„Und welche Relevanz wird dieses Buch außerhalb der Thomas-Bernhard-community haben?“, fragte mich skeptisch ein New Yorker Komparatistik-Professor, nachdem ich ihm von meinem Manuskript zu dem österreichischen Schriftsteller erzählt hatte. Wir saßen in einem engen, fensterlosen Seminarraum einer renommierten Universität; das Zimmer war von den angrenzenden Büros und Gängen nur durch eine dünne Gipswand getrennt, durch die man Schritte und Stimmen vernehmen konnte. Ein ovaler, blassrosa Resopaltisch nahm das Zimmer fast zur Gänze ein. Das Whiteboard an der drei Meter langen Wand reflektierte das über uns montierte Neonlicht. In diesem Moment kam mir der Gedanke, dass er – wie so viele meiner Kolleginnen und Kollegen aus der Literaturwissenschaft – die Geringschätzung unserer Gesellschaft für jegliches literaturwissenschaftliche Thema verinnerlicht hatte. Mit einem Schlag schien mir der Zusammenhang zwischen literaturwissenschaftlichem Selbsthass, durch und durch ökonomisierter Bildung und architektonischer Perfidie auf der Hand zu liegen. Wie sollte es anders sein, in sterilen Räumen wie diesem? Solche Räume geben sich als atopisch und ahistorisch (also weder im Raum noch in der Zeit verankert), als ideale, flexibilisierte Räumlichkeiten, die den Ansprüchen der flexiblen, globalen Marktwirtschaft entsprechen. Kein Wunder also, dass unsere Forschung zur markttauglichen Recherche mutiert und unsere humanistische Bildung zur pre-professional Ausbildung wird, die sich auf die Hervorbringung leicht absetzbarer Individuen mit messbarem Mehrwert konzentriert. Mein Wandeln auf Bernhards Spuren – am Heldenplatz, im Kunsthistorischen Museum und Burgtheater, loci classici seiner Werke, durch Wien und Oberösterreich – wies mich plötzlich auf die alternative Bildung hin, die man vielleicht dieser Ausbildung (oder um Konrad Paul Liessmann zu zitieren: Unbildung) entgegensetzen könnte. Deren Konturen werden in Bernhards Romanen wahrnehmbar.
Historische Schichtungen
Als Sohn aus ärmlichem Hause, dessen eigener Bildungsweg nie durch einen offiziellen Abschluss gekrönt wurde, machte sich das Enfant terrible des deutschsprachigen Kulturbetriebs und der österreichischen Gesellschaft nicht unbedingt Gedanken darüber, was wir lernen bzw. lernen sollten, sondern vielmehr darüber, wo wir uns beim Lernen aufhalten und wie wir in bestimmten Räumen lernen. Unser Lernen ist aufs Engste mit der Qualität der Räume verbunden, in denen wir leben und durch die wir uns bewegen. Ob wir uns in schäbigen oder sorgfältig konstruierten Häusern befinden, ist nicht gleichgültig: die historischen Schichtungen, die sich in den Gebäuden niedergeschlagen haben, ihre über die Zeiten gewandelten Konfigurationen und ihre geografische Bedeutung beeinflussen allesamt unsere Fähigkeit, die komplexen ästhetischen, politischen und historischen Konstellationen der Gegenwart wahrzunehmen. Der gehobene Bildungsweg führt, im allgemeinen Sprachgebrauch, zu den und durch die Hochschulen (im Englischen sprechen wir auch von higher education oder higher learning, sogar von high schools und, wie im Deutschen, von high culture). Bei Bernhard, dem es immer wieder und in allen Variationen ums Höhere und Höchste geht, wird nicht nur der Weg durch die Universitäten thematisiert, sondern auch die vermeintlichen Höhen, auf denen die sozialen Wächter und akademischen Gatekeeper ihre Ausschlussfunktionen ausüben. (Kein Wunder, dass sie sich gelegentlich von oben in die Tiefe stürzen, wenn ihnen die Aufgabe über den Kopf wächst.)
Unser Lernen ist aufs Engste mit der Qualität der Räume verbunden, in denen wir leben und durch die wir uns bewegen.
