1. Phänomenologie des halluzinierenden Geistes
Die Klage darüber, dass die Virtualisierung, dass das, was als „Bewusstseinsindustrie“ (Enzensberger) zu bezeichnen ist, uns vernebele, uns unserer aktiven und klaren Vernunfttätigkeit beraube, nötigt uns zu einer neuerlichen Betrachtung dessen, welcher Stellenwert überhaupt den hypnotischen, den deliranten, den halluzinierenden Bewusstseinzuständen zukommt. Es ist ja nicht so, dass erst die Moderne, geschweige denn die Postmoderne damit begonnen haben, Traumzustände in gewisser Weise zu privilegieren. Da gibt es einmal die alten Orakelregime, die antiken Oneirokulturen, die die Praxis des Therapieschlafes inklusive mantischer Träume wahrscheinlich ebenso kannten wie die künstlich induzierten Hypnostasen, also die Räusche. Joseph in Ägypten ist der große Held dieser Kultur des bedeutsamen Traumes. Die spätantike Gnosis hält sich Einiges darauf zugute, dass es einen privilegierten Draht in die anderen Zustände, in die anderen Welten gibt, deren Echo sich im Traume vernehmen lässt. Der Neuplatonismus impliziert weitläufige oneirokritische Schriften, da just im Traume, nicht im Wachen, die Vollendung des Pneuma zu haben ist. Im Mittelalter wiederum lässt sich sehen, wie sehr die alte kultische Orakelpraxis nachwirkt: der größte Teil normativer Information wird auch dem Christen im Traume zugestellt. Die Renaissance gerät mehr oder weniger freiwillig ebenso unter den Imperativ der Oneirokritik, sofern sie sich an den Lektüren antiker und spätantiker Texte „berauscht“. Und schließlich wird das Delirium im Barock perfekt. Von mehreren Seiten wird die Einsicht ausgerufen, dass das Leben ein Traum sei. Die Traumästhetik hat in diesem Sinne ungebrochen volle Fahrt bis zur Jahrhundertwende: Freud bedient den tiefen Bedarf an Traumförmigem, indem er ihm die Funktion zuweist, jeden beliebigen Bürger daran zu erinnern, dass in ihm ein mythischer Held steckt. Das zwanzigste Jahrhundert führt nun ganz offenkundig das Traumrezitativ auf einer anderen Ebene weiter, auf der Seite der Antistruktur nämlich: eine Berufung auf einen Traum leisten sich nur noch die Poeten, die Subversiven, die Protestierenden, während die Zivilisation von Leuten regiert wird, die höchste Wachheit vorgeben. Das Reale sei den Wachen vorbehalten. Hier ist offenkundig etwas schief geworden. Wie könnte man davon sprechen, wie es etwa Hippolyte Taine getan hat, dass sogar die Vernunft eine „halluzinierende“ sei, wenn ansonsten die Träumerei für das gehalten wird, was die romantisch veranlagten Nicht-ganz-Wachen seien, die nicht Zu-Ende-Evolvierten, die im Dösen und im Tagtraum Steckengebliebenen praktizieren?
