Als vor Jahresfrist unter dem eingängigen Titel Die Wende Stephen Greenblatts jüngstes Buch, ein Beitrag zur Entstehung der „Renaissance“ aus dem Geist der Antike, in deutscher Übersetzung erschien, wurde es hierzulande weithin als ein philologisch-historisches Meisterwerk belobigt. Tatsächlich vermag der umfangreiche, mit einem kompakten wissenschaftlichen Apparat versehene Band, die Originalausgabe von 2011 war bereits kurz nach ihrer Veröffentlichung mit dem National Book Award ausgezeichnet worden, zunächst durch seinen Stoff- und Ideenreichtum zu beeindrucken, doch lässt er bei genauerem Hinsehen manche Mängel und Lücken erkennen, welche Greenblatts Ambition, den Übergang der abendländischen Welt in „die Moderne“ als ein „plötzliches“ Wendemanöver des frühen 15. Jahrhunderts plausibel zu machen, grundsätzlich in Frage stellen.
Der gezielte Anstoß zu dieser Wende ist, wie Greenblatt mit faktografischem Furor darlegt, von dem toskanischen Humanisten Poggio Bracciolini ausgegangen, der um 1417 als europaweit agierender „Bücherjäger“ in einem deutschen Kloster eine Handschrift des Lehrgedichts De rerum natura (Von der Natur der Dinge, vermutlich 1. Jh. v. Chr.) aus dem damals völlig vergessenen Werk von Lukrez entdeckt und sie nachfolgend von Florenz aus bekannt gemacht habe. Die Renaissance habe daraus – im Bereich der Wissenschaften wie auch der Künste und der Philosophie ihren Grundimpuls gewonnen und darüber hinaus sei das „moderne“ europäische Denken durch den atheistischen lukrezianischen Materialismus (Atomlehre; epikureische Ethik) initiiert und zur späteren Aufklärung hin geöffnet worden.
Was sich in drei Sätzen als Hypothese formulieren lässt, das entfaltet Greenblatt auf rund 300 Buchseiten in der Art eines narrativen Großessays, der Fakten, Vermutungen, Behauptungen, Spekulationen zu einer „Geschichte“ verbindet, in die offenkundig auch autobiografische Momente und persönliche Positionen eingegangen sind. Der Autor selbst offenbart die Urszene seiner intellektuellen Entwicklung: In der Synagoge hebt er, noch als Schulkind, entgegen jüdischer Gepflogenheit den Kopf zu „Gott“ und sieht dort oben nichts. In dieser als Triumph erlebten Szene bestätigt sich sein Atheismus, und bei Lukrez wird er später den aufgeklärten und sinnenfreudigen Materialismus dargelegt finden, den er, Greenblatt, mit dem progressiven Denken der Moderne gleichsetzt.
Die ideologische Voreingenommenheit bleibt dem Text durchweg eingeschrieben und sie verschärft sich stellenweise zu polemischen Ausfällen gegen Andersdenkende – Idealisten und Gottgläubige jeder Couleur, was der von Greenblatt beanspruchten Wissenschaftlichkeit ebenso zuwiderläuft wie sein fahriger Erzählstil, der einem Dan Brown oder einer Hilary Mantel deutlich nähersteht als dem universitären Geschichtsdiskurs. Greenblatts Einbildungskraft geht so weit, dass er den Protagonisten seiner Studie – Bracciolini ist als Geschäftsmann und Gelehrter eine gleichermaßen undurchsichtige Figur – wie einen Romanhelden durch die Epoche führt und ohne Skrupel, als wäre er persönlich dabei gewesen, über dessen Aussehen, dessen jeweilige Befindlichkeit, dessen Seufzer und Freudenrufe berichtet. Doch all diese erzählerischen Details – wann der „Bücherjäger“ außer Atem oder sein Herz am Zerspringen war u. dgl. mehr – können über die Dürftigkeit der von Greenblatt rapportierten Geschichte nicht hinwegtäuschen: Da die Historie offenbar kaum etwas dokumentarisch Fassbares hergibt, muss umso mehr die Story forciert und der Stoff ausgewalzt werden.
Kaum ein Faktum seiner Geschichte kann Greenblatt belegen.
