ELISABETH VON SAMSONOW Vor gut zehn Jahren ist Ihre umfangreiche Summa zum Thema Phantastik erschienen, die nicht nur eine längst fällige Tiefenbohrung in das Massiv der Gegenvernunft bzw. der erweiterten Vernunft – nämlich um einen unorthodoxen Schöpfungsaspekt bereicherten – und der entsprechenden philosophischen, anthropologischen und poetologischen Konzepte unternimmt. Es ist in diesem Buch nicht nur von einer unterhaltsamen, dekorativen und erfindungslustigen Phantastik die Rede, sondern von wilden, Welt aushöhlenden und sich mit Gegenwelten kurzschließenden Aktionen. Von außen sieht es zwar so aus, als behandelte dieses Buch vornehmlich Literatur. Die Literatur dient aber offenkundig nur als home base für Ihre weit ausgreifende Analyse. Aus der Perspektive des Literarischen wird nämlich ein diagnostischer Blick in Stellung gebracht, der erlaubt, eine großräumige Transformation der Weltbildproduktion seit der Frühen Neuzeit zu erfassen. Dieses Buch reicht nicht zuletzt den boomenden Fantasy- und Fiction-Diskursen der letzten Jahrzehnte die theoretischen und historischen Grundlagen nach. Könnte man sagen, dass das Phantastische in dem Maße an Bedeutung gewinnt, in dem der Wahrheitsbegriff erodiert und zerfällt?
RENATE LACHMANN Mir scheint, dass die Phantastik bei ihrer Invertierung von Wahrheits-‚Symptomen‘ bestehende (kulturell verankerte) Wahrheitsbegriffe akzeptiert und zugleich verwirft, zuspitzt und entkräftet; es besteht eine Wechselwirkung zwischen dem Phantastischen und dem jeweils geltenden Wahrheitsbegriff, der in seiner Verkehrung erst eigentlich hervortritt. Vielleicht kann man von einer pseudo-logischen Energie des Phantastischen sprechen, die das Bestehende und Benannte umbenennt, ‚verleugnet‘ (ohne es zu verneinen). Ich würde nicht von Erosion und Verfall des Wahrheitsbegriffs sprechen wollen, eher von seinem Anderen, das das Phantastische ihm zuspielt.
VON SAMSONOW Wie lässt sich die Feststellung, dass das Phantastische zu einer Art ludischer Schwellenaktivität der Kulturen zu rechnen sei, mit dem Umstand vereinbaren, dass – wie Sie feststellen – es zu einer Fusion mit dem Realen strebt, dass es also gerade das Phantastische ist, welches einem (unheimlichen) Realen, das in dieser Form dem Symbolischen heute den Rang abgelaufen zu haben scheint, den Weg bereitet?
LACHMANN Weniger eine Fusion, würde ich meinen, als eine Funktionskonkurrenz. Die Rede vom Einbruch des Realen (gemeint ist wohl Einbruch in die Realität, die wir als geformte, strukturierte wahrnehmen) entspricht der von Roger Caillois eingeführten Metapher der „rupture“, mit der er das Wirken des Phantastischen als gewaltsames Eindringen ins Normale bestimmt; das Bedrohliche darin entspricht der Wirkung, die das plötzlich auftretende Reale als Ordnungsstörung hervorruft (das nackte Geschehen, das noch durch keine Topik erfasst ist, sich der Strukturierung entzieht).
VON SAMSONOW Sie haben bahnbrechende Texte zum Thema kulturelles und literarisches Gedächtnis verfasst und gelten als eine der wichtigsten Theoretikerinnen der Mnemotechnik beziehungsweise der Kultursemiotik. Wie kommt es, dass eine Mnemotheoretikerin zur Theoretikerin des Phantastischen umschwenkt? Ist das in der Tat ein Umsatteln oder ergibt sich das Eine aus dem Anderen, das heißt, besitzt das eine gewisse Logik oder Notwendigkeit? Könnte es sein, dass sich die Idee, das Gedächtnis = Wahrheit x Ort x Zeit als unbrauchbar herausgestellt hat beziehungsweise die Memoria dysfunktional geworden ist? Welche Rolle würde dann das Phantastische in Bezug zu den beträchtlichen Erinnerungsaufgaben der Gegenwart spielen?
LACHMANN Die Phantastik hat durchaus eine mnemonische Kompetenz, denn neben ihren futurologischen (das Noch-Nicht-Mögliche, Noch-Nicht-Gedachte im Visier) verfolgt sie archäologische Ziele. Meine These war dementsprechend, dass die Phantastik das Verdrängte, Vergessene, Unbewusste der Kultur ‚präsentiert‘. Daher ihr Schreckenspotenzial. Das Überlagerte, Abgewandte, Verdunkelte wird aufgedeckt, tritt beunruhigend zutage (das Andere der Wahrheit gewinnt Kontur) – das führen phantastische Texte von der Romantik bis in die Gegenwart vor. Die Erinnerungsaufgaben, die sich der Gegenwart angesichts der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts unentwegt und unabweisbar stellen, werden allerdings nicht mithilfe rekonstruierender Verfahren oder dokumentierend (faktographisch) gelöst, vielmehr kann die Phantastik gerade mit Verfremdung, Groteske, Paradox, Hyperbel die Ungeheuerlichkeiten der Geschehnisse von Holocaust und Gulag erfassen (aufwühlen), mit deren ‚Registrierung‘ wir bis auf Weiteres beschäftigt sein werden.
Ich würde nicht von einem Verfall des Wahrheitsbegriffs sprechen wollen, eher von seinem Anderen, das das Phantastische ihm zuspielt.