2. Traum unter gegenwärtigen Bedingungen
In diesem Moment kommt ein weiteres dickes Buch (nach dem Handbuch Kunst als Medientheorie) aus dem Studiolo Hans Ulrich Recks gerade recht: nämlich eine veritable Traum-Enzyklopädie vom Gewicht mehrerer Bügeleisen. Die umfängliche Vorrede positioniert das Vorhaben des Buches als eigentlich Post-Enzyklopädisches, nachdem niemand mehr die Unverfrorenheit besitzen dürfe, als Mann mit Überblick, mit dem Überblick aufzutreten. Diese sympathische Selbstbescheidung wird allerdings im Fortgang des Werkes direkt unterlaufen, sofern nun in der Tat eine Masse bestens geordneten Wissens zum Stichwort aufgeboten wird, was gewiss alles andere als ein einfaches Unterfangen darstellt. Strukturierend und leitend wirkt dasjenige, was Reck in der Einleitung vorträgt: er zeichnet dort die langen Linien der Geschichte des Traumes nach, jedoch vornehmlich aus der Warte einer Gegenwart, die zu diesem Thema höchst disparate Ansätze zu bieten hat. Das macht die Sache zwar nicht einfacher, aber brisant. Es ist natürlich so, dass Reck die Brüche und Umschichtungen im Traum-Begriff reflektiert, dass sie es sind, die diese Enzyklopädie motivieren. Die post-kultische, die post-mantische und post-theologische Karriere von Traum, Halluzination, Vision und Fantasie bilden ein Thema, um welches allerseits nun seit geraumer Zeit zwar heftig, aber mit mäßigem Erfolg gerungen wird.
Der größte Teil normativer Information wird auch dem Christen im Traume zugestellt.
In der Perspektive Recks liegt einerseits die Erfassung der Verwerfungen, die der Traum mit den medialen Räumen, die konstitutiv „hypnotisch“ sind, aufweisen, andererseits die Rettung des Traumes als autonome poetische Produktion vor dem Zugriff einer empiristischen Neurophysiologie, die ihn zu einer Art Zellautomatismus zu reduzieren versucht. Auf dem Hintergrund dieser zeitgenössischen, außerordentlich disparaten Situation präsentiert sich der mehrsträngige Traumdiskurs der Alten Kulturen als nachgerade homogen. Zumal er über den Punkt verfügt, der nun ein für alle Male abhanden gekommen zu sein scheint, nämlich über eine positive Definition jener Dimension des Traumes, die ihn zuallererst zur message macht. Die Vermutungen, wer oder was denn nun in diese abhanden gekommene Position des pneumatischen oder religiösen Senders eintreten könnte, wuchern konsequent. Der seltsamen Evidenz, dass sowohl der Raum des Bewusstseins als auch der des Unbewussten über einen Ereignischarakter verfügen, der es schwierig macht, immer den Grund zu nennen, der diesen oder jenen Inhalt „hereingespielt“ hat, muss schließlich etwas entgegnet werden. Im Spielraum des Medialen des Traumes dürfen viele Varianten vorgeschlagen oder erraten werden, aber keine fixiert. Dass der Traum die Lieblingsreferenz der Medien selbst wird, unter dessen Maske sie sich erlauben aufzutreten, nimmt nun nicht wunder.
Reck windet folglich auch einen gut sichtbaren roten Faden zum Kino in den Text. Die Entstehung des Kinos und das Nicht-mehr-Gerechtfertigtsein des Traumes werden als synchrone Ereignisse erkannt. Aber es ist just der Moment dieser Synchronizität, in welchem die Einbildungskraft als Problem auf den Plan tritt. Sie ist nicht mehr Einbildungskraft im Dienste dieser oder jener autorisierten Sendeinstanz, sondern die entfesselte solche, die die Moderne ungefähr so wie im Spiel des Hasen und Igel vexiert: überall dort, wo es gegolten hätte, bei Leben, Sein und Wahrheit anzukommen, war zuvor die Einbildungskraft da und hat alles schon in ein Simulacrum verwandelt. Diese weitreichende, ihrem Wesen nach unglückliche Ausgangslage einer Medienphilosophie der achtziger Jahre war Grundlage der brillanten Analysen von Gerburg Treusch-Dieter und Dietmar Kamper gewesen, denen Reck in seiner Danksagung ein schönes posthumes Monument der Dankbarkeit setzt. Nun geht es aber offenbar darum, nicht nur in der elegischen Klage gegen Unbekannt zu verharren, sondern die Not umzuarbeiten. Diesem Projekt dient wohl auch Recks Traum-Enzyklopädie, wenn er die hypnotischen Valenzen der zeitgenössischen Medienwelt, deren Inhalt sowie die Funktion der Apparate, Automaten und Organe mit der gewaltigen Geschichte des Traumes zusammenstellt.