Nun erweist sich allerdings der abenteuerliche Stoff – „Bücherjagd“, sensationelle Funde, genialische Rekonstruktion korrupter oder lückenhafter Texte, Herstellung und Verbreitung von Kopien – als ziemlich fadenscheinig. Kaum ein Faktum seiner Geschichte kann Greenblatt belegen, seine Darstellung beruht größtenteils auf Konjekturen und Extrapolationen, die man zwar für plausibel halten kann, zu denen sich aber oft ebenso plausible Alternativen oder Varianten anbieten. Die hauptsächliche Crux, mit der Greenblatt fertig werden muss, die er jedoch, statt sie klar herauszustellen, weiträumig umfährt, ist die Tatsache, dass es den Text, dessen Wiederentdeckung die „Wende“ vom finsteren Mittelalter zur aufgeklärten Moderne bewirkt haben soll, als Dokument gar nicht gibt.
Von der angeblichen „Entdeckung“ der Lukrez-Handschrift durch Poggio Bracciolini weiß Stephen Greenblatt nicht viel mehr, als dass sie 1417 irgendwo in Deutschland stattgefunden hat. Weder den Ort noch den Gegenstand der „Entdeckung“ vermag er definitiv zu nennen, er vermutet – naheliegend genug – eine Klosterbibliothek in einem „bewaldeten Tal“; über Alter und Qualität der dort „entdeckten“ Handschrift von De rerum natura kann er keinerlei Angaben machen. Auch ist ihm unbekannt, wann und wo genau die Abschrift angefertigt wurde, und selbst diese, von ihm ins Zentrum seiner Argumentation gerückte Abschrift Bracciolinis muss er als „verloren“ melden. Erhalten ist lediglich eine Kopie der Kopie, die ein unbekannter „deutscher Schreiber“ im Auftrag des Entdeckers in wochenlangem Exerzitium angefertigt haben soll. Dass die Vorlage aller Wahrscheinlichkeit nach aus einem Kodex des Klosters Murbach abgeschrieben wurde, bleibt bei Greenblatt unerwähnt – er verweist stattdessen auf die Klosterbibliothek von Fulda als Fundort der Handschrift. Die älteste bekannte Fassung des Werks (der Archetypus) lässt sich nur vage auf das „4./5. Jh.“ datieren, ist demnach rund 500 Jahre nach dem Tod des Autors entstanden, in der Folge aber für tausend Jahre der Vergessenheit anheimgefallen. Die erste Edition von De rerum natura hat Ferrandus um 1473, mithin lange nach Bracciolinis Tod, in Brescia vorgelegt.
Martin Bodmer, ein herausragender Kenner und Sammler mittelalterlicher Manuskripte, hat immer wieder auf die schlichte, aber kaum beachtete Tatsache hingewiesen, dass noch „das älteste Dokument, auf dem wir fußen können, meist durch Generationen und oft Jahrhunderte vom Autor getrennt“ sind. Wie authentisch ein Text sein kann, von dem kein Original erhalten ist, der aber, wie man annehmen muss, während Jahrhunderten aufbewahrt, dabei wohl mehrfach kopiert und schließlich in einem nicht qualifizierbaren Status aufgefunden wurde, bleibe dahingestellt. Stephen Greenblatt glaubt die Authentizität des Lukrez’schen Lehrgedichts mit Hinweis auf einen Papyrusfund in Herculaneum retten zu können – aus einer dort bei einem Vesuvausbruch (79 n. Chr.) verschütteten Villa hat man um 1750 zahlreiche verkohlte Rollen geborgen, unter denen sich nach jüngsten Erkenntnissen (1989) auch das Originalskript von De rerum natura befinden soll. Obwohl davon lediglich eine Handvoll Schnipsel mit ein paar wenigen entzifferbaren Wörtern übriggeblieben sind, ist sich Greenblatt sicher, „dass De rerum natura in der Bibliothek [von Philodemus in Herculaneum] vollständig vorhanden gewesen sein muss“ – eine für ihn höchst „aufregende Vorstellung“.