VON SAMSONOW Die phantastische Schöpfung als Thema Ihrer Analysen fördert nicht selten einen bösen oder verrückten Demiurgen zutage, der eine Art zerstörerische Hervorbringung im Schilde führt. Ist das ein modernes Motiv oder gibt es diese Figur in dieser Form auch in den älteren phantastischen Prätexten? Ließe sich sagen, dass erst die zunehmende Bedeutung traumatischer Erfahrung die Einholung und Umschrift des Demiurgischen als des Gegenschöpferischen und zugleich diabolisch Autonomisierten nahelegt?
LACHMANN Der böse Zauberer ließe sich als Präfiguration des Demiurgen verstehen, der in zwei Varianten auftritt: in Texten der romantischen, postromantischen Phantastik und in der Horror-Phantastik des 20. Jahrhunderts spielt er eine erfinderisch-verhängnisvolle Rolle, in der Neophantastik und Science-Fiction stellt er als ‚auctor‘ funktionierende oder als Simulakren entworfene Gegenwelten her. Das Demiurgische in der ersten Variante, etwa bei Figuren, die gewaltsame Eingriffe in die Physis und Psyche anderer zu Opfern werdender Figuren des Textes vornehmen, lässt sich als literarische ‚Vor-Bildung‘ von Handlungen lesen, die konkrete Menschen als Opfer eines tatsächlichen Horrorsystems traumatisch erduldet haben. Hier ergibt sich, was die Rezeption vieler phantastischer Texte erst eigentlich ermöglicht, eine erschreckende Koalition zwischen dem Phantastischen und dem Realen, die manche phantastische Texte mit einem antizipatorischen Index beschwert.
VON SAMSONOW Sie erörtern in Ihrem Buch die großartigen Möglichkeiten, die der Produktion von Phantasmen nach der Erfindung der Fotografie zuwachsen. Die Phantasmen orientierten sich geradezu an der Veränderung in der Logik der Repräsentation, die von diesem Medium und ihm nachfolgenden Medien hervorgerufen würden. Könnte man sagen, dass die Fotografie den Umbruch vom repräsentativen Naturalismus zum halluzinativen ekstatischen Präsentismus (Stichwort: Erscheinung) im Sinne des Phantomatischen markiert? Ist unter Umständen dieser neue Effekt dafür verantwortlich, dass Phantastik und Realismus anfangen zu konvergieren?
LACHMANN Von einer Konvergenz würde ich nicht sprechen. Eher würde ich sagen, dass die Fotografiegeschichte (die jüngste Zeit eingeschlossen) in der Vielfalt ihrer stilistischen Phasen Realismus und Phantastik generell als zwei Repräsentationsmodelle in den darstellenden Künsten (verbal, piktoral) augenscheinlich macht. Sie führt in diesem Medium (in ihrer vergleichsweise kurzen Entwicklung) aufgrund ihrer zunehmend raffinierter werdenden technischen Möglichkeiten alle Aspekte des Realistischen und Phantastischen vor.
VON SAMSONOW Sie arbeiten im Augenblick an einer Analyse dokumentarischer und fiktionaler Berichte über die Gulag-Erfahrungen und haben zu diesem Thema im IFK Wien einen vieldiskutierten Vortrag gehalten. Inwieweit spielen Ihre Vorarbeiten im Feld der Phantastik für Ihre neuen Forschungen eine Rolle?
LACHMANN Das Phantastische spielt eine zweifache Rolle, zum einen im Sinn des bereits Erwähnten, nämlich dass gerade phantastische Texte dem Geschehen des 20. Jahrhunderts auf eine spezifische Weise nahekommen, das gilt für Texte von Autoren der Nichtbetroffenen, der Nichtopfer; also Autoren einer späteren Generation, aber auch für Autoren, die ihr eigenes Erleben fiktional transformieren. Zum andern wird das Phantastische für mich zu einem Begriff, der vor allem die Schilderung von Verwandlungsvorgängen zu fassen versucht, die in vielen Gulag-Texten zu den eindrucksvollsten Passagen gehören. Ich muss das etwas ausführen: Die Rechtfertigung, bei der Interpretation von Lagerberichten auf die Kategorie des Phantastischen zurückzugreifen, liegt in der Beobachtung einer auffälligen Frequenz des Ausdrucks „phantastisch“ beim Versuch, das schier Unvorstellbare zu beschreiben. „Phantastisch“ figuriert also als Wort in den Lagerberichten selbst und auch als Selbstbeschreibung vieler Texte, die die Verfasser/Verfasserinnen über das unmöglich Scheinende vorlegen. Die Verwirrung angesichts des Vorgangs der totalen Verwandlung der Lebensumstände, die die Überlebenden in ihren Texten zu vermitteln suchen, rührt aus dem Zweifel darüber, ob sich etwas Reales oder doch eher Irreales abspiele. (Das ist die Para-Phantastik des Realen.) Zur Beschreibung des Verwandlungsgeschehens gehört auch die Zeichnung der die Mithäftlinge und die Schreibenden selbst erfassenden Metamorphosen; Vorstellungen vertrauter Menschenbilder scheinen, konfrontiert mit zu Opfern und Leidenden Sich-Wandelnden, langsam zu verblassen. In meinen Interpretationen werden, um dies zu erfassen, die Verwandlungsfaszinosa der Phantastik zum Vergleich herangezogen – denn nirgends in der Literatur werden so entschieden und mit so absoluter Geste metamorphotische Vorgänge erzählt und Menschenbilder entworfen, deren Semantik jener vergleichbar ist, die die unvordenkliche Andersheit des Lagers für die zu jahrelanger Lagerhaft und Zwangsarbeit Verurteilten darstellt.