Will man Bernhards geometrische und klar ausgerichtete Strukturen – sowohl hoch–oben/tief–unten wie auch hinten–vorne sind die bestimmenden Vektoren – mit seiner pädagogischen Intervention in Einklang bringen, so kommt man nicht umhin, ihn in dem Diskurs um Räume, Orte und Architektur anzusiedeln, der sich in den 1960er-Jahren in Österreich entwickelt hat und dem spatial turn in den westlichen Geisteswissenschaften um Jahre vorangeht (man denke hier insbesondere an Michel Foucaults, Henri Lefebvres, und Michel de Certeaus maßgebliche Impulse in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren). Eine Gruppe von Neo-Avantgarde-Architekten und Künstlern muss in diesem Zusammenhang besonders hervorgehoben werden, die in der österreichischen Zeitschrift Bau: Schrift für Architektur und Umwelt 1965 hervortrat. Sie entwickelte eine radikal neue Konzeption von Bauen exakt zu jenem Zeitpunkt, als Bernhard seine ersten Vorstöße in die Literatur wagt und die Themen zu artikulieren beginnt, denen er zeitlebens verhaftet bleibt: geistige Konzentration, Sprengung beengender Verhältnisse und Überschreitung disziplinärer Grenzen, Öffnung gegenüber ungewöhnlichen Lernmethoden und schlussendlich Ausbildung von Kritikfähigkeit, um nicht zu sagen Kritiklust. Im alles usurpierenden und unterordnenden Konzept der Avantgarde und deren Anspruch, dass Architektur die Lösung für alle Missstände in der Gesellschaft bereithalte, findet Bernhard ein Modell für seine eigene totalisierende Kritik an den ererbten Strukturen der Bildung – nämlich über den Umweg imaginierter Räume und konkreter Räumlichkeiten. Er mischt ihre programmatischen Aussagen, hyperbolischen Theorien und geometrischen Entwürfe mit seinem eigenwilligen kartesischen Denken. In seinen Texten bewegen sich Personen stets in jene Gebäude hinein, hinaus, hinauf und hinunter, die ihnen Zugang zu den begehrten Dingen im Leben garantieren sollen, wie z. B. eine höhere Stellung, höhere Bildung und Hochkultur. Der genius loci eines Ortes wirkt in die Gegenwart nach, stellt Hürden auf, blockiert Ausgänge oder eröffnet Aus- und Durchblicke.
Architektur und Bildung
Bernhard teilt also das wachsende Interesse dieser rebellischen Epoche an der Beziehung zwischen Bildung, Erziehung, Pädagogik und Autoritarismus. Er verbindet dieses mit seiner ebenso großen Begeisterung für Architektur und „Realitäten“. Eine Reihe von Büchern in seinem Besitz zeugen von Bernhards doppeltem Interesse an bürgerlicher Bildung und Architektur. Dazu gehören Joachim-Heinz Heydorns Zur Neufassung des Bildungsbegriffs (eine marxistische Kritik der Paradoxe, die der Bildung in der Phase des Spätkapitalismus zu Grunde liegen aus dem Jahre 1972), Ernst Blochs Werkausgabe (1962) und dessen dreibändiges Das Prinzip Hoffnung (1969), mit seiner Hervorhebung des Stellenwerts der Architektur in der Realisierung von Utopien, sowie auch Alexander Mitscherlichs Die Unwirtlichkeit unserer Städte (1965) und Thesen zur Stadt der Zukunft (1971). Der Niedergang humanistischer Bildung mittelständischer Provenienz geht in Bernhards Romanen mit dem Strukturwandel der Öffentlichkeit einher. Der Qualitätsverlust beim Bauen und in der Stadtplanung ist bei Bernhard Symptom für den Verfall der Öffentlichkeit. Der offene Raum für Diskussion in einer demokratischen Gesellschaft wird geschlossen, wenn man sich vom Lernen in seiner wahren Form abwendet – und für Bernhard ist dies eine dialogische Erziehung in anderen Räumen. Wenn Bildung versagt, dann sind auch die Orte selbst für den Mangel an Fortschritt und aufrichtigem Denken verantwortlich. Die verbildeten Individuen schotten sich in kerkerähnlichen Gefängnissen ab und reagieren nicht auf den ethischen Ruf, den die Landschaft und die Plätze an sie richten.
Der Qualitätsverlust beim Bauen und in der Stadtplanung ist bei Bernhard Symptom für den Verfall der Öffentlichkeit.
