und an diesem Vorbild festhalten, während wir gleichzeitig, von Neid- und Konkurrenzgefühlen angetrieben, sein Weib, seinen Besitz, seine Macht begehren. „Es ist die mimetische Natur des Begehrens“, meint Girard, „die uns zur Adaptation befähigt, die es dem Menschen ermöglicht, all das zu lernen, was er wissen muss, um an seiner eigenen Kultur teilzuhaben. Denn diese kann er nicht erfinden; er kopiert sie.“ Mit direktem Bezug auf Shakespeare definiert Girard Menschlichkeit als eine „einmütige Opferhandlung“ (Opferhaltung?), durch die immer wieder die Sprengkraft mimetischer Rivalität umgewandelt wird „in die aufbauende Kraft einer opferbereiten Mimesis“.
Shakespeares Hamlet wird bei Girard zu einem säkularen Evangelium, dem das Programm zur Errettung der Welt eingeschrieben ist.
Von solch ambivalenter Wechselseitigkeit sind bei Shakespeare so gut wie alle zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmt. Nicht Liebe oder Hass, vielmehr Hass und Liebe dominieren das Verhältnis zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern, Freund und Freund, Lehrer und Lehrling und noch vielen anderen Masken des Begehrens. Dort nur kann sich das Begehren überzeugend manifestieren, wo es seinen imitativen (neidischen, eifersüchtigen) Charakter herauskehrt; dort nur, wo „mein“ Begehren sich widerspiegelt im Begehren anderer. Eben deshalb kann – zum Beispiel – ein Mann seine Geliebte gegenüber dem besten Freund belobigen, weil dessen imitative Sympathie für die Geliebte sein Begehren zusätzlich erhöhen wird. Naturgemäß ergibt sich daraus – Beispiel: Othello / Cassio – das Risiko, dass die wechselseitigen Sympathien in Rivalitäten, zuletzt sogar in blutige Abrechnungen umschlagen.
Dies wird unvermeidlich dann der Fall sein, wenn der Freund wider Erwarten nicht nur mimetisch, sondern tatsächlich auf die ihm präsentierte, für ihn aber verbotene Frau anspricht. Der „Kuppler“ wird dann, oftmals in fataler Weise unterstützt durch einen außenstehenden „Vermittler“, unweigerlich zum „Hahnrei“ – eine triviale Szenerie, die man keineswegs nur bei Shakespeare, sondern vielfach im späteren Genre der Liebes- und Salonkomödie vorfindet. In Othello kommt dieses „mimetische Dreieck“ geradezu exemplarisch zum Tragen, ohne jemals platt, vorhersehbar, stereotyp zu wirken. Girard widmet dem Stück, obwohl es seine Theorie besonders eindrücklich zu bestätigen vermag, auffallend wenig Interesse, benennt aber auf knappstem Raum eine Reihe von dramaturgischen Besonderheiten (z.B. Jagos Einflüsterungen als innere Rede Othellos), die gemeinhin verkannt werden, die jedoch für das Verständnis des Dramas und des Mimetismus gleichermaßen relevant sind.
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An dieser Stelle mag man sich allerdings erneut fragen, ob und inwieweit es zulässig sein kann, fiktionale Bühnenfiguren in ihrem künstlerisch arrangierten Verhalten zu beobachten und verstehen zu wollen, als wären es reale Menschen. René Girard tut eben dies – nicht anders als Harold Bloom nach ihm – mit irritierender Selbstverständlichkeit und gibt sich solcherart – ebenfalls wie Bloom – mehr als ein Shakespeare-Enthusiast denn als Shakespeare-Forscher zu erkennen, ein Enthusiast freilich von souveräner Intelligenz und höchster Sensibilität. Das Phänomen „William Shakespeare“ tritt auch hier als ein demiurgisches Genie in Erscheinung, dessen Schöpfungen ebenso lebendig und eigenständig sind wie „wir“ Menschen und die sich folglich auch wie „unsereiner“ verhalten.