Doch vielleicht ist die Vorstellung, dass anhand einiger verstreuter Wörter und Wortfragmente tatsächlich auf das integrale Werk des Lukrez geschlossen werden kann, allzu kühn angesichts der vielen tausend Verse, die es in der heute bekannten Lesart umfasst?
Die Crux, mit der Greenblatt fertig werden muss, ist die Tatsache, dass es den Text, dessen Wiederentdeckung die „Wende“ vom finsteren Mittelalter zur aufgeklärten Moderne bewirkt haben soll, als Dokument gar nicht gibt.
Die unklare, höchst lückenhafte Faktenlage steht zu Stephen Greenblatts narrativem Impetus in auffälligem Kontrast. Da die Entdeckung und nachmalige Verbreitung des Lukrez-Texts nur unzureichend dokumentiert ist und folglich für eine große Erzählung zu wenig Material bietet, muss der Autor manche Details interpolieren und mit rein fiktivem Dekor ausstatten. Charakteristisch für die daraus resultierende Sprunghaftigkeit ist die ständig wiederkehrende Verwendung des Adverbs „plötzlich“ – die Plötzlichkeit, mit der die meisten Vorgänge einsetzen und auch wieder abbrechen, die Plötzlichkeit, mit der Personen oder Dinge „auftauchen“, „verloren“ gehen und „verschwinden“, lässt umso deutlicher die mangelnde Kohärenz von Greenblatts Geschichte erkennen.
Insgesamt ergibt sich aus diesem unentschiedenen, teils diskursiven, teils belletristischen Verfahren eine Darstellung, die aus lauter Exkursen und Episoden besteht, einen zentralen Erzählstrang aber vermissen lässt. So verlagert sich denn auch der Schwerpunkt des Werks, womöglich entgegen der Absicht des Autors, von der Wiederentdeckungsgeschichte des Lukrez-Texts mehr und mehr auf dessen philosophischen Gehalt – mit merklicher Empathie und immer wieder durchbrechender Begeisterung rekapituliert Greenblatt das Dichtwerk über viele Seiten hinweg und versieht es mit seinen prägnanten, oft subjektiv getönten Kommentaren. Zusammen mit dem abschließenden Bericht zur Rezeption von De rerum natura in der Hochrenaissance bildet dieser Kommentarteil so etwas wie ein Buch im Buch – die beiden diesbezüglichen Kapitel hätten durchaus auch separat als eigenständiger Essay publiziert werden können.
Die Quintessenz der Dichtung ergibt sich nach Greenblatt in weitgehender Übereinstimmung mit früheren Kommentaren – ex negativo: Der Lukrez’sche Materialismus führt in Verbindung mit epikureischem Gedankengut zur „befreienden“ Einsicht, dass es keinen Gott und keine Götter gibt, kein Jenseits, keine unsterbliche Seele, kein sinnerfülltes Schicksal, keinen sinnvollen Glauben, keinen menschlichen Sonderstatus (gegenüber „andern Tieren“). Was gilt, sind die Dinge als solche, und die Dinge als solche zu verstehen, sie abseits von Mythen, Aberglauben und symbolischer Bedeutung unvoreingenommen wahrzunehmen, ist die eigentliche Mission des Menschen und ist zugleich dessen höchste Lusterfüllung.
Wortreich bietet Greenblatt diese vorchristliche Botschaft gegen jede Form von Angst und Täuschung auf (die in der Todesangst ihren gemeinsamen Tiefpunkt finden), und er lässt keinen Zweifel daran, dass er sie weiterhin für aktuell hält, und mehr noch dass er sich persönlich damit identifiziert. Lukrez wird somit zum Alter Ego seines Kommentators, der dessen Text respektvoll nachspricht und sich dadurch seinerseits als ein „Gläubiger“ zu erkennen gibt.
II
Auffallend zahlreich sind bei Stephen Greenblatt die Hinweise auf die professionelle Exzellenz des „Bücherjägers“ Poggio Bracciolini, dem der europäische Humanismus die Wiederentdeckung des Lukrez und damit des antiken atheistischen Materialismus zu verdanken habe. An mehreren Stellen lobt er den Protagonisten seiner Erzählung für sein stilistisch vollkommenes Latein, seinen philologischen Scharfsinn, seine emendatorischen Fähigkeiten, aber auch für seinen hochentwickelten Geschäftssinn beim Erwerb und Weiterverkauf von alten Manuskripten: „Unter seinen Freunden galt Poggio als Kulturheld, als magischer Heiler, der es verstanden habe, den zerfetzten und geschundenen Leib der Antike zusammenzufügen und zu neuem Leben zu erwecken.“ Das sind wohl eher die Worte Stephen Greenblatts als die von Bracciolinis Zeitgenossen.