Bernhards Bildung könnte als eine spezifisch österreichische Variante des deutschen, von Humboldt und Goethe beeinflussten Modells interpretiert werden. Bildung ist der Prozess, in dem sich das Subjekt gleichsam konstituiert: durch eine Verinnerlichung äußerer Bedingungen und durch die Veräußerlichung seiner Persönlichkeit in der Art des Wohnens, wie Susan Bernstein in Housing Problems (2008) dargelegt hat. Bernhards eigenes Bildungsprojekt kann in die antiinstitutionelle, dilettantische, interdisziplinäre und architektonische Tradition eingereiht werden, die schon bei Grillparzer, Stifter, Hofmannsthal und Musil vorhanden ist, aber nun mit den Anliegen der österreichischen Neo-Avantgardisten gekoppelt wird. Die emotionale und intellektuelle Erweiterung, die durch einen Austausch mit der Außenwelt möglich ist, kann nur in gewissen elementaren Bauten vor sich gehen. Innerhalb Bernhards strengen und kargen Räumen entwickelt sich eine Bildung, die auf der Reauratisierung des Lernens, der Konzentration des Studierenden, dem Vergnügen des Kunstliebhabers und dem intuitiven Kritiker und Lehrer beruht, der sich zwischen den verschiedenen Disziplinen hin- und herbewegt. Diese pädagogische Intervention wird drei Jahrzehnte lang in verschiedenen Variationen in Bernhards Schriften ausprobiert, angefangen mit Frost (1963) bis hin zu Auslöschung (1986). Für jedes Misslingen, die begrenzenden Bedingungen zu transzendieren, gibt es einen Hinweis auf eine kreative Umwertung der architektonischen Limitierungen. Allmählich entsteht die Idee einer durch und durch terrestrischen Bildung: Sie ist im buchstäblichen Sinne in den Gebäuden und Plätzen begründet, in denen sie stattfindet, lässt aber ihre klaustrophobischen Engen zu Gunsten einer Ausdehnung und einem Austausch mit der Außenwelt hinter sich zurück. Ein Mensch braucht abwechselnd die Einsamkeit einer Klausur und die Perforierung der ihn umgebenden Mauern – nur im Wechsel zwischen den Polen lassen sich neue Denkrichtungen und -anstöße ausmachen.
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Für internationale Beobachter waren die jungen Architekten, die in Wien und Graz in den 1960er-Jahren auftraten, Teil einer internationalen Revolte gegen die Nachkriegsarchitektur. Die m. E. wichtigste Gruppierung verband eine utopische Ausrichtung mit dem absoluten Anspruch, die Gesellschaft verändern zu können. Im Katalog zur legendären Ausstellung Architektur. Work in Progress (Mai 1963) wertet Hans Hollein das Elementare, Gewaltige und Sinnliche auf, indem er fordert, Architektur als „geistige Ordnung“ habe „elementar, sinnlich, primitiv, brutal, schrecklich, gewaltig, herrschend“ zu sein. Zugleich verkörpere sie die „subtilste[n] Emotionen“ und nehme die „feinste[n] Erregungen“ wahr. Architektur wird zum Mittel, den Raum zu dominieren, nicht einen Kompromiss mit der Landschaft einzugehen. „Architektur beherrscht den Raum,“ schreibt er, „indem sie in die Höhe schießt, die Erde aushöhlt, weit auskragend über dem Land schwebt, sich in alle Richtungen ausbreitet“. Walter Pichler, der andere in der berühmten Ausstellung in der Galerie nächst St. Stephan vertretene Architekt, ist noch apodiktischer in seiner exklusiven und rigiden Konzeption von Architektur. Seiner Ansicht nach ist Architektur „Zwang“, „die Verkörperung der Macht und Sehnsüchte weniger Menschen“. Sie bediene sich „rückhaltlos der stärksten Mittel“, die ihr zur Verfügung stehen und unterwerfe die in ihr Lebenden. Raimund Abraham behauptet etwa zur selben Zeit, dass Architektur als „elementare“ und „reine“ Konstruktion gesehen werden muss. In seinem Buch Elementare Architektur (1961) spielt er auf das an, was in Bernhards Werken zum Leitmotiv wird: die Strukturierung, die Architektur dem menschlichen Denken durch eine auf das Grundlegende und Ordnungsgemäße reduzierte Umgebung verleiht. Sein Buch ist eine Bestandsaufnahme traditioneller ländlicher Gebäude in Österreich, Italien und der Schweiz, und zugleich der Versuch, diese vor der Verunglimpfung als zu ‚heimatlich‘ oder bodenständig in Schutz zu nehmen. Abraham vergleicht das Wechselspiel zwischen traditionellen Bauformen und individuellen architektonischen Erneuerungen in diesen Strukturen mit einer überzeitlichen grammatikalischen Ordnung – also nicht unähnlich Bernhards Variationen seiner allgegenwärtigen Strukturen. 1958 hatte der Mitarbeiter Karl Schwanzers und spätere Assistent an der Technischen Universität Wien, Günther Feuerstein, in seinem Zehn-Punkte-Programm „Thesen zur ‚Inzidenten Architektur‘“ schon beschrieben, was diese Erneuerer verbindet. Architektur sei, so Feuerstein, eine moralische Kategorie: „Das Sittliche ist entscheidend“. Sie braucht neue Baumeister, um die Fundamente, Umfang, Größe usw. zu bestimmen und so neue Grenzen für den moralischen Bereich zu ziehen.