Lassen wir diese Grundsatzfrage – sie könnte auch als kritischer Einwand formuliert werden – dahingestellt und wenden uns René Girards Arbeit am Shakespeareschen Text zu. Da alle in den vorliegenden Band aufgenommenen Werkanalysen explizit darauf ausgerichtet sind, die Theorie des mimetischen Begehrens zu bestätigen, mehr noch: ihr zu „gehorchen“, wird es genügen, ein paar wenige Kapitel herauszugreifen, um das immer gleiche Verfahren und die immer wieder daraus gewonnenen neuen Erkenntnisse aufzuzeigen.
Dazu sei vorgängig angemerkt, dass Girards eigenwillige Werkauswahl äußerst ungleich proportioniert ist; dass etwa Ein Mittsommernachtstraum in insgesamt acht Kapiteln, Das Wintermärchen in fünf, die meisten Stücke aber in einem einzigen Kapitel abgehandelt werden, darunter auch marginale Texte wie Die beiden Veroneser und Die Schändung der Lukretia (von Shakespeare selbst höher eingeschätzt als König Lear), derweil die großen Königsdramen wie auch Romeo und Julia unbesprochen bleiben. Die mimetische Theorie findet ihre Bestätigung demnach vor allem in den Shakespeareschen Traum- und Fantasiestücken – das komödiantische Register scheint dem Mimetismus eher entsprechen zu können als das tragische.
Außer dem Theaterwerk bezieht René Girard auch die Shakespeareschen Sonette (die man als kleine Dramen lesen darf) in seine Untersuchung ein; er generiert aus deren kritischer Lektüre einen bemerkenswerten Erkenntnisgewinn und findet zudem manch eine Bestätigung für seinen mimetischen Deutungsansatz. Denn kaum irgendwo sonst bringt Shakespeare das „mimetische Dreieck“ so unverstellt zur Anschauung wie in der anonymen Konstellation Mann-Frau-Freund, die als lyrische Helden das Trio bilden, innerhalb dessen das mimetische Begehren, die mimetische Rivalität und auch die mimetische Krise sich ausleben. „Du liebst sie, weil du weißt, dass sie mich liebt“, heißt es im Sonett XXXXII: „Und sie hat mich nur mir zulieb beleidigt, / Gestattend, dass mein Freund ihr Liebe gibt.“ Und Sonett CXXXXIV endet, den Schmerz über den Liebesverrat bekräftigend und auf die Spitze treibend, mit den starken Versen: „Doch da die zwei, wie mich, einander lieben, / Ahn einen in des andern Hölle ich. / In Zweifel leb ich so, bis ich’s erkannt: / Mein Engel ist in Höllenglut verbrannt.“
Deutlicher lässt sich das mimetische Begehren tatsächlich nicht auf den Punkt bringen. Die mimetische Lesart, ebenso wirklichkeitsnah wie paradoxal, macht Schluss mit der gewohnten Eifersuchtsszenerie, welche jede Liebe sofort in Hass umschlagen lässt, wenn Untreue ruchbar wird. Girard erhellt anhand der Sonette wie auch der Dramen die wahre, viel komplexere Natur von Eifersucht, Neid, Begehren, indem er streng den Texten folgend darlegt, dass nicht der Hass auf den Rivalen die mimetische Krise auslöst, sondern die Hassliebe zu ihm, der schon deshalb sein Freund heißen darf, weil er derselben Frau in Liebe zugetan ist. „O Hölle!“, so lautet (in Ein Mittsommernachtstraum) die entsprechende Schmerzens- und Verzweiflungsformel: „Mit fremdem Aug den Liebsten wählen!“
Der Rivale wird gleichzeitig gehasst und geliebt dafür, dass er die Frau des Freunds verführt und … aber sie eben dadurch für den gehörnten Freund umso attraktiver werden lässt. „Ach, da ich liebe, wo die andern hassen, / Hass du mich nicht, wie es die andern tun“, klagt im Sonett CL das lyrische Ich: „Ja, dass dein Unwert meine Liebe mehrt, / Das mache mehr mich deiner Liebe wert.“ Der Fatalität der mimetischen Verstrickung ist nicht zu entkommen, doch bei aller Seelenqual bleibt dem hintergangenen Freund immerhin der ambivalente Trost, dass seine Frau und sein Rivale nur deshalb aneinander interessiert sind, weil er selbst, der nunmehr Betrogene, aus purer Sympathie das gegenseitige Interesse der beiden – wenn auch keineswegs deren Liebe – geschürt hat.