Die Vorstellung, dass da ein hochtalentierter Büchernarr mit geradezu „magischen“ Kräften die Antike wieder hätte aufleben lassen können, weckt fast automatisch den Verdacht, zumindest die Frage, ob dabei nicht allenfalls bewusste Fälschung im Spiel hätte sein können. Die Selbstverkleinerung und Selbstentmächtigung, die mittelalterliche Klosterskribenten sich auferlegt hatten, schlug in der Renaissance ins Gegenteil um – die Abschreiber gaben sich unter eigenem Namen als selbstbewusste und eigensinnige Schreiber zu erkennen: Die von ihnen ausgearbeiteten Kopien oder Rekonstruktionen betrachteten sie gern als Schöpfungen, so wie sie den wiederentdeckten alten Autoren zur Auferstehung verhelfen wollten.
Doch an keiner Stelle zieht Greenblatt auch nur die Möglichkeit in Betracht, Bracciolini könnte dank seinen kalligraphischen Fähigkeiten – sei’s aus Geldgier, sei’s aus Gier nach Ruhm – Texte der römischen Antike eigens hergestellt, also gefälscht haben. Das ist bei seinem sonstigen Interesse an sensationellen Vorgängen schon sehr bemerkenswert, war doch die Praxis des Fälschens zu jener Zeit gang und gäbe und galt als florierendes Geschäft. Doch ein Kulturheld darf kein Fälscher gewesen sein. Greenblatt unterstreicht Bracciolinis wissenschaftliches Interesse an den von ihm „entdeckten“ Handschriften ebenso wie seine ausgeprägte Bibliomanie. Damit kontrastiert wiederum die Sorglosigkeit, mit der Poggio Bracciolini wertvollste Manuskripte verkauft, verschenkt, ausgeliehen oder auch einfach verloren hat.
Lukrez wird somit zum Alter Ego seines Kommentators, der dessen Text respektvoll nachspricht und sich dadurch seinerseits als ein „Gläubiger“ zu erkennen gibt.
Besonders fällt allerdings sein Umgang mit Lukrez auf, für den er sich nach der epochalen Entdeckung jener vergessenen Handschrift in Deutschland kaum noch interessiert hat – die anonyme Kopie von De rerum natura hat er dem Büchersammler und Schriftgelehrten Niccolò Niccoli in Florenz zukommen lassen, in dessen Bibliothek sie nochmals abgeschrieben wurde, bevor sie „verloren“ ging. Andere Autoren der römischen Antike – vorab Cicero – genossen damals weit höhere Wertschätzung als Lukrez. In dieser Optik mag einem Greenblatts enthusiastische Huldigung an Poggio Bracciolini als Initiator der lukrezianischen „Wende“ doch etwas vollmundig vorkommen.
Dass im Übrigen ein so versierter und trendbewusster Autor wie Stephen Greenblatt mit keinem Wort (und auch mit keiner Anspielung) die bereits erwähnte Möglichkeit in Betracht zieht, Poggio Bracciolini könnte die zahlreichen von ihm in Umlauf gebrachten Kopien antiker Handschriften selbst angefertigt haben, ist ebenso erstaunlich wie bemerkenswert. Der Schrift- und Textexperte wäre dazu intellektuell wie auch technisch durchaus in der Lage gewesen, und er hätte dafür eine Menge praktischer Gründe gehabt. Alte Manuskripte hatten damals wegen starker Nachfrage bei Sammlern und Forschern einen hohen Handelswert, was zahlreiche konkurrierende „Bücherjäger“ auf den Plan rief, die im Auftrag skrupelloser Hintermänner überall in Europa (vorab in Deutschland, Belgien, Frankreich) mittelalterliche Klosterbibliotheken nach „vergessenen“ Codices absuchten und in der Folge auch tatsächlich Hunderte von Fundstücken nach Italien überführen konnten, so wie es Bracciolini mit seinem Lukrez und manchen andern Skripten gelungen ist.