Freud bedient den Bedarf an Traumförmigem, indem er ihm die Funktion zuweist, jeden beliebigen Bürger daran zu erinnern, dass in ihm ein mythischer Held steckt.
Das Verdienst seiner Enzyklopädie liegt darin, eine erste Beschriftung und Ordnung in die unübersichtliche Situation gebracht zu haben, sodass man sich gut ausgerüstet daran machen kann, die Gegenwart im neuen Lichte einer alten Wunscherfüllung zu betrachten. Auch die kartographische oder topologische Ordnung der Enzyklopädie ist dem Thema angemessen, die Verweise der einzelnen topoi aufeinander sind maßvoll gesetzt: es ist wohl eine alphabetische Ordnung, die den lexikographischen Teil der Enzyklopädie ausschildert, aber eher im Sinne von Begriffsfamilien und Verwandtschaften zwischen Begriffen, Autoren und Kunst- oder Darstellungsformen.
3. Traumkunst/Kunsttraum
Die Beziehungen – sowohl Abstoßung wie Anziehung –, die sich zwischen den Ebenen schriftförmiger und bildhafter Traumzustände und der jeweiligen Diskurse ergeben können, bilden eine große Herausforderung, der sich Reck tapfer stellt. In der Auseinandersetzung mit diesen Fragestellungen wird schließlich deutlich, wie sehr das, was wir als „Traum“ bezeichnen, bezogenes Bewusstsein ist, Bewusstsein in Beziehung zu einem Operator, der als Nicht-Ich gesetzt ist. Ob nun diese „Operatoren“ Schrift, Bild oder auch beides – und das wiederum analog, elektrisch, elektronisch – sind, ist dann im Einzelnen zu untersuchen und zu differenzieren. Es ändert aber kaum etwas an dem Umstand, dass der Traum immer einer Hermeneutik, also einer „Technik“ bedarf. Reck liegt es offenkundig am Herzen, in jedem Fall eine Abwertung der älteren Traum-Regime zu verhindern. Im Gegenteil: diese scheinen ihm dazu zu dienen, sich von ihnen aus abstoßend Schwung zu nehmen in Richtung hin auf eine neue Erzählung dessen, was heute im Reich der Einbildungskraft vor sich geht. Die Jahrhundertwende markiert in seinen Augen zwar eine wichtige Episode in der Geschichte des Traumes, aber wirklich bedeutend ist für ihn die Romantik. Reck geht zwar auf das Problem der Hieroglyphen ein, welches sich im Rahmen der barocken Emblematik noch einmal neu gestellt hatte, privilegiert aber das Barock trotz seiner pompösen Hypno-Devisen nicht. Die Romantik fungiert als Moment des Umschwungs, als Epochenwechsel, als Scharnier, welches den Traum in einer bisher nicht dagewesenen Form zu nutzen weiß. Nämlich bereits als post-theologisches Orakel, als Orakel einer Natur, deren Nacht nicht blind macht. Während man also in den ausgebreiteten Texten des großformatigen Buches sich bewegt, hat man sich die wichtigen Wege der modernen Geschichte des Traumes erschlossen: man hat die neuen Töne der Romantik zu Ohren bekommen, die es mit einer Intimisierung und Renaturierung des Traumes versuchen, etwas über die Traumeffekte technischer und medialer Dispositive, über künstlerische Versuche, Traumförmiges herzustellen und über zeitgenössische Schlafphysiologie gehört. Gut gegliederte bibliografische Listen, denen vielleicht die Angaben zu den antiken, renaissanten, barocken und romantischen Originaltexten anzufügen gewesen wären, beschließen das enzyklopädische Werk. Es ist das, was Reck von ihm sagt: Ein Überblick über die Überblicke.