Laut Girard ist unser Planet zum „Äquivalent eines primitiven Stammes“ geworden, der auf globaler Ebene vom Faszinosum der Rache beherrscht ist.
„Die Untreue stärkt die Bindung des Dichters [des lyrischen Ich] an den Schuldigen [den Freund und Rivalen], anstatt sie, wie die konventionelle Weisheit meint, zu lockern“, unterstreicht René Girard ein ums andere Mal, um dann zusammenfassend festzuhalten: „Die Sonette sind ein Kaleidoskop aller möglichen Interpretationen, Haltungen und Strategien, die ein Individuum, das in einem zersetzenden Dreieck gefangen ist, sich aneignet, während es vergeblich versucht, seinem Dilemma zu entkommen.“
Das „zersetzende Dreieck“ ist die Grundkonstellation mimetischen Begehrens, und eben diese Konstellation findet Girard in Shakespeares Sonetten in immer wieder andern, oft widersprüchlichen und auch widersinnigen „Stufungen“ verwirklicht, was ihn zu einem etwas ratlos wirkenden Fazit veranlasst: „Wir müssen uns hinter allen Sonetten zusammen ein einziges Dreieck vorstellen, das nie zweimal auf exakt dieselbe Weise interpretiert wird. Uns fehlt die richtige Einsicht in das ,wirkliche‘ Dreieck oder die Veränderungen, denen es von Zeit zu Zeit unterworfen sein mag.“ Nicht einmal der Dichter selbst (der auch hier von Girard umstandslos mit dem lyrischen Ich identifiziert wird) vermag Klarheit zu gewinnen über den Verlauf und die Dynamik der Kraftlinien innerhalb der triangulären mimetischen Konstellation – eine Feststellung, durch die Shakespeare keineswegs herabgesetzt wird, im Gegenteil, seine eingestandene Konfusion wird ihm als Komplexität gutgeschrieben. „Das Gefühl der Unsicherheit, das die Texte durchzieht“, meint Girard, „macht wesentlich ihr poetisches Flair aus.“
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Als hermeneutisches Meisterstück kann René Girards „mimetische“ Lesart des Shakespeareschen Hamlet, Prinz von Dänemark gelten. Der Mimetismus wird hier vordergründig durch die Inszenierung einer Theateraufführung innerhalb des Bühnengeschehens vergegenwärtigt, erfährt aber durch den Autor (den Girard als „Sündenbock seines eigenen Werks“ herausstellt) noch ganz andere, sehr weitreichende, dabei äußerst subtile Differenzierungen.
Mit dem ebenso finsteren wie luziden Prinzen teilt Shakespeare – Autor und Held scheinen in diesem Fall tatsächlich vielfach (auch widersprüchlich) miteinander verquickt zu sein – den Hang zu mimetischer Manipulation. Diese Manipulation, gleichermaßen Ausdruck und Mittel des Willens zur Macht, besteht darin, die Mitmenschen beziehungsweise die Mitspieler bewusst, aber unmerklich zu führen und zu verführen. Ob Familien- oder Freundeskreis, ob Theatertruppe oder Publikum – die Gängelung ist darauf angelegt, bestehende Erwartungen scheinbar zu erfüllen, sie jedoch zu gleicher Zeit auf einer anderen Rezeptionsebene zu unterlaufen und zu enttäuschen.