In vielen Fällen konnten allerdings die Originale beziehungsweise die originalen Kopien nicht aus den Klöstern fortgebracht werden, was die Agenten dazu zwang, sie vor Ort ein weiteres Mal abzuschreiben oder abschreiben zu lassen. So geschah es auch mit De rerum natura – Bracciolini musste einen Schreiber engagieren, der das Dichtwerk möglichst kurzfristig kopierte. Dass es dabei zu Fehlleistungen kommen musste (z. B. zu Auslassungen, falschen Lesarten, modernisierten Schreibweisen usf.), liegt auf der Hand, und klar ist auch, dass die Versuchung, alte Skripten nicht nur abzuschreiben, sondern neu zu schreiben, um sie unter der Hand als wertvolle „Altertümer“ zu verkaufen, damals groß war. Gerade Poggio Bracciolini, der als Lebemann und als Vater von vierzehn teils legitimen, teils illegitimen Kindern sehr viel Geld benötigte, mag diese Versuchung verspürt haben.
Schrift- und Textexperten hätten die römische Antike recht eigentlich neu geschaffen, indem sie die Werke eines Caesar, eines Horaz, eines Ovid nicht bloß kopiert, sondern gleich selbst als kunstvolle Imitate abfassten.
Schon vor mehr als einem Jahrhundert, 1902, hat der Basler Altphilologe Robert Baldauf unter dem Titel Historie und Kritik eine Broschüre erscheinen lassen, die Stephen Greenblatt – wäre ihm der Text denn bekannt gewesen – hätte nachdenklich machen müssen. Denn die geistesgeschichtliche „Wende“, die er in seinem umfangreichen Buch beschreibt, ist nach Baldauf keineswegs auf die „Wiederentdeckung“ antiker Autoren zurückzuführen, sondern auf deren Erfindung durch die italienischen Humanisten. Schrift- und Textexperten wie Bracciolini hätten demnach – Baldauf belegt es durch detaillierte philologische Analysen – die römische Antike (aus der, um es nochmals festzuhalten, keinerlei Originalschriften überliefert sind) recht eigentlich neu geschaffen, indem sie die Werke eines Caesar, eines Horaz, eines Ovid nicht bloß kopiert, sondern gleich selbst als kunstvolle Imitate abfassten, eine These, die dann ihrerseits mystifiziert wurde, indem man Baldaufs Basler Kollegen Friedrich Nietzsche als deren Urheber dingfest zu machen versuchte.
Eine ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Autor und dessen sprachgeschichtlich begründeter Argumentation fand damals – und bis heute – nicht statt. Dass dem renommierten Antiken- und Renaissanceforscher Stephen Greenblatt nebst Robert Baldauf auch John Wilson Ross entgangen ist, macht gleich noch einmal stutzig. Denn lange vor Baldauf – 1878 – hatte Wilson in London eine Abhandlung vorgelegt, in der er Poggio Bracciolini namentlich als Fälscher der Germania und anderer Schriften des Tacitus herausstellte. Bei Greenblatt kommt auch diese wegweisende Studie nicht einmal im Schriftenverzeichnis vor. Anders als Baldauf löste Wilson mit seinen Untersuchungen in den Renaissance Studies eine bis ins 20. Jahrhundert andauernde Debatte aus, die allerdings von der universitären Geschichts- und Literaturwissenschaft gleichermaßen missachtet wurde. Ob Greenblatt diese Vorarbeiten bewusst ignoriert hat oder ob sie ihm schlicht entgangen sind – beides wäre für den „Starprofessor aus Harvard“ von höchster Peinlichkeit. Jedenfalls ist zu bedauern, dass er in seinem „wissenschaftlichen Bestseller“ auf die nach wie vor rezenten Thesen Wilsons und Baldaufs mit keinem Wort eingeht. Andere werden dies hoffentlich an seiner Stelle und auf vergleichbar hohem Niveau in absehbarer Zukunft tun.