Überdimensionierte Strukturen
Diesen herausragenden Übertreibungskünstlern bleibt die internationale Aufmerksamkeit nicht versagt. Schon 1967 werden ihre „architektonische[n] Fantasien“ in einer Ausstellung mit diesem Titel im Museum of Modern Art einem breiten Publikum vorgeführt. Die Arbeiten zeigen überdimensionierte, absichtlich nicht realisierbare Strukturen; sie beschwören die Monumentalität der nationalsozialistischen Bauten herauf, um sie im selben Augenblick zu verwerfen; sie rufen Assoziationen mit der Weitläufigkeit der Weltraumfahrt wach und bunkern sich vor der Atomkatastrophe ein. Arthur Drexler, Kurator der Architekturausstellung im MoMa, unterstreicht in seinem Begleittext ihre Maschinenverliebtheit und Selbstbezüglichkeit: die Abwesenheit von Menschen und die hoch organisierte Planmäßigkeit scheinen eine Umwelt anzudeuten, die ihre eigenen Zwecke verfolgt (er gesteht ihnen aber auch einen ungewollt komischen Effekt zu). Peter Cook, Mitglied der englischen Avantgarde Gruppe Archigram, attestiert denselben Österreichern fortschrittlichsten Charakter und formale Perfektion – eine Perfektion, die umso erstaunlicher ist, da sie seiner Ansicht nach einem „der bildungsmäßig am meisten zurückgebliebenen Winkel der architektonischen Welt“ entspringt (Experimental Architecture, 1970).
Bernhard reizt die Anziehungskraft dieser elementaren Konstruktionen ebenso aus wie ihren Bezug zu der von Cook monierten Rückständigkeit. Die gewollten Limitierungen und unbeabsichtigten Einengungen in den Entwürfen werden paradoxerweise bei ihm zur Basis für die menschliche Entwicklung. Bernhards Werk zeichnet also die von Craig Buckley aufgezeigte Ambivalenz dieser konstruktionstechnischen Konzepte nach, wo Architektur entweder die gesamtgesellschaftlichen Probleme bewältigen kann (ob diese nun im Bereich von Technologie, Kommunikation oder Gender liegen) oder sich radikal von den Konflikten abwendet. Im Aufsatz „Ebene“ aus dem Jahre 1973, der einem Sammelband von Walter Pichlers Zeichnungen als Nachwort dient, greift Bernhard die Entwürfe Pichlers implizit auf. Er überträgt dessen waghalsige vertikale Strukturen auf sein Bildungskonzept. In „Ebene“ wird der Leser mit einem vereinnahmenden „Wir“ den jungen Menschen zugeordnet, die unter den hierarchischen Vorstellungen ihrer Eltern – ihrer ersten und wichtigsten Lehrer – zu leiden haben. Weder „Unterricht“ noch „Aufklärung“, weder „Erziehung“ noch „Entwicklung“ ist in dieser turmartigen Struktur möglich, in der sich die Lernenden befinden. Die räumlichen Gesten im Text werden nur dann verständlich, wenn man Pichlers Bunker, Türme, Schanzen, Unterkellerungen im inneren Auge behält, die eine Sogwirkung nach unten ausüben. Pichlers Schädelhäuser, die in den Erdboden hineinwachsen, werden zum Inbegriff des Gefangenseins in Denkstrukturen und -mustern. So ist das Unten in „Ebene“, wohin es die Jungen zieht, just nicht Stillstand, sondern die Erlösung von einer katastrophalen Entwicklung. Geht man hinunter, kann man die falschen Höhen der vermeintlichen Bildung zurücklassen und in einen expansiven Raum eintreten, der über das Selbst hinausweist: „[…] hätten wir unter diesen unterrichteten und aufgeklärten Umständen schon viel früher alles aufgegeben und alles verlassen und tatsächlich für immer zurückgelassen; schon vor Jahrzehnten wären wir weg – und hinunter – und auch aus uns selbst heraus – und hinunter gegangen und hätten alles aufgegeben und verlassen und zurückgelassen und ausgelöscht“ (111 Zeichnungen, 245–246). Wäre man hinuntergegangen, hätte man die restriktiven, „tödlichen Mauern“ hinter sich lassen können. Aber diese Möglichkeit bleibt, 1973, noch im Konjunktiv stecken, das Unten erweist sich als ebenso problematisch wie das Oben.