Die zu erfüllende Erwartung ist in diesem Fall – Rache. Hamlet ist ein Rachedrama und als solches ein höchst konventionelles, wenn nicht triviales Theaterwerk, wie es auf der damaligen englischen Bühne gang und gäbe war. Da wurden Gewalt, Verrat und Betrug vorgeführt oder wenigstens suggeriert, ungeheuerliche Verbrechen, die denn auch mit ebenso ungeheuerlichem Aufwand gerächt werden mussten, um das Publikum bei Laune zu halten, es schließlich am Sieg des Guten über das Böse teilhaben zu lassen. Den unabweisbaren Auftrag zur Rache an Claudius, dem Mörder seines Vaters, Verführers seiner Mutter und Usurpators des dänischen Throns, empfängt Hamlet vom väterlichen „Geist“, und er bekommt damit seine zentrale Lebensaufgabe diktiert. Das zögerliche Verhalten des Prinzen vereitelt zuletzt die Erfüllung dieser Aufgabe – der Rächer wird, nachdem er mehrere Menschen in seiner Umgebung ganz nebenbei und gleichsam pro forma umgebracht hat, seinerseits zum Ehrenmordopfer, derweil der eigentliche Bösewicht verschont bleibt.
Statt Hamlets Zögern wie allgemein üblich als Schwäche, Unentschiedenheit, Skrupelhaftigkeit oder gar Feigheit auszuweisen, setzt nun René Girard entschieden zur Rehabilitierung des Prinzen an – er macht ihn zu einem christusähnlichen Superhelden, der bewusst und mit guten Gründen auf den von ihm erwarteten Racheakt verzichtet, um den Teufelskreis der Gewalt zu durchbrechen. Hamlet gewinnt somit die Überlebensgröße eines Welterlösers, der sich selbst zum „Sündenbock“ macht und, statt rächerisch den Tod zu geben, selbst den Tod auf sich nimmt, damit die kollektive Gewalt des Mobs ein für allemal ihr zugleich symbolisches und reales Opfer findet.
Die Wendung ins Christliche, Evangelische oder allgemein ins Biblische ist bei René Girard rekurrent. Kompromisslos bringt er sie in immer wieder anderen Problemzusammenhängen zur Geltung, weiß sie aber auch durch überzeugende Argumente und Textbeispiele plausibel zu machen. Girards Wissenschaftlichkeit wegen dieser religiösen Grundeinstellung in Frage zu ziehen, wie es nicht selten geschieht, ist ungerechtfertigt, genügt jedenfalls nicht, um seine umsichtig entwickelten Thesen und die mimetische Theorie insgesamt zu widerlegen.
Dadurch, dass Girard die Hamlet-Tragödie allen Lektüre- und Regiekonventionen zum Trotz so klar „gegen den Rachegedanken“ interpretiert, kann sich der dunkle Protagonist mit seinem Hang zur Melancholie, zum Zynismus und auch zur Clownerie endlich in eine Lichtgestalt verwandeln, die als quasisakrale Leerstelle zwischen totaler Rache und keiner Rache verharrt. Der Racheimpuls wie die Racheerwartung werden hier neutralisiert, indem nicht mehr der rächerische Akt als solcher zum Problem wird, sondern dessen Suspendierung.
Die Lösung dieses Problems besteht nach Girard darin, dass der Aufschub der Rache zu deren Aufhebung führt kraft Hamlets Selbstopferung, die sich ihrerseits (von der Hand des Laertes, Bruder Ophelias und Hamlets Freund) als ein Racheakt vollzieht. Dem Prinzen ist ja bewusst, dass dem Automatismus von Rache und Opferung nicht zu entkommen ist; dass Rache und Opferung für die menschliche Kultur wie für den unmenschlichen Mob unverzichtbar sind. Doch eben diese Selbstverständlichkeit – auch sie beruht in ihrem Ursprung auf mimetischem Begehren – muss und kann zumindest punktuell konterkariert werden dadurch, dass ein Einzelner sich selbst als „Sündenbock“ opfert und so die Lynchjustiz des Mobs ad absurdum führt.