Die ‚Höhen‘ der Bildung
Vom Famulanten in Frost (1963) ist es natürlich eine lange Strecke bis zu den Brüdern K. und Walter in Amras (1964), dem Ich-Erzähler in Korrektur (1974), den drei Studienfreunden in Der Untergeher (1984), dem alles aufnehmenden Atzbacher in Alte Meister (1985) und dem Ich-Erzähler und seinem Schüler Gambetti in Auslöschung (1986). Wird man sich der Wechselwirkung zwischen Lernprozessen und Räumen im Bildungsweg dieser Figuren gewahr, ist es unmöglich, ihre direktionale Ausrichtung nicht im übertragenen Sinne zu lesen. Sie wird zur Signatur eines Versuchs, die ‚Höhen‘ der Bildung auf anderem Wege zu erreichen – mit Hilfe gewisser prägender Strukturen. Zum einen ist es die Wunderkammer im Schloss Ambras, die innerhalb ihrer klar definierten Mauern eine Vermittlung zwischen Makro- und Mikrokosmos erwirkt; im Text Amras wird diese Raumkonfiguration auf die Turmerfahrung der Brüder projiziert. In Korrektur ist es das Wiener Wittgenstein Haus in der Kundmanngasse, das den Blick für Durchlässigkeiten sowie formale Strenge im philosophischen Denken schult. In Alte Meister untergräbt das Kunsthistorische Museum Wien die „white box“-Funktion des Museums mit seinen kategorischen Trennungen und seinem kanonischen Imperativ. Alles sind Beispiele für Bernhards Bildungsräume. Den Brüdern in Amras werden die Böden und Mauern in einem mystischen Moment durchlässig, und ihre physische Anlehnung an die Turmmauern stiftet einen psychischen Bezug zwischen Innen- und Außenwelt, der ihnen bisher in ihrer universitären Laufbahn verwehrt blieb. Atzbacher erzielt den nötigen Durchblick in den Räumen des Kunsthistorischen Museums, wo er sich sowohl der rigiden Urteile seines Lehrers bewusst wird, wie auch der politischen Ausrichtung angeblich apolitischer Kunstverherrlichung. Bernhards Bildungsräume zeigen also, wie wir die Architektonik auf ihre Relevanz für unsere heutigen Bildungsfragen geltend machen und unsere gesellschaftskritische Sensibilität schulen können.
Noch sind wir nicht soweit, dass unsere Bildung online gewandert ist. Dann, wenn sich der Bildungsraum gänzlich entmaterialisiert hat und wir in den eigenen vier Wänden unseren Bildungsweg verfolgen können, werden unsere Räume vielleicht irrelevant geworden sein. Aber ich wage es zu bezweifeln, dass die neuen Raumkonstellationen, die dann entstehen, weniger Einfluss auf unsere Denkgebäude haben werden als die herkömmlichen.
Anmerkungen
1 Vgl. hierzu Nassehi, Armin (2010): Mein Abend mit Sarrazin, in: Die ZEIT Nr. 41 vom 7.10.2010, www.zeit.de/2010/41/Nassehi. Vgl. auch Fahrenholz, Peter (2010): Therapeut und Brandstifter in SZ vom 1.10.2013 (Online: 14.3.2011), www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen/sarrazin-wirbel-um-auf tritt-in-muenchen-therapeut-undbrandstifter-1.1006734. Jeweils zuletzt aufgerufen am 10.6.2013.
2 Vgl. zum Hintergrund der Frage Schmidt, Wolf (2012): Minister wittert einen Sumpf, in: taz vom 11.10.2012, www.taz.de/!103348/ sowie dpa/dpad (2012): Thüringens Innenminister misstraut eigenem Verfassungsschutz in Die ZEIT vom 11.10.2012, www.zeit.de/politik/deutschland/2012-10/nsu-ausschuss-akten-anonymisierung-thueringen. Jeweils zuletzt aufgerufen am 10.6.2013.