„Mit unseren modernsten Kritikern haben wir heute den Punkt erreicht, wo die Geschichte keinen Sinn hat, die Kunst keinen Sinn hat, die Sprache und der Sinn selbst keinen Sinn haben.“
René Girard geht es bei seiner ausgedehnten Hamlet-Lektüre offenkundig ums Ganze: Shakespeares Text wird ihm zu einem säkularen Evangelium, dem das Programm zur Errettung der längst „aus den Fugen“ (out of joints) geratenen Welt eingeschrieben ist, ein Programm, das seiner Ansicht nach allein in der jüdisch-christlichen Tradition des Racheverzichts und der Überwindung des mimetischen Begehrens zu erfüllen wäre – falls es dafür nicht doch schon zu spät ist.
Denn laut Girard ist unser Planet bereits „zum Äquivalent eines primitiven Stammes“ geworden, der auf globaler Ebene vom Faszinosum der Rache beherrscht ist. Die solcherart begründete und praktizierte Herrschaft des Menschen über die Welt kann nur zum Untergang eben dieser Menschenwelt führen. Die globalisierte Racheethik wird den Gewaltzirkel aufrecht erhalten, wird ihn immer bedrohlicher kreisen lassen und zuletzt – schon bald – das Schicksal der Menschheit besiegeln: „Ein Schweigen hat sich auf die Erde herabgesenkt, als stünde ein Engel im Begriff, das siebte und letzte Siegel der Apokalypse zu lösen.“
Unter den heute weltweit führenden Kulturtheoretikern findet sich außer René Girard wohl keiner, der mit solch endzeitlichem Pathos aufzutreten wagt und dabei auch noch den Anspruch der wissenschaftlichen Korrektheit erhebt. Für ihn – wie für Shakespeare, wie für Hamlet – steht fest, dass die Menschheit einer mörderischen Krankheit verfallen ist und sich nunmehr ultimativ „gezwungen sieht, dem Gesetz des Verzichts auf Rache zu gehorchen – oder unterzugehen“. Der universitären Wissenschaft wirft Girard pauschal vor, an der Heilung dieser Krankheit nicht interessiert zu sein, sie sogar verhindern zu wollen, um stattdessen – auf der ganzen Linie zwischen Freud und Sartre und Lévi-Strauss – ihre partikulären Interessen und Ressentiments durchzusetzen. Die Moderne ist für ihn ein spezifischer „Raum, wo alles von einer kranken Rache überzogen wird“, und resigniert stellt er fest: „Mit unseren modernsten Kritikern haben wir heute den Punkt erreicht, wo die Geschichte keinen Sinn hat, die Kunst keinen Sinn hat, die Sprache und der Sinn selbst keinen Sinn haben.“
An diesem äußersten Punkt empfiehlt René Girard nebst dem Rückgriff auf die Bibel noch einmal die Hinwendung zu Shakespeare, vor allem zu Hamlet, und dies in der von ihm vorgezeichneten Lesart, die er apodiktisch als die einzig richtige gelten lässt: „Wenn wir jetzt, an diesem Zeitpunkt in unserer Geschichte, Hamlet nicht gegenläufig zur Rache lesen können, wer wird das dann je tun können?“ – Man sollte sich weder durch Girards hypertrophiertes Selbstbewusstsein noch durch seine permanente Kollegenschelte davon abhalten lassen, ihn auf seinem weitläufigen Parcours durch Shakespeares Werk zu begleiten. Denn als überaus findiger Exeget eröffnet er eine Vielzahl von ebenso überraschenden wie überzeugenden Ein- und Ausblicken, die bislang unbeachtet geblieben oder in ihrer Tragweite unterschätzt worden sind.
Anmerkung
1 Vgl. dazu die erklärenden und ergänzenden Anmerkungen von René Girard in Les origines de la culture: Entretiens. Hachette Littératures, Paris 2006; Gewalt und Religion: Ursache oder Wirkung? Herausgegeben von Wolfgang Palaver. Matthes & Seitz, Berlin 2011.